Gewalt in Bundesasylzentren: «Quasi keinerlei Korrekturen oder Re­organisationen»

Nr. 16 –

Nach Vorwürfen von Gewalt in den Bundesasylzentren testet das SEM externe Meldestellen in Zürich und Basel – und ist mit dem Verlauf des Pilotprojekts zufrieden. Interne Dokumente zeigen jedoch: Die Meldungen von Asylsuchenden blieben bislang folgenlos.

Es war ein beunruhigender Einblick in den Alltag von Asylsuchenden in der Schweiz: Im Jahr 2021 machten mehrere Medien, darunter die WOZ, schwere Gewaltvorfälle in den Bundesasylzentren (BAZ) publik. In den durch Stacheldraht und Videoüberwachung gefängnisartigen Zentren wurden Asylsuchende wiederholt Opfer körperlicher Angriffe durch Sicherheitskräfte (siehe Nr. 18/21). Die vom Staatssekretariat für Migration (SEM) beauftragten Mitarbeiter:innen der Unternehmen Securitas und Protectas fälschten zudem Protokolle zu ihren Gunsten. Ein ehemaliger Protectas-Mitarbeiter sagte damals gegenüber RTS: «Alle Schuld wird dem Asylsuchenden gegeben. Alle Auseinandersetzungen werden getarnt.»

Das SEM bagatellisierte die Vorfälle lange, bis es wenige Tage vor deren Veröffentlichung durch die Medien doch noch die Notbremse zog: Es suspendierte fünfzehn Sicherheitskräfte und beauftragte Altbundesrichter Niklaus Oberholzer mit einer externen Untersuchung. Oberholzer bestätigte die in den Medien geschilderten Sachverhalte. Er kam zum Schluss, dass die Gewalt in den Asylzentren zwar nicht nachweislich systematisch, das Sicherheitspersonal jedoch teilweise überfordert sei. Als zentralstes Problem kritisierte er die Auslagerung der Sicherheitsaufgaben durch das SEM an private Sicherheitsfirmen. Dass deren Ausbildung so kurz sei, sei «unzulässig», überdies fehle die «formell-gesetzliche Grundlage für die Disziplinierung von asylsuchenden Personen» (siehe WOZ Nr. 42/21).

Lücken in der Evaluation

Das SEM lancierte ein Pilotprojekt zur Verbesserung der Situation in den BAZ: Für Mitarbeiter:innen und Asylsuchende wurden testweise externe Meldestellen eingerichtet. Seit November 2022 betreibt das Schweizerische Arbeiterhilfswerk in Basel und Zürich nun je eine solche Stelle, ein Beratungsunternehmen begleitet das Pilotprojekt. Dieses hat einen ersten Zwischenbericht verfasst, den das SEM Ende März veröffentlichte. Das Fazit: Noch laufe nicht alles rund, aber das Projekt sei gut gestartet. Im untersuchten Zeitraum seien 260 Meldungen eingegangen, grossmehrheitlich von Asylsuchenden.

Doch worum es bei den Meldungen ging, wird nicht im Detail erwähnt. Eine Lücke, die Amnesty International auf Anfrage kritisiert: «Es braucht mehr Transparenz und präzise Zahlen zu Art und Umfang der Beschwerden. Alle mutmasslichen Menschenrechtsverletzungen sollten dokumentiert und aufgearbeitet werden», schreibt die Menschenrechtsorganisation, die bereits 2021 strukturelle Massnahmen gegen die Gewalt in den BAZ gefordert hatte.

Bloss eine Alibiübung?

Zwar schlägt der Zwischenbericht durchaus kritische Töne an: Zumindest im BAZ Zürich sei die Meldestelle nicht ausreichend bekannt. Von den 260 Meldungen gingen 214 in Basel ein, während es in Zürich bloss 46 waren. Die SEM-Mitarbeiter:innen, die für den Zwischenbericht interviewt wurden, attestieren dem Pilotprojekt nur eine beschränkte Wirkung. Die Fälle, die zu Meldungen führen würden, seien bereits bekannt, heisst es zusammenfassend. Einige stellen das Projekt gar explizit infrage; man solle die Ressourcen besser anderweitig einsetzen. Auch die externen Fachpersonen, die im Bericht zu Wort kommen, äussern sich kritisch. Sie sind mit den befragten Mitarbeitenden einig darin, dass die Meldestellen vor allem eine «symbolische Aussenwirkung» hätten. Eine Fachperson bezeichnete das Projekt laut Bericht als «Alibiübung».

