Wichtig zu wissen: This is so beautiful
Ruedi Widmer beobachtet die Trostlosigkeit der technischen Machbarkeit

Ich bin in Italien in den Ferien, in einer Villa von 1897. In einem Schrank stehen alte Bücher und Enzyklopädien, deren Papier vergilbt, teilweise bereits zersetzt ist; das Wissen darin ist rückständig und obsolet. Zeugen aus einer vergangenen Zeit, die keine Rolle mehr spielt. Ich blättere darin, derweil meine Kinder eine App benutzen, mit der man sein Gesicht im Handy alt machen kann oder weiblich. Regelmässig bin ich irritiert von solchen Gadgets. Meine Kinder lachen nur, weil sie einfach sehen, was sie sehen, und es für sie keine Zeit gab, in der so etwas absolut unvorstellbar war.
Auf Social Media kann man einem erstaunlichen neuen Phänomen begegnen: Leuten, die echt und aufrichtig begeistert sind von Fotos – in meinem Fall von Fotos von New York. Solche Fotos erhalten weltweit Tausende Likes und Hunderte Kommentare: «I love this fantastic city», «N.Y. forever», «This is so beautiful».
Das Problem dieser Begeisterung: Diese oft absolut realistisch aussehenden Fotos sind mit künstlicher Intelligenz erzeugt. Man sieht es nicht mehr an unstimmigen Schatten, sondern nur noch daran, dass die Wolkenkratzer im Hintergrund nicht in dieser Konstellation stehen können. Luftaufnahmen, bei denen das Licht und jede Reflexion stimmen, aber beim genauen Hinschauen merkt der durchschnittliche Stadtkenner, dass ganze Quartiere fehlen oder der Central Park nicht genau am richtigen Ort liegt. Oft kritisiert nur einer von tausend Kommentaren den Fehler.
Dieses Phänomen steht einem anderen gegenüber, das nur einen Klick daneben zu beobachten ist. Wer wie ich einige Kanäle mit astronomischen Fotos abonniert hat, zum Beispiel auch den offiziellen Nasa-Kanal, begegnet bei ausnahmslos jedem Foto, das Aspekte der Apollo-Mondlandungen oder die Erde aus dem All zeigt, den notorischen Kommentaren, die das Bild infrage stellen und als «Fake» bezeichnen.
Wir haben also falsche Fotos, die akzeptiert werden, und echte Fotos, die nicht akzeptiert werden.
Die Verbreiter:innen von KI-Fotos machen einfach etwas, das mit wenig Aufwand Ertrag bringt oder Eindruck schindet. Oder Copyrights umgeht. Niemand hätte bei einer künstlerischen Illustration etwas dagegen, wenn Fakten nicht stimmen. Weil man ja sieht, dass es illustriert ist. Bei Bildern, die vorgeben, Fotos zu sein, ist das anders.
Letzte Woche habe ich ein neues Stück der Band Depeche Mode gehört. Es wurde von jemandem mithilfe der Musik-KI Udio generiert. Sänger Dave Gahans Stimme klingt absolut echt. Die Klischees von Depeche Mode sind so überdeutlich zu hören, dass selbst die durchschnittliche Kennerin dieses Stück als echt empfindet. Echter als «Mamma Mia» von Depeche Mode. 1980/81 spielten sie nämlich «Mamma Mia» von Abba bei ihren Livesets. Es gibt eine Aufnahme davon vom 4. Juni 1981, von einem Konzert im Londoner Bridge House. Das würden wohl manche nicht glauben, weil es nicht ihrem Bild von Depeche Mode entspricht. Das Klischee ist wahrer als die Realität.
Und wir sind erst in der Anfangsphase der Verunsicherung, was real und was nicht real ist. Es gibt aber noch die dritte – und wahrscheinlichste – Möglichkeit: Es ist komplett egal, ob etwas wahr ist oder nicht; es ist trotzdem.
Das brachte mich heute auf einer Wanderung in Italien auf die Idee, Tourismustouren anzubieten, bei denen die leitende Person nur Unsinn erzählt, zum Beispiel seien die Kakteen in dieser Gegend und überhaupt auf der ganzen Welt eine Spätfolge eines Störfalls in der Zürcher Sukkulentensammlung, bei dem im März 1931 Kaktussamen in die Umwelt gelangt seien. Oder aber Corniglia sei die erste italienische Ortschaft, in der es keine Pizzeria gebe und die nun deswegen von Tourist:innen überrannt werde, die sehen wollten, wie es keine Pizzeria hat.
Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur.