Indien: Die grösste Demokratie wankt

Nr. 22 –

Bei den Wahlen in Indien steht viel auf dem Spiel. Erhält Premier Narendra Modi genug Stimmen, um das Land endgültig zum Hindustaat umzubauen?

Wahlhelferinnen in einem Wahllokal in Neu-Delhi
Die neusten Umfragen sagen einen weniger deutlichen Sieg Modis voraus, als lange erwartet wurde: Wahllokal in Neu-Delhi. Foto: Raj K. Raj, Alamy

Ein Sonntagmorgen um 6.30 Uhr in Noida, einer Satellitenstadt bei Delhi. Über den Ved-Van-Park schallt ein Lied: «Wir wenden uns wieder unserer uralten Kultur zu, unserer Tradition, unserer Geschichte. Wir können die alten Fehler nicht wiederholen. Wir Hindus erwachen, und die Geschichte verändert sich.» Zwanzigstöckige Wohnblocks aus Beton gleich neben dem Park verstärken das Volumen der Stimmen. Die rund vierzig singenden Männer haben sich in Reih und Glied aufgestellt. Ihr Blick ist auf eine gehisste Flagge gerichtet – safranrot –, sie steht für die Sanatana Dharma, die ewige Religion der Hindus.

Die Männer bilden einen Shakha, eine Kerneinheit des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS). Diese hindunationalistische Organisation möchte die Lebensart der Hindus bewahren. «Der RSS wurde aufgebaut, weil man nur stark ist, wenn man sich organisiert. Indien war mit zahlreichen Invasoren konfrontiert. Sie haben uns alles genommen und uns mit Gewalt konvertiert», sagt RSS-Mitglied Niraj Singh. Und sieht dabei den Männern bei ihren Yogaübungen zu.

Verfassungsänderung droht

Der RSS wurde 1925 während des Unabhängigkeitskampfs gegen die britischen Kolonialherren vom Arzt Keshav Baliram Hedgewar gegründet. Hedgewar gehörte zunächst Mahatma Gandhis Indian National Congress an, war aber mit den politischen Zielen der Partei nicht einverstanden. Insbesondere die sogenannte Appeasementpolitik den indischen Muslim:innen gegenüber missfiel ihm. Der RSS ist zwar eine soziale und keine politische Organisation, aber die Bharatiya-Janata-Partei (BJP) – die gegenwärtige Regierungspartei – bildet den politischen Flügel des RSS. Und zwischen der Organisation und der Partei gibt es eine grosse Schnittmenge. RSS-Mitglieder werden immer wieder einflussreiche BJP-Politiker – wie etwa Premierminister Narendra Modi.

Seit 2014 regiert Premier Modi mit der hindunationalistischen BJP die grösste Demokratie der Welt. Bis zum 1. Juni entscheiden 970 Millionen Wahlberechtigte darüber, ob seine Partei auch in den nächsten fünf Jahren die Geschicke des Landes lenken wird. Premier Modi setzt auf ein Indien mit erstarkter Hindu-Identität, auf wirtschaftliche Entwicklung und die Bekämpfung von Armut. Bei der Bevölkerung kommt das an. Auch, dass Modi dem Land auf internationaler Ebene eine Stimme verschafft hat. Doch hat er das Land in seiner Regierungszeit auf einen autoritären Kurs getrimmt: Seine Regierung schränkte Minderheitenrechte ein, brachte die Medien weitgehend unter ihre Kontrolle. Bei den aktuellen Wahlen strebt Modi eine Zweidrittelmehrheit an. Kritiker:innen befürchten, mit einer solchen werde der Premier die säkulare Verfassung reformieren und das Land – nach dem Vorbild der Islamischen Republik Pakistan – endgültig in einen religiösen Hindustaat verwandeln.

Entsprechend hat Modi in diesem Wahlkampf seine Rhetorik gegenüber Minderheiten noch einmal verschärft, insbesondere gegenüber Muslim:innen. Seine Botschaft lautet: «Versteht euch zuallererst als Inder und dann als Muslime.» Und: «Ordnet euch unseren Regeln und Gesetzen unter.» Kürzlich verkündete der Premierminister, dass Muslim:innen, solange er lebe, keine eigens für sie reservierten Ausbildungsplätze und Regierungsjobs, sogenannte Reservierungen, mehr bekommen würden. Bislang werden Muslim:innen meist den benachteiligten Kasten zugeordnet – denen wiederum ein gewisser Prozentsatz der Studienplätze zugestanden wird.

