Israel und Iran: Das Ende der Abschreckung
Nach dem iranischen Vergeltungsschlag gegen Israel ist das Risiko einer regionalen Eskalation so gross wie nie in den letzten sechs Monaten. Damit rückt der Krieg in Gaza in den Hintergrund.
Hier sind wir nun also. Sechs Monate sind seit Beginn des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen vergangen, der in Reaktion auf die Massaker der Hamas in Israel vergangenen Oktober erfolgte. Sechs Monate, während derer Expert:innen immer wieder warnten: Je länger dieser Krieg dauert, desto höher ist das Risiko, dass sich der Konflikt auf die gesamte Region ausweitet. Nun ist dieser Abgrund näher denn je.
Am 1. April bombardierte Israel das iranische Konsulat in der syrischen Hauptstadt Damaskus und tötete mehrere Mitglieder der iranischen Revolutionsgarden, darunter den General Mohammed Reza Zahedi. Zwar fliegt Israel seit Jahren Militärschläge gegen iranische Truppen in Syrien. Doch dieser Angriff auf eine diplomatische Vertretung des Iran überschreitet eine neue Grenze. «Israel muss und wird bestraft werden», sagte der iranische Revolutionsführer Ali Chamenei.
Zwei Wochen später folgte nun die Vergeltung. Am Samstagabend schoss der Iran insgesamt dreihundert Drohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen Richtung Israel ab. Der Angriff bricht mit dem ungeschriebenen Gesetz des Gleichgewichts der Abschreckung im Konflikt zwischen den beiden Ländern: Es war der erste, der jemals direkt von iranischem Boden aus gegen israelisches Staatsgebiet gerichtet war.
Irans Behauptung
Zwar gelang es Israel mit Unterstützung westlicher und offenbar einzelner arabischer Staaten, den Grossteil der Geschosse abzuwehren. Und das sei kein Zufall gewesen, sagt Ali Vaez, Iranexperte bei der NGO Crisis Group: «Genau das war die Absicht des Iran.» Tage zuvor schon hatte das Regime über diplomatische Kanäle durchsickern lassen, dass ein Vergeltungsschlag kurz bevorstehe. In der Nacht des Angriffs schickte es den Raketen Drohnen voraus, die mehrere Stunden brauchen, um ihr Ziel, fast zweitausend Kilometer entfernt, zu erreichen.
Auch sah die iranische Regierung davon ab, seine Verbündeten, allen voran die schiitische Hisbollah-Miliz im Libanon, an dem Angriff zu beteiligen. «Die Hisbollah ist wegen der geografischen Nähe zu Israel durch israelische Luftschläge sehr verwundbar», sagt Politologe Farzan Sabet vom Graduate Institute in Genf. Und die Miliz spiele in der iranischen Abschreckungskulisse gegenüber Israel eine zentrale Rolle – daher versuche der Iran, einen Krieg Israels gegen die libanesische Miliz so lange wie möglich hinauszuzögern, so Sabet.
Derweil erntete die iranische Vergeltung in den sozialen Medien bei Araber:innen Spott: Der Angriff des Regimes, das sich stets als Beschützer der Palästinenser:innen aufspiele, sei doch nichts als Show gewesen, so der Tenor. Ali Vaez aber warnt: «Das ist einer der gefährlichsten Momente der letzten Jahrzehnte in der Region.» Der iranische Vergeltungsschlag sei eine kumulierte Reaktion auf die vergangenen Jahre, in denen Israel immer wieder Angehörige des Regimes vor allem in Syrien getötet habe. «Mit dem Angriff definiert es die Regeln dieses Konflikts neu», so Vaez: Auf jeden israelischen Angriff würde der Iran künftig militärisch antworten, so die Behauptung.
Das hält der Experte zwar für einen Bluff. «Ich glaube nicht, dass sie zum Beispiel auf kleinere Cyberangriffe reagieren würden.» Doch es gebe rote Linien: Sollte etwa Israel iranischen Boden direkt angreifen oder erneut ranghohe Militärs ins Visier nehmen, werde der Iran reagieren. Mit dem Vergeltungsschlag vom Samstag hoffe das Regime, Israel von solchen Attacken abzuschrecken. Für den Iran, hiess es am Sonntag denn auch aus Teheran, sei die Sache damit erledigt.
Kommt der Druck?
