Klimakatastrophe: Soziale Kipppunkte

Nr. 18 –

Hitze trifft nicht alle gleich: Ob Wetter zur Katastrophe wird, hängt auch davon ab, wie stark patriarchale und koloniale Strukturen in einem Land fortwirken.

ausgebrannte Autofracks im kanadischen Ort Lytton, wo im Sommer 2021 wochenlang Feuer in den Wäldern loderten
Dürre, Hitze und Brände trafen die Bewohner:innen unvorbereitet: 2021 frass sich das Feuer rund um den kanadischen Ort Lytton wochenlang durch die Wälder. Foto: Darryl Dyck, Imago

Unerträgliche, anhaltende Hitze im Sommer, Dürre aufgrund von ausbleibendem Niederschlag, Waldbrände und Überschwemmungen: In gewisser Weise haben wir uns an die periodisch auftretenden Auswirkungen des Klimawandels gewöhnt und nehmen sie fast so hin wie unsere Vorfahren, die gegen Wetterunbilden machtlos waren. Dabei sind heute viele der ungewöhnlichen Wetterereignisse menschengemacht, und eigentlich wissen wir, dass wir aus diesen Folgen der Erderwärmung lernen könnten.

Wetterkatastrophen halten sich weder an die magische 1,5-Grad-Grenze, die nicht mehr ist als ein politisch ausgehandelter Schwellenwert, noch an Erwartbarkeiten. Und vor allem treffen sie nicht alle gleich. Die Klimakrise, erklärt Friederike Otto in ihrer Studie «Klimaungerechtigkeit» unmissverständlich, sei «hauptsächlich durch Ungleichheit und die nach wie vor unangefochtene Vorherrschaft patriarchaler und kolonialer Strukturen geprägt» und eng mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus verbunden. Nicht zuletzt die Tatsache, dass an physikalischen Fragestellungen orientierte Männer die Klimawissenschaften dominierten, führe zum Ausblenden solcher Aspekte, so die Klimawissenschaftlerin und Philosophin. Denn ob Wetter zur Katastrophe wird, bestimmen «Vulnerabilität und Exposition»: Es hängt von politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen ab, wer die Schäden und die Verluste der Erderwärmung besonders zu spüren bekommt. Hitze, Dürre und andere Wetterphänomene fühlen sich an verschiedenen Orten der Welt verschieden an.

Wasser oder Lebensmittel kaufen?

Als der kleine Ort Lytton im kanadischen British Columbia im Sommer 2021 von einer extremen Hitzewelle heimgesucht wurde, waren die Bewohner:innen darauf völlig unvorbereitet – ein solches Wetterextrem hätte in ihren Breiten nach den vorliegenden Klimadaten gar nicht vorkommen dürfen. Der klimatische «Kipppunkt» erwies sich vor allem als ein sozialer: Lebensbedrohlich war die Hitze insbesondere für Menschen, die sowieso prekär leben, die immobil und schlecht informiert sind. Im Unterschied zu Überschwemmungen mit erfassbaren Opferzahlen wie Ende 2023 in Deutschland ist Hitze auch deswegen tückisch, weil sie ein unsichtbares Sterben mit einer Übersterblichkeit befördert, die oft gar nicht mit den hohen Temperaturen in Zusammenhang gebracht wird.

Auch in einem Land wie Gambia, wo hohe Temperaturen üblich sind, trifft Hitze nicht alle gleich. Frauen, die für die Ernährung ihrer Familien zuständig und gezwungen sind, auf dem Feld zu arbeiten, erleben sie als besonders drückend. Und wenn Dürre herrscht, versagt das geschlechtsspezifische Versorgungssystem. Dass der Kontinent Afrika zu den Hitzehochburgen gehört, wird im Globalen Norden ohnehin wenig registriert, weil keine oder nur unzureichende Wetteraufzeichnungen existieren und die Abweichungen vom Mittelwert auch nicht so extrem sind wie in den gemässigten Klimazonen – ein folgenreiches Erbe der kolonial geprägten Wissensproduktion. Dürre wiederum treibt den Nahrungsmittel- und Wassermangel an, wie in Kapstadt, das 2022 beinahe den «Tag null» ausrufen musste, also den Tag, an dem die Wasserversorgung komplett eingestellt würde. Das alte Stauseesystem war dem Klima nicht mehr gewachsen. Auch unter einer solchen Situation leiden besonders die Armen, ob sie in Kapstadt leben oder in São Paulo, weil sie sich zwischen dem Kauf von Wasser und jenem von Lebensmitteln entscheiden müssen.

Der Schadensfonds ist wichtig

Dürreereignisse sind indes nicht nur auf den Klimawandel zurückzuführen, sondern auch auf koloniale Strukturen und kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse. In ihrer Studie nimmt Friederike Otto Armut in Madagaskar, ethnische Konflikte in der Sahelzone und das «System Bolsonaro» in Brasilien in den Blick und untersucht, inwiefern sie die Auswirkungen der Klimakrise verstärken.

Die Klage gegen den brasilianischen Expräsidenten deutet Otto denn auch als Wende, warnt jedoch vor allzu viel Euphorie, weil Kausalitäten vor Gericht oft schwer nachzuweisen sind. Das Beispiel Australien allerdings zeigt, dass schon die Verhandlung der Buschbrandschäden vor Gericht den Mainstream beeinflussen kann. Sie hat nicht nur generell das Unrechtsbewusstsein geschärft, die Australier:innen setzen sich im Vergleich zu früher nun auch intensiver mit dem Thema auseinander, über die Hälfte nutzen dabei seriöse Medien.

Inzwischen hat der während der Weltklimakonferenz Ende 2023 aufgelegte Schadensfonds den Streit neu angefacht, ob Schadensregulierung nicht vom notwendigen Anpassungsmanagement abhalte. Obwohl Otto die Argumente der Kritiker:innen nachvollziehen kann, plädiert sie doch für den finanziellen Ausgleich, «gerade wenn es um Gerechtigkeit geht». Statt um apokalyptische «Kipppunkte» zu kreisen und Ängste vor Untergang oder unkontrollierter Migration zu schüren, müsse man den Gerechtigkeitsaspekt in den Mittelpunkt der Debatte rücken. Es benötige neue Narrative, die den Anpassungsprozess begleiteten: Geschichten von einer besseren und lebenswerteren Welt, die ohne fossile Brennstoffe auskommt.

Buchcover von «Klimaungerechtigkeit. Was die Klimakatastrophe mit Kolonialismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat»
Friederike Otto: ­«Klimaungerechtigkeit. Was die Klimakatastrophe mit Kolonialismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat». Ullstein Verlag. Berlin 2023. 336 Seiten. 36 Franken.