Die Hetze der Regierung verfängt insbesondere bei den Männern der Shakhas. So friedlich das Training im Ved-Van-Park wirkt: Der RSS soll immer wieder in Übergriffe auf Minderheiten involviert sein. Von Beobachter:innen der Organisation wird sie als gewaltbereit, paramilitärisch und profaschistisch bezeichnet. Insgesamt gibt es in Indien 72 000 Shakhas. Da es keine offiziellen RSS-Mitgliedschaften gibt, variieren die Schätzungen zu den Mitgliederzahlen stark, von 500 000 bis zu 20 Millionen. Singh sagt zum Abschied: Dass der RSS gewalttätig sei, sei eine falsche Anschuldigung. «Unsere Philosophie sagt nirgends: Attackiere Menschen und töte sie!» Eine solche Herangehensweise sei Hindus fern.

«Ein Heer von Armen»

Besuch bei Raashid Alvi, der in der wohlhabenden Siedlung Sainik Farm im Süden Delhis lebt. Der 68-jährige Politiker hat viele Jahre für den sozialdemokratischen Indian National Congress (INC) in der Lok Sabha, der ersten Kammer des indischen Parlaments, gesessen. Avi beurteilt Modis hindunationalistische Politik äusserst kritisch. «Die BJP schürt die Feindseligkeiten zwischen Hindus und Muslimen», sagt er, sie polarisiere und spalte die indische Gesellschaft. «Kürzlich hat Modi bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Stadt Meerut behauptet, der INC wolle den Reichtum des Landes an die muslimische Bevölkerung verteilen. Das ist völliger Unsinn», sagt Alvi. «Und warum bezeichnet er Muslime als Eindringlinge? In Indien leben ungefähr 200 Millionen Muslime, beinahe so viele wie in Pakistan! Und die BJP hat keinen einzigen Muslim zur Wahl aufgestellt», beklagt der Politiker. Die BJP wolle ein Hinduparadies schaffen.

Alvi, selbst muslimischer Herkunft, verfolgt wie seine Partei einen säkularen Ansatz. Der Politiker ist überzeugt, dass die indische Bevölkerung es leid ist, dass die BJP das Hindu-Muslim-Thema pausenlos politisiert. Es gebe Wichtigeres: die steigenden Preise für Benzin, die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die steigende Verschuldung des Landes. «Narendra Modi brüstet sich damit, dass er achtzig Millionen Menschen im Land mit Gratismahlzeiten versorgt. Aber wie kann er bei einem solch riesigen Heer von Armen davon sprechen, dass die ökonomische Situation Indiens gut ist?», fragt der Politiker verärgert.

Der Opposition, die bei den Wahlen mit einem breiten, von der Kongresspartei angeführten Bündnis antritt, wird bei den Wahlen zwar eine klare Niederlage prognostiziert. Doch neuste Umfragen sagen einen weniger deutlichen Sieg Modis voraus, als lange erwartet wurde: Die für den INC günstigsten Umfragen prognostizieren der ehemaligen Regierungspartei 80 Sitze – doppelt so viele wie bei der Wahl 2019. Und das, obwohl es der BJP erfolgreich gelungen ist, den INC als elitäre Partei darzustellen, die einzig die Macht der Gandhi-Familie zementiere.

Sudhir Singh, Politikwissenschaftler an der Delhi-Universität, prognostiziert: «2019 hat die BJP 303 Parlamentssitze gewonnen. Diesmal werden es vermutlich nur 270 sein.» Schuld daran sei vor allem die geringe Wahlbeteiligung in einer Reihe von Staaten. «Es ist wie bei einem Film, den man zum dritten Mal sieht: Die Aufmerksamkeit nimmt ab.»