Dennoch schafft es der Zwischenbericht, die «symbolische Aussenwirkung» der Meldestellen positiv zu wenden – zumindest für das SEM: «Die Transparenz und die Glaubwürdigkeit des SEM nach aussen» seien dadurch erhöht worden. Und schliesslich hätten die Meldestellen fast 300 Personen die Möglichkeit geboten, eine Meldung zu machen, «die ohne die Meldestellen vielleicht nicht berücksichtigt worden wäre», so der Bericht. Dass sich damit am Alltag in den Zentren nichts ändern dürfte, klingt im Bericht bereits an: Die Meldungen hätten zu «quasi keinerlei Korrekturen oder Reorganisationen in den BAZ» geführt.

Massnahmen können die Meldestellen ohnehin keine veranlassen, sie können bloss Empfehlungen formulieren. Jedes Quartal schicken die Stellen einen Bericht ans SEM. Darin listen sie die Themen auf, zu denen Meldungen bei ihnen eingegangen sind. Zu jedem muss das SEM Stellung beziehen.

SEM hält Bericht zurück

Bereits im März 2023 hat die WOZ gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz um Einsicht in diese Quartalsberichte, in die Antworten des SEM darauf sowie in weitere Dokumente des Dossiers ersucht. Das SEM wollte darauf zunächst nicht eintreten. Erst nach einer Schlichtungsverhandlung und einem Hintergrundgespräch gab das SEM die Dokumente ein Jahr später – zeitgleich mit der Veröffentlichung der Zwischenevaluation – im vergangenen Monat frei.

Besonders aufschlussreich sind die SEM-Stellungnahmen. Ein Beispiel: Bereits der erste Quartalsbericht der Meldestelle des Asylzentrums Bässlergut in Basel beinhaltet Beschwerden über den Weckdienst. Das SEM antwortet ausweichend; der Weckdienst werde durch eigens geschultes Betreuungspersonal durchgeführt, zudem gebe es ein Gewaltpräventionskonzept. Massnahmen werden keine ergriffen. Ein halbes Jahr später berichten Asylsuchende, «dass ihnen Mitarbeitende während des Weckvorgangs die Decken weggezogen und sie ohne ihre Einwilligung berührt hätten». Eine Reaktion des SEM steht aus.

Bedrohungen und Beschimpfungen

«Aggressives Verhalten» des Personals und in Einzelfällen auch der Asylsuchenden war wiederholt Thema bei der Basler Meldestelle. In einem Quartalsbericht steht: «Aggressives Verhalten begleitet von Bedrohungen oder Beschimpfungen machen einen grossen Teil der Meldungen aus.» Die Meldestelle empfiehlt daher Schulungen in Gewaltprävention und Kommunikation für die Mitarbeitenden. Das SEM entgegnet in einer Stellungnahme: Stimmungsschwankungen seien eine Realität und die Ursachen nur schwer zu beeinflussen. Erneut verweist das Staatssekretariat auf das Betriebskonzept und die bereits getroffenen Massnahmen im Bereich Gewaltprävention. Die Empfehlungen der Meldestellen bleiben zahnlos.

Mit der Veröffentlichung der Zwischenevaluation hat das SEM bekannt gegeben, das Pilotprojekt bis Ende Oktober zu verlängern. Auf Anfrage schreibt es, aktuell lasse sich noch nichts Abschliessendes über die Wirkung der Meldestellen sagen. Es fehle der Meldestelle noch an «Repräsentativität», um als «Gradmesser» zu dienen. Dennoch hebe der jetzige Bericht «den praktischen Nutzen für die meldenden Personen klar hervor». Mit Blick auf das BAZ in Zürich schreibt das SEM, man habe bereits Massnahmen ergriffen, um die Meldestellen noch sichtbarer zu machen. Eine Zwischenevaluation diene zudem ja auch gerade dazu, «Verbesserungspotenzial zu identifizieren, damit der Verlauf des Pilots optimiert werden kann».

Balz Oertli und Reto Naegeli sind Teil des unabhängigen Schweizer Recherchekollektivs WAV (wav.info).