Die Welt dreht sich: Wünsche des Präsidenten

Nr. 1 –

Rebecca Gisler über Neujahrsreden am Fernsehen

An jedem 31. Dezember um 20 Uhr wendet sich der Präsident der Republik an die Französ:innen, um ihnen seine Neujahrswünsche zu überbringen, eine Bilanz über den Stand der Dinge im Land zu ziehen und einen Ausblick auf das kommende Jahr zu geben. Seit 1958 hat keiner der Präsidenten dieses Ritual versäumt. Es ist der Moment, in dem sich das französische Volk vor dem Fernseher versammelt. Das Ereignis beginnt in der Regel mit einem Blick auf den mit dreifarbigen Fahnen geschmückten Élysée-Palast, begleitet von der Marseillaise. Danach sieht man den Präsidenten in seinem Büro vor einem Büchergestell sitzen, was ihm ein kultiviertes Aussehen verleiht.

Jedes Jahr ist die Rede des Präsidenten ein wichtiges Thema für seine Anhänger:innen sowie für die Skeptiker:innen. Niemand entkommt der Rede des Präsidenten. Entweder wird das jährliche Treffen zu einem Thema für Witze wie «Was machst du an Silvester? Hoffentlich schaust du dir die Rede des Präsidenten an!» (Lachen), oder man sitzt tatsächlich vor dem Fernseher und wartet ungeduldig darauf, dass das Staatsoberhaupt das vergangene Jahr zusammenfasst und uns ermutigt, den Fokus für das kommende Jahr nicht zu verlieren.

Vor einem Jahr äusserte sich Staatspräsident Emmanuel Macron in einem angespannten Umfeld mit Inflation, Energiekrise, dem Krieg in der Ukraine und dem Anstieg der Covid-19-Fälle. Er rief die Französ:innen insbesondere dazu auf, angesichts der Krisen, die 2023 zu bewältigen seien, zusammenzuhalten und mehr zu arbeiten.

Und, sind die Französ:innen geeint geblieben? Haben sie mehr gearbeitet, wie es gefordert wurde mit der Absicht, die Arbeitsleben um fast zehn Jahre zu verlängern? Nach der jährlichen Rede des Präsidenten, ein paar Scheiben Gänseleberpastete und einigen verschlungenen Austern füllt sich die Avenue des Champs-Élysées mit Menschen, die am grossen Feuerwerkspektakel teilnehmen. Der Arc de Triomphe ist beleuchtet, einige Obdachlose spielen am Ausgang der Metrostation «Charles de Gaulle – Étoile» Gitarre ohne Gitarre, und staunende Kinder verwechseln die Tausenden kleinen Lichter mit den Sternen am Himmel.

In meiner Kindheit verbrachten wir den Silvesterabend damit, Blei zu giessen, um das kommende Jahr vorherzusagen. Die Rede des Präsidenten fungierte damals nur als nostalgische Hintergrundmusik, vielleicht, um meine Mutter an ihr Geburtsland zu erinnern. Als Teenager war das Leben bereits konkreter. Ich schrieb die Dinge, die ich mir wünschte, und die, die ich loswerden wollte, auf ein kleines Stück Papier, das dann ins Feuer geworfen wurde, wobei ich darauf achtete, dass das Papier schnell verbrannte, bevor jemand sehen konnte, was ich draufgeschrieben hatte. Und heute, erwachsen, wie ich bin, kommt es vor, dass ich mir die Rede des Präsidenten ansehe, wahrscheinlich aus reiner Kritisierlust und um zu unterstreichen, dass seine Wünsche vom Vorjahr fatalerweise nicht verwirklicht wurden. Nun müssen wir aber abwarten, ob die Wünsche des Präsidenten für das Jahr 2024 in Erfüllung gehen werden oder nicht.

Bis dahin wünscht uns der Präsident ein erfolgreiches Jahr und, wie er zum Abschluss seiner Rede immer sagt, «Vive la République, vive la France», was man auch mit «Na dann mal tschüss und viel Glück» übersetzen könnte.

Rebecca Gisler ist Autorin und Übersetzerin.