Kampf ums Nötigste In der Schweiz ist man stolz auf die AHV: eine Volksversicherung, die allen ein würdiges Leben im Alter garantieren soll. Doch was die Verfassung feierlich verspricht, ist längst nicht für alle gewährleistet.

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Laut dem «Global Wealth Report» der Credit Suisse ist die Schweiz das reichste Land der Welt. Der Bericht offenbart aber auch eine starke Ungleichheit. Am grössten ist sie bei den über 65-Jährigen. 2019 bezogen nach Angaben des Bundesamts für Sozialversicherungen 215 800 Personen Ergänzungsleistungen (EL), weil ihre AHV-Rente nicht genügte, um den Lebensunterhalt zu bestreiten: Das sind 13 Prozent aller Pensionierten. Bei alleinstehenden Senior:innen wies das Bundesamt für Statistik (BFS) gar eine Armutsquote von über 22,7 Prozent aus.

Wo beginnt Armut? Rein ökonomisch definiert, lag die Armutsgrenze 2019 in der Schweiz bei 2279 Franken pro Monat für eine Einzelperson (inklusive Wohnungskosten und Krankenkassenprämie). Der Lebensbedarf für alleinstehende EL-Bezüger:innen belief sich derweil auf 1634 Franken (ohne Wohnungskosten und Krankenkassenprämie). Die minimale AHV-Rente jedoch beträgt derzeit lediglich 1195, maximal 2390 Franken – die AHV ist also bei weitem nicht existenzsichernd.

Nun hört man immer wieder, viele ältere Menschen könnten ja auf Vermögen zurückgreifen. Das stimmt – für gut die Hälfte der über 65-Jährigen, die in einem Haushalt mit liquiden Mitteln von mehr als 100 000 Franken leben. Untersuchungen des BFS zeigen aber: Solche Vermögen haben nur Personen, die schon im Erwerbsleben gut gestellt waren. Am geringsten sind die Reserven bei Senior:innen ohne Schweizer Pass: 31 Prozent von ihnen können kurzfristig nicht über mehr als 10 000 Franken verfügen, und 11,3 Prozent sind nicht einmal in der Lage, eine unvorhergesehene Ausgabe von 2500 Franken zu bewältigen.

Doppelt bestrafte Frauen

Da ist noch eine weitere eklatante Ungleichheit: Frauen sind auch im Alter weitaus stärker armutsgefährdet als Männer. Elena Wyler, die eigentlich anders heisst, lebt in einer kleinen Wohnung einer städtisch subventionierten Alterssiedlung. «‹Arm› würde ich mich nicht nennen», sagt die 75-Jährige. Und trotzdem ist sie ein Beispiel dafür, wie ungerecht die Altersvorsorge ist. Um ihren Anspruch auf existenzsichernde Ergänzungsleistungen geltend zu machen, musste sich Wyler zuerst in unzähligen Formularen rechtfertigen. Auf dem Stubentisch hat sie mehrere Ordner ausgelegt, in denen sie die Korrespondenz mit dem Amt für Zusatzleistungen archiviert. Wyler arbeitete über 45 Jahre in verschiedenen Jobs: als geschiedene und mehrheitlich alleinerziehende Mutter zunächst Teilzeit im sozialen Bereich, später in höheren Pensen in alternativen Kulturprojekten. Daneben war sie stets politisch engagiert – auch heute noch leistet sie Freiwilligenarbeit. Doch für all die jahrzehntelange Arbeit wurde sie nur mit einer sehr kleinen AHV-Rente belohnt: nicht einmal 1500 Franken im Monat.

Wyler ist ein Beispiel unter vielen: Teilzeitarbeit, Erwerbsunterbrüche, tiefe Löhne, Unvereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die Tatsache, dass Frauen noch immer den Grossteil unbezahlter Care-Arbeit leisten, führen dazu, dass nur sehr wenig in die Vorsorge fliesst. 2019 etwa erhielten 82,9 Prozent der Rentner eine Leistung der zweiten Säule – aber nur 69,5 Prozent der Rentnerinnen. Auch aus der freiwilligen Säule 3a bezogen Männer deutlich mehr: 2217 Franken pro Monat – derweil für Frauen daraus im Schnitt nur 1165 Franken übrig blieben. Der Kapitalbezug bei den Männern war mit 138 000 Franken gar mehr als doppelt so hoch wie bei den Frauen.

