Gaza-Krieg: Noch mehr Wut, noch mehr Trauma

Nr. 19 –

Israel kann mit einer Offensive in Rafah nichts gewinnen. Sie dient nur noch Netanjahu und den Extremisten in seinem Kriegskabinett.

Erst jubelten die Menschen in Rafah im Gazastreifen, als sie am Montagabend hörten, dass die Hamas ein Waffenstillstandsabkommen angenommen habe. Kurz danach kam die Ernüchterung, als israelische Panzer Richtung Rafah rollten. In Tel Aviv und Jerusalem forderten wütende Demonstrant:innen und Angehörige von Geiseln, dass Israel das Abkommen annimmt und die Offensive in Rafah stoppt.

Bis Redaktionsschluss war noch unklar, welchem Deal genau die Hamas zugestimmt hat. Vieles deutet darauf hin, dass er nicht exakt dem ägyptischen Angebot entspricht, das gemeinsam mit Israel ausgearbeitet wurde, sondern einige Änderungen beinhaltet. So sollen etwa, wenn es nach der Hamas geht, unter den ersten freizulassenden 33 Geiseln auch bereits getötete sein.

Der Ball liegt jetzt bei Israel: Während das Militär Rafah angreift, laufen die Verhandlungen weiter. Doch die Ungewissheit ist für die Palästinenser:innen wie für viele Israelis schwer zu ertragen.

Die grosse Frage ist: Was kann Israel mit einer Invasion in Rafah gewinnen? Denn zu verlieren gibt es viel. Rund eineinhalb Millionen Binnenflüchtlinge, drei Viertel der gesamten Bevölkerung Gazas, leben dort, zum Teil in provisorischen Unterkünften und Zeltstädten, zusammengedrängt auf kleinstem Raum. Die Versorgungssituation ist katastrophal. Am vergangenen Wochenende rief das israelische Militär die Menschen im Osten Rafahs zur Evakuierung auf – in einen kleinen Streifen an der Küste. Zahlreiche Länder, NGOs und die Vereinten Nationen warnen seit Wochen vor den katastrophalen Folgen, die eine Invasion hätte.

Die Wut der Menschen in Gaza auf Israel wird steigen, wie ihre Traumata – beides wird das Zusammenleben auf Generationen prägen. Die Verhandlungen, die ohnehin schon der Quadratur eines Kreises gleichen, werden signifikant erschwert. Und Israel wird einen weiteren grossen Schritt auf seinem Weg gehen, zum Pariastaat zu werden.

Und schliesslich wird eine Bodenoffensive wohl auch israelische Menschenleben kosten – nicht nur von Soldat:innen. Auch die Leben der noch nicht getöteten Geiseln, von denen wohl viele in Rafah festgehalten werden, würde Israel aufs Spiel setzen.

Zur Frage, welche Strategie hinter dem israelischen Vorgehen steckt, kursieren zwei Theorien: Die eine lautet, die Regierung glaube, dass nur militärischer Druck Erfolge bringe. Für viele Israelis ist die Ankündigung der Hamas, einem Abkommen zustimmen zu wollen, ein Beleg dafür. Sie sei schliesslich unmittelbar auf den Beginn der Evakuierung von Rafah gefolgt.

Andere sagen, Netanjahu wolle keinen Deal, nicht jetzt, nicht zu diesen Bedingungen. Aus dem simplen Grund, dass seine rechtsextremen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich dann die Regierung platzen lassen würden. Netanjahu, der wegen Verdacht auf Korruption vor Gericht steht, könnte dies unter Umständen seine Immunität kosten.

Doch es ist nicht nur Netanjahu, der auf die Offensive drängt: Das Kriegskabinett hat am Montag dafür gestimmt – inklusive Benny Gantz, der nach dem 7. Oktober aus der Opposition der Regierung beigetreten ist.

Dabei sind sich die meisten Analyst:innen einig: Die Hamas wird in Rafah nicht besiegt werden, so wie sie überhaupt militärisch nicht besiegt werden kann. In den letzten Monaten wurde sie zwar deutlich geschwächt, schiesst aber immer wieder von Orten, wo das israelische Militär gerade abgezogen ist, Raketen auf Israel, wie zuletzt aus Chan Junis.

Doch es gibt eine alternative Deutung mit Hoffnung: Einiges weist derzeit darauf hin, dass das israelische Militär nicht die angekündigte gross angelegte Invasion beginnt, sondern eine in kleinem Massstab. Möglicherweise damit die Hardliner Ben-Gvir und Smotrich ihr Gesicht wahren – und doch noch einem Deal zustimmen könnten.

Denn so unabhängig von der Stimmung der Strasse sich die Regierung auch gibt, sie dürfte die nahenden nationalen Trauertage vor Augen haben, allen voran den Jom ha-Sikkaron am kommenden Sonntag, an dem Israel der in Kriegen und bei Terroranschlägen Gefallenen gedenkt. Der geballte Zorn des Landes dürfte ihnen sicher sein, wenn es bis dahin keinen Deal gibt. Das gibt Hoffnung, dass die Proteste doch etwas bewirken.