Literatur: Dem Alltag die Kunst abringen
Der Zug fährt mit zweistündiger Verspätung in Santa Margherita Ligure ein, aber Dora hat Zeit. Mit ihrem Sohn und einem Kindermädchen ist sie aus Zürich angereist, um an einem Roman zu arbeiten. Ein Schreibstipendium und das Mädchen halten ihr den Rücken frei: Endlich wird sie die Geschichte des Bildhauers Constantin Avis niederschreiben können, die sie schon lange in sich trägt.
Kapitelweise entspinnt sich in Dana Grigorceas «Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen» nun diese Geschichte zwischen der schreibenden Dora und Constantin, der hundert Jahre vor ihrer Ankunft in Ligurien nach New York reist, um dort seine Werke zu zeigen. Beide treibt die Frage um, wie sich die Kunst zum Alltäglichen verhält. Aber während Constantin frei durch die Stadt streifen und seinem Schaffensdrang jederzeit nachgehen kann, arbeitet Dora nur vormittags an ihrem Buch. Die Nachmittage gehören ihrem anderen Kind, jenem aus Fleisch und Blut. Ihre Sehnsucht nach Ungebundenheit projiziert sie auf Constantin.
Bildhafte Eindrücke, die Dora zum Schreiben inspirieren, verbinden die beiden Erzählebenen – so taucht die Wäsche, die sie in der ligurischen Meeresbrise flattern sieht, ein paar Seiten später auf den Flachdächern New Yorks wieder auf. Bald aber beginnt auch Constantins Leben dem ihrigen zu ähneln. Beide verstricken sich in Liebesbeziehungen, die sie in ihrem Schaffen einengen. Und während Dora mit ihrer Doppelrolle als Mutter und Schriftstellerin hadert, muss sich Constantin ökonomischen Zwängen fügen und eine Auftragsarbeit annehmen, die seinem künstlerischen Selbstverständnis widerspricht.
Kunst speist sich aus dem Leben, das im Widerspruch steht zur Kunst – es ist ein reizvoll angelegter Konflikt, der im Lauf des Romans aber zerfasert. Die Handlung verengt sich auf die Frage nach dem Sinn und Wesen der Kunst, die selbst Dora nie anders beantworten kann, als dass sie schön zu sein habe, um «die Sinne zu schärfen für ein schönes und gutes Leben». Über diese platte Sinnsuche gerät nicht nur sie etwas papieren, auch der Roman mutet zuweilen wie eine etwas ziellose Reihung von Bildern an. Die aber sind durchgehend poetisch – und konsequent schön.
Dana Grigorcea liest am Sonntag, 21. April 2024, um 16 Uhr in Altdorf im Haus für Kunst Uri.