Zusammen mit der Rente, den EL, dem Gemeindezuschuss und dem wenigen Geld aus der Pensionskasse kam Elena Wyler bei ihrer Pensionierung auf einen monatlichen Gesamtbetrag von 3800 Franken – so blieben ihr abzüglich der Wohnkosten und Krankenkassenprämie immerhin noch 1800 Franken für den Lebensbedarf. Dann aber, ein Jahr nach ihrer Pensionierung, bekam sie eine Erbschaft. Da diese den Freibetrag von 37 500 Franken überschritt, musste sie erneut viele Stunden mit Bürokram verbringen. Weil sie nach Erhalt der Erbschaft einiges nachholte, was ihr vorher aus finanziellen Gründen verwehrt gewesen war – eine längst fällige Zahnbehandlung, eine Reise, ein Fest –, wurde ihr vom Amt vorgeworfen, zu viel Geld auf einmal verzehrt zu haben. «Ich musste stundenlang Beweise dafür sammeln, dass ich nicht unnötig viel ausgegeben habe.» Trotzdem wurden ihr diese Ausgaben als sogenannter Verzicht auf Vermögen angelastet – und in der Folge die Auszahlung der EL verzögert.

Insgesamt, so Wyler, sei dieser Papierkrieg «schon ein wenig ein Kabarett». Es gehe in Richtung Kontrolle, sagt sie und denkt dabei an Leute, «die nicht so gut drauskommen mit solchen Sachen». Sie selbst aber will sich nicht beklagen: Mit 1800 Franken habe sie heute nicht viel weniger zum Leben als zu den Zeiten, da sie noch erwerbstätig war. «Und als Rentnerin profitiere ich ja auch von Rabatten.»

Hürden vor den EL

Man könnte denken, dass dank der EL jeder Mensch hierzulande ab dem 65. Lebensjahr wirtschaftlich abgesichert ist. Eine vom Amt für Sozialbeiträge des Kantons Basel-Stadt in Auftrag gegebene Studie des Departements Soziale Arbeit an der Berner Fachhochschule jedoch ergibt: 29 Prozent der Pensionierten bezogen gar keine EL, obwohl sie Anspruch darauf hätten. Bei Personen ohne Niederlassungsbewilligung waren es gar doppelt so viele.

Aus den Interviews mit Betroffenen geht hervor: Viele Personen, die ein hohes Autonomiebedürfnis haben, verunsichert sind oder sich für ihre Situation schämen, beantragen keine EL – selbst wenn sie von ihrem Anspruch Kenntnis haben. Unter Personen ohne Schweizer Pass dürfte auch die Angst mitspielen, dass durch den Bezug von EL allenfalls der Aufenthaltsstatus verschlechtert werden könnte (wie es bei Sozialhilfebezug bereits der Fall sein kann). Stattdessen versuchen viele, die finanzielle Not durch Sparsamkeit zu lindern, nehmen Hilfe aus ihrem privaten Umfeld in Anspruch oder verdienen sich zu ihrer dürftigen Rente weiterhin etwas dazu. Es gibt aber auch zahlreiche Rentner:innen, die keine EL beantragen, weil sie sozial isoliert sind, sprachliche Verständnisprobleme oder zu wenig Kenntnisse von administrativen Abläufen haben. Die Autor:innen der Studie kommen denn auch zum Schluss: «Eine nachhaltige Sozialpolitik sollte sich nicht nur um die Leistungsbeziehenden kümmern, sondern sich auch mit den Hürden des Bezuges auseinandersetzen.» Sie haben deshalb Empfehlungen für eine niederschwellige und proaktive Information formuliert. Basel-Stadt will nun als erster Kanton entsprechende Massnahmen ergreifen und die dazu nötigen Informationen gezielt verbreiten.

Peter Burri, Mediensprecher von Pro Senectute, kann bestätigen, dass auffallend viele Rentner:innen mit migrantischem Hintergrund auf EL verzichten. Pro Senectute versuche daher, verstärkt mit Gruppen wie italienischen, portugiesischen, spanischen, türkischen oder tamilischen Vereinen zusammenzuarbeiten, von denen viele Mitglieder ins Pensionsalter kommen oder bereits pensioniert sind. Aktuell stehen auch viele Pensionierungen von Personen aus Exjugoslawien an. Dabei, so Burri, dürfe man nicht vergessen: «Es gibt auch den sogenannten Schwelleneffekt. Dann nämlich, wenn jemand mit seiner AHV-Rente nur knapp über dem Betrag liegt, der zu einem Bezug berechtigt – und so immer noch zu wenig hat, um über die Runden zu kommen. Nach unseren Schätzungen sind allein davon 20 000 bis 40 000 Menschen betroffen.»