Das Problem von Abschreckung ist, dass sie häufig das Gegenteil von dem bewirkt, was sie erreichen will: dass sie den Gegner stattdessen dazu bringt, erst recht zu eskalieren. Die Abschreckung des einen sei in dieser Situation immer auch der Verlust der Abschreckung des anderen, so Vaez. Denn ebenso, wie der Iran sich gezwungen sah, auf den Angriff auf seine diplomatische Vertretung in Syrien zu reagieren, könne Israel einen Angriff des Iran auf sein Staatsgebiet nicht unbeantwortet lassen – denn das wäre eine Einladung, dass solche Angriffe auch künftig ohne Reaktion blieben. Sollte es zu einem israelischen Angriff auf iranischem Boden kommen, könnte es sein, dass der Iran weniger zurückhaltend reagieren wird – und sich auch seine Verbündeten an einem Gegenschlag beteiligen.
Aus Furcht vor einer regionalen Eskalation riefen westliche Regierungen Benjamin Netanjahu dazu auf, sich zurückzuhalten. US-Präsident Joe Biden drängte den israelischen Ministerpräsidenten dazu, die erfolgreiche Abwehr als Sieg anzunehmen – und von einem umfassenden Gegenschlag abzusehen. Die USA würden sich zudem nicht an einem israelischen Angriff beteiligen, so Biden. Gleichzeitig aber hatte der US-Präsident bereits vor der iranischen Attacke bekräftigt, Israel gegen iranische Angriffe zu verteidigen.
Netanjahu indes ist unter Druck. Seine rechtsextremen Koalitionspartner, von denen seine fragile Regierungskoalition und damit sein politisches Überleben abhängt, drängen auf einen harschen Gegenschlag. Gleichzeitig zeigt gerade die Unterstützung von Israels Verbündeten in der Abwehr des iranischen Angriffs, dass das Land durchaus auf seine Partner angewiesen ist. Das gibt den westlichen Staaten zumindest in der Theorie die Möglichkeit, Druck auf die israelische Regierung auszuüben.
Nur: Wie sehr werden sie diese Möglichkeit nutzen? Lange übten die meisten westlichen Staaten, insbesondere die USA und Deutschland, nur äusserst zurückhaltend Kritik an Israels Kriegsführung im Gazastreifen – geschweige denn, dass sie wirklich Druck ausübten, um der Gewalt Einhalt zu gebieten. Es dauerte fast sechs Monate, bis sich Biden dazu durchringen konnte, einen Waffenstillstand zu fordern. Über 34 000 Palästinenser:innen waren da bereits durch israelische Angriffe getötet worden, aus dem Norden des Gazastreifens kamen erste Meldungen von Kindern, die an Mangelernährung sterben.
Zulasten der Palästinenser:innen
Erst nachdem die israelische Armee am 2. April einen Konvoi der Hilfsorganisation «World Central Kitchen» im Gazastreifen angegriffen hatte und mehrere westliche Hilfsarbeiter:innen dabei getötet worden waren, änderte sich der Ton. In einem Anruf forderte Biden Netanjahu auf, mehr Hilfslieferungen in den Gazastreifen zuzulassen. Woraufhin Israel ankündigte, den Erez-Grenzübergang für Hilfslieferungen in den Norden Gazas zu öffnen.
Der iranische Angriff habe den Menschen in Gaza daher eher geschadet als genützt, sagt der Politanalyst Khalil Sayegh, indem er die Aufmerksamkeit vom Krieg in Gaza weg lenke. «Zuvor wurde Israel zunehmend isoliert, jetzt gilt es wieder als Opfer.» Seine schlimmste Befürchtung ist, dass Netanjahus Regierung die aktuelle Situation nutzen könnte, um mit den USA einen Kompromiss auszuhandeln: Israel würde sich beim Gegenschlag zurückhalten und die USA der israelischen Regierung im Gegenzug grünes Licht geben, die Stadt Rafah im Süden Gazas mit Bodentruppen anzugreifen.
«Dieselben Akteure, die sich von Netanjahu entfremdet haben, stehen jetzt wieder stramm an seiner Seite», sagt auch Mairav Zonszein, Israelanalystin der Crisis Group. Dabei sei internationaler Druck zentral, um die festgefahrenen Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas über die Freilassung der verbliebenen Geiseln und einen Waffenstillstand voranzutreiben. Innerhalb Israels wiederum, wo in den letzten Wochen Zehntausende für einen Deal zur Freilassung der Geiseln und gegen die Regierung demonstrierten, dominiere seit Samstagnacht die Verunsicherung über die drohende Eskalation mit dem Iran.
Ein Ende des Kriegs in Gaza, so Zonszein, wäre ein wichtiger Schritt, um die Eskalationsspirale aufzuhalten. Denn die iranischen Verbündeten in der Region, die libanesische Hisbollah, aber auch die Huthi-Rebellen im Jemen oder die schiitischen Milizen im Irak, knüpften ein Ende ihrer Attacken stets an einen Waffenstillstand in Gaza. Doch mit den jüngsten Aggressionen zwischen Israel und dem Iran stellt sich die Frage, ob die regionale Eskalation nicht längst ihren eigenen Regeln folgt.