Parlamentswahlen in Indien: Im Dienst der Mehrheitsgesellschaft
Neben wirtschaftlichem Aufbruch und Sozialprogrammen verspricht Premierminister Narendra Modi auch einen verschärften nationalistischen Konfrontationskurs. Damit hat er beste Chancen auf einen erneuten Wahlsieg.
«Dieses Mal werden wir mehr als 400 Sitze im Parlament erreichen!», schallt aus den Lautsprechern die Stimme Narendra Modis über die Köpfe seiner Wähler:innen hinweg. Es ist ein Satz, den der Premierminister auf jeder seiner Wahlveranstaltungen mantraartig wiederholt. 970 Millionen Wahlberechtigte entscheiden zwischen dem 19. April und dem 1. Juni, wer in den kommenden fünf Jahren in der Lok Sabha sitzen wird, dem indischen Parlament.
Auch Modi tritt an, für eine dritte Amtszeit. 2019 hat seine hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) 303 von insgesamt 543 Parlamentssitzen geholt. Die von ihr angeführte National Democratic Alliance (NDA), ein Parteienbündnis zwischen Mitte und Mitte-Rechts, hält sogar 353 Sitze. Nun strebt Modi mit der BJP eine Zweidrittelmehrheit an – womit er im Parlament praktisch jedes Gesetz sowie Verfassungsänderungen durchbringen könnte.
Eine wachsende Kluft
Narendra Modi und seine BJP sind straff organisiert. In der bisherigen Regierungszeit haben sie bereits eine ganze Reihe von Wahlversprechen eingelöst. Die Einweihung des Ram Mandir, eines hinduistischen Tempels im nordindischen Ayodhya, kennzeichnete im vergangenen Januar einen über Jahrzehnte erkämpften Triumph der Hindunationalist:innen. Auch zahlreiche Infrastrukturprojekte haben der BJP-Regierung viel Anerkennung eingebracht: Sie liess das Strassennetz, den Bahn- und den Flugverkehr ausbauen und erschloss zahlreiche ländliche Gegenden. Auch legte sie verschiedene Sozialprogramme auf. Erst Ende 2023 verlängerte sie ein Wohlfahrtsprogramm, das rund 800 Millionen Inder:innen mit kostenlosem Getreide versorgt, um weitere fünf Jahre.
Mittlerweile ist Indien die fünftgrösste und überdies die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der Welt. Modi hat den Subkontinent zudem als globalen Player positioniert, als eine Art geopolitischen Dreh- und Angelpunkt. Sinnbildlich dafür steht der G20-Gipfel, der im September letzten Jahres in Delhi abgehalten wurde.
Festzustellen sind gleichzeitig eine wachsende Kluft zwischen der muslimischen Minderheit im Land und der hinduistischen Mehrheitsgesellschaft – und zunehmend autokratische Tendenzen aufseiten Modis und seiner Regierungspartei. Vertreter:innen der Oppositionsparteien beschweren sich, von der Regierung gezielt angegangen zu werden. So erklärte Mitte Februar etwa der Indian National Congress (INC), die führende Kraft im Oppositionsbündnis INDIA (Indian National Developmental Inclusive Alliance), dass das Finanzamt seine Bankkonten eingefroren habe. Der offizielle Grund: Unregelmässigkeiten in einer Steuerangelegenheit. INC-Politiker:innen witterten ein Störmanöver im Wahlkampf.
Ende März dann wurde Arvind Kejriwal, Regierungschef des Unionsterritoriums Delhi, wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet. Er gehört der Aam Aadmi Party (AAP) an, die vor zwölf Jahren aus der indischen Antikorruptionsbewegung hervorgegangen ist. Schon zuvor waren einige Parteimitglieder festgenommen worden, weil sie in kriminelle Geschäfte mit Alkohollizenzen verwickelt gewesen sein sollen. «Die Wähler:innen erkennen, dass die Vollzugsbehörden auf Anweisung der Regierung handeln und ihre Arbeit nicht neutral durchführen», sagt Sanjay Kumar, Wahlanalyst beim Centre of the Study of Developing Societies, einer Denkfabrik in Delhi. «Gleichzeitig verstehen sie aber auch, dass die politischen Parteien und ihre Führer etwas verkehrt gemacht haben», so Kumar.