Opposition unter Druck

Doch der INC kämpft seit Mitte Februar mit seiner finanziellen Situation: Das indische Finanzamt hat seine Bankkonten wegen Steuerunregelmässigkeiten eingefroren. Die Partei beklagt, das seien alles Versuche der Regierungspartei, die Opposition zu schwächen. Auch der beliebte Oppositionspolitiker Arvind Kejriwal der Aam-Aadmi-Partei (AAP) wirft Modi Machtmissbrauch vor, um gezielt gegen die Opposition vorzugehen. Kejriwal, dessen Partei vor zwölf Jahren aus der Antikorruptionsbewegung hervorging, wird ausgerechnet der Korruption beschuldigt. Genauer soll er kriminelle Geschäfte mit Alkohollizenzen getätigt haben. Ende März wurde der Politiker verhaftet.

Es sind 42 Grad im Schatten, die Anhänger Kejriwals stört das nicht. Hunderte drängen in Richtung Rednerbühne der AAP-Parteizentrale. Sie wollen die Freilassung des Regierungschefs des Unionsterritoriums Delhi feiern. Am Vortag, dem 10. Mai, wurde der Oppositionelle vorübergehend auf Kaution freigelassen. Kejriwal nimmt das Mikro in die Hand: «Ich habe eine Bitte! Wir müssen das Land vor der Diktatur retten!» Komme die BJP wieder an die Macht, sperre sie alle Oppositionsführer ein. Doch diesmal werde die von der BJP angeführte National Democratic Alliance (NDA) nicht siegen. «Unser Oppositionsbündnis India (Indian National Developmental Inclusive Alliance) wird die Zentralregierung übernehmen», ruft er den Anwesenden zu.

Der AAP-Pressesprecher Saurabh Bharadwaj erklärt am Rand der Veranstaltung gegenüber der WOZ: «Das Oberste Gericht Indiens hat entschieden, dass es während der Wahlen Chancengleichheit geben müsse und Kejriwal deswegen nicht eingesperrt sein dürfe. Ihn einzusperren habe Modi geschadet, glaubt Bharadwaj: «Alle hassen die Regierung dafür, dass sie mit solchen Mitteln vorgeht. Kejriwal ist jetzt stärker als zuvor.» Allerdings, und das erwähnt der Pressesprecher nicht, hat das Gericht ebenfalls angeordnet, dass Kejriwal Anfang Juni zurück ins Gefängnis muss.

«Modi ist ein Gott!»

Die Menschentraube vor der Parteizentrale verfolgt die Rede des Entlassenen auf einer grossen Leinwand. Einigkeit herrscht im Publikum nicht. Eine Frau sagt: «In ganz Indien setzt nur Kejriwal der Modi-Regierung etwas entgegen.» Ein Mann in einem gelben Hemd ist verärgert: «Kejriwal ist ein Betrüger! Er hat Delhi ausgeräubert.» Eine ältere Frau ist der Meinung: «Als Regierungschef von Delhi ist Kejriwal gut, aber Modi ist ein Gott!» Dem Unionsterritorium Delhi stehen im Parlament sieben Sitze zu. Ob es Kejriwal gelingen wird, einige dieser Sitze zu gewinnen, bleibt abzuwarten. 2019 hatte die BJP alle sieben Sitze für sich holen können. Doch für das überregionale India-Bündnis könnte Kejriwal dieses Mal einige Stimmen herausholen.

Am Eingang der BJP-Parteizentrale in Delhi steht ein Fuhrpark für den Wahlkampf. Auf die Fahrzeuge sind grosse safranfarbene Megafone montiert. Es herrscht reges Kommen und Gehen. Der Partei Modis mangelt es weder an Finanzen noch an Wahlkampfhelfer:innen. «Narendra Modi will 370 Parlamentssitze gewinnen, und wir sind auf einem guten Weg dahin», sagt Vijay Chauthaiwale, ein Pressesprecher der Regierungspartei. «Sie wollen Modi besiegen, aber das ist kein Wahlprogramm. Es sind regionale Parteien, und sie sind gespalten.» Der Premier habe die Ministerien bereits angeleitet, für die ersten hundert Tage der neuen Legislaturperiode Pläne zu entwerfen. «Gleich am ersten Tag soll es voll losgehen.»

Ob der Parteisprecher mit dieser Einschätzung richtig liegt, werden die Wähler:innen der grössten Demokratie der Welt voraussichtlich am 4. Juni erfahren.