Kost und Logis: Lob der Arbeit

Nr. 18 –

Ruth Wysseier mag sich nicht von Robotern vorsingen lassen

Jetzt kann ich es ja laut sagen, nachdem die AHV-Abstimmung gewonnen und vor allem die Erhöhung des Rentenalters vom Tisch ist: Fast alle 65-Jährigen, die ich kenne, arbeiten weiterhin, mindestens Teilzeit. Einige, weil sie einen Zustupf gut brauchen können, und viele, weil sie müssen, weil sie keine zweite Säule, sondern nur eine karge Rente haben, die nicht zum Leben reicht. In diese Kategorie fallen die Freischaffenden aus den kreativen Berufen und die Winzer:innen.

Selbst wenn sie im Alter nicht viel Geld haben, sind sie privilegiert, weil sie in ihrem Arbeitsleben etwas Sinnvolles machen durften. Im Weinbau übergeben viele Eltern den Familienbetrieb der nächsten Generation und arbeiten dann so viel wie vorher, mit Leidenschaft und der Genugtuung, dass das, was sie aufgebaut haben, weitergeht. Nicht dass das immer einfach wäre: Die Jungen reissen das Alte raus, die Alten müssen über sich selbst hinauswachsen und gute Miene dazu machen. Vielleicht hilft es, dass sie am Feierabend manchmal ein Glas Wein zusammen trinken.

Die Kreativen haben meist nicht viel mehr weiterzugeben als ihre Ideen. Meine pensionierten ehemaligen Kolleg:innen aus der WOZ verfassen Bücher oder schreiben im Onlinemagazin «Infosperber» weiterhin zu Themen, die ihnen unter den Nägeln brennen. Die Film- und Theaterleute oder Musiker:innen verfolgen neue Projekte, auch wenn die Förderung schwieriger wird und die Auftrittsmöglichkeiten weniger.

In die Kategorie Zustupf fallen viele Pensionierte, die von anderen Berufen kommen – Büro, Verkauf, Werkstatt, Pflege, Gastronomie – und nun als Saisonarbeitskräfte, als «Loublüt», im Weinbau helfen, just for fun. Sie sind noch fit, auch wenn es mal im Knie oder im Rücken zwickt. Ich finde ja, dass wir zum 1. Mai auch diesen Aspekt der Arbeit feiern können: dass sie dem Leben Sinn und Befriedigung geben kann.

Ob Zustupf oder Notwendigkeit: Wer nach 65 weiterhin arbeiten will oder muss, findet die Vorschläge zu verbesserten Rahmenbedingungen, die Pro Senectute und Arbeitgeberverband letzte Woche machten, sicher sinnvoll. Würde der AHV-Freibetrag erhöht und das Aufschieben des Rentenbezugs besser belohnt, wäre das Arbeiten über das Pensionsalter hinaus auch finanziell attraktiver.

Was meine Bekannten sonst noch so treiben den lieben langen Tag: Sie hüten Grosskinder, pflegen kranke Angehörige, arbeiten ohne Lohn in sozialen Einrichtungen, engagieren sich in politischen Bewegungen, in Umweltgruppen oder im Quartierverein. Sie sind so etwas wie der Kitt der Gesellschaft: Sie dichten die Lücken ab, die der stressige Berufs- und Familienalltag im Leben der Jüngeren hinterlässt.

Wir wissen nicht, was noch so auf uns wartet, wenn wir eines Tages gar nicht mehr arbeiten können. Darauf, ins Altersheim zu zügeln, ist in meinem Umfeld jedenfalls niemand scharf, auch wenn es dort neuerdings singende Roboter gibt, die man streicheln darf.

Ruth Wysseier ist Ü65-Winzerin am Bielersee. Der Älteste unter ihren Loublüt hat 87 Jahre auf dem Buckel und ist fit wie ein Turnschuh.