Doch selbst Senior:innen, die EL beziehen, können unter die Armutsgrenze fallen. Zwar ist der Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf, der EL-Bezüger:innen zusteht, deutlich höher als der bei der Sozialhilfe. Doch während die Sozialhilfe die effektiven Wohnkosten übernimmt, solange sie im ortsüblichen Rahmen liegen, sind diese bei den EL beschränkt. Sind die Wohnkosten höher als von der EL anerkannt, muss der Fehlbetrag mit dem Geld für den Lebensbedarf bestritten werden. Je mehr also die Mieten steigen, desto mehr Rentner:innen sind trotz EL armutsgefährdet – gemäss dem BFS decken die Mietzinsmaxima der EL heute nur noch bei knapp siebzig Prozent der Betroffenen die Mietkosten.

Ungleiches Körperkapital

Es sind aber längst nicht nur ökonomische Faktoren, die zu Altersarmut führen. Der Soziologe Kurt Seifert hat in einem kürzlich publizierten Aufsatz dargelegt, wie es im Alter zur Kumulation von Ungleichheiten kommt. Als Ausgangspunkt dient ihm dabei das Modell des Soziologen Pierre Bourdieu, nach dem sich der Status einer Person neben dem ökonomischen auch aus dem sozialen und dem kulturellen Kapital ergibt. Seifert ergänzt dieses Modell mit dem Körperkapital: Das aktuell bestimmende Modell des «erfolgreichen Alterns», so Seifert, zeichne sich durch die Betonung eines sportlichen Lebensstils aus: Nicht mehr der verdiente Ruhestand stehe im Zentrum, sondern das Aktivsein. Im Zuge dessen werde verstärkt in den Körper investiert – gleichzeitig aber auch das Risiko des gesellschaftlichen Ausschlusses erhöht, das ein «schwindendes Körperkapital» mit sich bringt.

Statistisch ist erwiesen: Die Lebenserwartung einer Person ist umso grösser, je höher ihr sozialer Status ist. Lebensverlängernd wirken sich vor allem eine hohe Bildung und ein hohes Einkommen aus. Was aber heisst das für die Politik? In seiner 2007 verabschiedeten Strategie für eine Alterspolitik hält der Bundesrat zwar fest: «Die Chancen, ein hohes Alter zu erreichen, sind noch immer ungleich verteilt.» Gegen diese Kumulation von Ungleichheiten konkret unternommen wurde seither aber wenig.

Ginge es nach Seifert, bräuchte es dazu eine «umfassende Neuverteilung der Ressourcen». Er bezieht sich dabei auf den Soziologen Michael Nollert, der zur Diskussion stellt, ob es nicht fair wäre, «in der Altersvorsorge jene sozialen Gruppen zu begünstigen, die aufgrund struktureller Benachteiligungen über geringere Lebenszeitchancen verfügen». In den aktuellen Debatten zur AHV-Revision finden solche Überlegungen kaum Eingang. Stattdessen wird in Kauf genommen, dass die Prognose der Gerontolog:innen Gertrud M. Backes und Ludwig Amrhein bald auch für die Schweiz zutreffen könnte: «ein weiteres Auseinanderklaffen von Bevorzugten und Benachteiligten» sowie eine zunehmende «Polarisierung in ein positives und ein negatives Alter».

Abschied vom Almosenstaat

Dabei gäbe es durchaus interessante Ansätze. So etwa vom Netzwerk Gutes Alter, das derzeit an einer Volksinitiative «Gutes Alter für alle» arbeitet, mit dem Ziel, den Anspruch auf eine Grundversorgung in Pflege, Betreuung und Alltagsunterstützung im Alter in der Verfassung zu verankern – was angesichts der Tatsache, dass aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen immer mehr alte Menschen vereinsamen, umso dringlicher wäre. Oder vom linken Thinktank Denknetz mit Ideen dazu, wie die AHV durch neue Quellen wie etwa eine Besteuerung von hohen Erbschaften oder Vermögenseinkommen finanziert werden könnte. Allein aus hohen Vermögenseinkommen, so das Denknetz, könnten schätzungsweise jährlich sieben bis acht Milliarden Franken in die AHV verlagert werden.

Würden die Renten zudem der Lohnentwicklung angepasst, hätte das gerade bei den tieferen Einkommensgruppen eine markante Erhöhung der Renten zur Folge. Letztlich ginge es darum, die AHV auch in der Praxis zu dem zu machen, wofür sie 1948 in die Verfassung geschrieben wurde: weg vom Almosenstaat und hin zu einem Solidaritätswerk, das jedem hier lebenden Menschen «die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise» ermöglicht. Womit auch endlich die Ergänzungsleistungen obsolet wären. Eingeführt wurden diese 1965 schliesslich als Übergangslösung – in der Hoffnung, dass die AHV bald schon für alle existenzsichernd sein würde.

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