Wenige «schwierige» Staaten
Umfragen liessen nicht darauf schliessen, dass sich die Wähler:innen vor autokratischen Tendenzen der Regierung fürchten würden, sagt Kumar. Vielmehr herrsche die Haltung vor, dass Indiens Mehrheitsgesellschaft ein grösseres Mitspracherecht zustehe. «Ein Grossteil der Bevölkerung hat das Gefühl, dass die Regierungen vor der BJP-Machtübernahme 2014 die Bedürfnisse der Mehrheitsgesellschaft vernachlässigt hätten», so Kumar. Das lasse sich als Reaktion auf die inklusive Politik interpretieren, die gegenüber den Bevölkerungsminderheiten zuvor betrieben worden sei. Viele Wähler:innen würden darin heute eine Ungerechtigkeit gegenüber der Mehrheit sehen.
In sieben aufeinanderfolgenden Phasen wird nun in den 28 Bundesstaaten und 8 Unionsterritorien gewählt. Deren Anzahl Parlamentssitze hängt von der jeweiligen Bevölkerungsgrösse ab; so hat das nordindische Uttar Pradesh, der bevölkerungsreichste Bundesstaat, etwa achtzig Sitze zu besetzen. In kleinen Staaten wie Nagaland ganz im Nordosten oder Goa im Südwesten sind es bloss einer oder zwei. Gemäss Umfragen haben die BJP und deren NDA-Bündnis insgesamt die Nase weit vorn.
Dem hätten die Oppositionsparteien nur wenig entgegenzusetzen, sagt Wahlexperte Sanjay Kumar. «Es gibt nur sechs oder sieben Staaten, in denen wir ein spannendes Rennen sehen werden.» Kumar zählt unter anderem das zentral gelegene Maharashtra mit der Küstenmetropole Mumbai sowie Westbengalen mit Kalkutta im Osten auf, wo 48 respektive 42 Sitze zu vergeben sind. «Auch in den zwei südindischen Staaten Tamil Nadu und Kerala wird es spannend», sagt er. Die genannten Staaten gelten traditionell als wenig BJP-freundlich. Um diese sogenannt «schwierigen» Staaten kümmerten sich Modi und seine Mitstreiter:innen in der letzten Amtszeit besonders ausgiebig: Sie lancierten Entwicklungsprogramme, integrierten führende Regionalpolitiker:innen in der nationalen Politik und setzten auf symbolträchtige Gesten.
Wirtschaft und Konfrontation
Was Narendra Modi dem Land im Falle einer dritten Amtszeit verspricht, können die Wähler:innen seit vergangenem Sonntag in einem 76-seitigen Manifest lesen. Darin steht beispielsweise, dass Modi die Olympischen Sommerspiele im Jahr 2036 nach Indien holen möchte.
Daneben ist dem Manifest aber auch Handfesteres zu entnehmen. Etwa die Ankündigung, dass die BJP die Sozialausgaben erhöhen werde, und zwar insbesondere für junge und alte Menschen, für Frauen, für Arme und für Bäuer:innen. Zudem möchte die BJP die nationale Infrastruktur weiterentwickeln und Indien – als Alternative zu China – global als Produktionszentrum etablieren. Das Versprechen zielt darauf, der akuten Knappheit an Arbeitsplätzen zu begegnen, die in Indien derzeit herrscht. Erst kürzlich zeigte eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation der Uno und des indischen Institute for Human Development, dass zwei von drei Arbeitslosen im Land derzeit junge Berufseinsteiger:innen sind.
Neben wirtschaftlichen Impulsen dürfte Modi in einer dritten Amtszeit auch zunehmend konfrontative Akzente setzen. So verspricht das Manifest beispielsweise auch eine Vereinheitlichung der Gesetze mit Bezug auf Ehe, Erbrecht und Adoption; damit dürfte die BJP insbesondere auf die muslimische Minderheit zielen, deren Familienrecht bislang nach den Regeln der Scharia gesprochen wird. Und was nicht im Manifest steht, aber vom indischen Verteidigungsminister Rajnath Singh immer wieder unüberhörbar verkündet wird: Der von Pakistan besetzte Teil Kaschmirs soll wieder mit Indien vereint werden.
Die nächsten sieben Wochen werden zeigen, ob sich die indische Bevölkerung tatsächlich für die Vision der BJP entscheiden wird. Am 4. Juni sollen die Wahlergebnisse bekannt gegeben werden.