Netanjahu unter Druck: Jetzt soll es eine Rede in Washington richten
Erneut waren in Israel Zehntausende gegen den Premier auf der Strasse. Solange er an der Macht ist, bleibt ein Waffenstillstand mit der Hamas unwahrscheinlich.
Die Demonstrationen vom letzten Samstag waren wohl die grössten, die Israel seit den Terrorattacken der Hamas am 7. Oktober 2023 gesehen hat. Sie sollten eine «Woche der Störungen» einläuten, zu der die Protestbewegung aufgerufen hatte; die Polizei setzte Wasserwerfer ein, einige Demonstrant:innen wurden verletzt. Doch Aviv Gez, der seit langem in der Bewegung aktiv ist, hatte sich mehr erhofft: «Ich bin nicht sicher, ob der Widerstand seinen Zweck erfüllen wird», sagt er.
Der Zweck, den er meint: Neuwahlen. Ein Rücktritt der extrem rechten Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die so furchtbar versagt hat.
Kurz nach dem Überfall der Hamas auf Israel hiess es aus Kreisen der Protestierenden, das werde die Regierung nicht überleben. Viele tippten auf Neuwahlen noch vor Weihnachten. Nun ist Juni – und noch immer hält Netanjahu die Zügel in der Hand. Die Regierung ist stabiler, als viele es sich gewünscht hätten. In Israel und ausserhalb fragen sich Liberale und Linke: Wann kommt es endlich zu Neuwahlen? Kann die Protestbewegung, die sich während vieler Monate in einer Schockstarre befand und nun neu auflebt, das Land noch retten?
Drei Viertel gegen Netanjahu
Je mehr sich unter den Demonstrant:innen die Überzeugung durchsetzt, dass die verbliebenen Geiseln der Hamas strategischen und taktischen Erwägungen geopfert werden sollen, desto wütender werden deren Angehörige und all jene, die mit ihnen seit Monaten für einen Deal zur Befreiung der Geiseln und ein Ende des Kriegs kämpfen. Nun liegt zwar ein von US-Präsident Joe Biden eingebrachtes Angebot auf dem Tisch, dem beide Seiten – mehr oder weniger – zugestimmt haben, doch Israel und die Hamas verfolgen letztlich Ziele, die eine Einigung unmöglich machen: Die Hamas will einen Deal nur mit einer Garantie für einen vollständigen Waffenstillstand. Israel gelobt, die Kämpfe erst einzustellen, wenn die Hamas besiegt ist. So schieben sie sich gegenseitig die Verantwortung für die Pattsituation zu.
Die Zehntausenden Protestierenden äussern ihre Wut über Netanjahus Desinteresse an einem Waffenstillstandsdeal – und darüber hinaus auch ihren Zorn auf die Ultraorthodoxen und deren rechte Vertreter:innen in der Regierung. Denn derzeit birgt die Frage der Militärdienstpflicht grosses Sprengpotenzial. Eigentlich ist der Wehrdienst in Israel für Männer und Frauen ab achtzehn Jahren obligatorisch. Eine Reihe von Regelungen hat Ultraorthodoxe bislang aber davon befreit, was nun in einem Gesetz zementiert werden soll: Vor einer Woche hat das Parlament für einen entsprechenden von Netanjahu eingebrachten Entwurf gestimmt.
Das Entsetzen unter Israels Liberalen, deren Kinder fast täglich in Gaza sterben, ist gross. Zu einer Regierungsauflösung, die angesichts der Unstimmigkeiten in der Koalition eine Zeit lang möglich schien, kam es deshalb allerdings bisher nicht.
Gemäss Meinungsumfragen vom April sollen fast drei Viertel der israelischen Bevölkerung einen Rücktritt Netanjahus befürworten, die Hälfte des Landes vorgezogene Neuwahlen wünschen. Gayil Talshir ist sich sicher, dass es zu Neuwahlen kommen wird. Die Politologin an der Hebräischen Universität in Jerusalem hat ein Buch über Netanjahu geschrieben und die politische Strategie der Protestbewegung mitentwickelt. Die Frage sei nicht, ob es Neuwahlen geben werde, sondern wann, sagt sie. Netanjahus Ziel wiederum sei es, mindestens bis am 24. Juli im Amt zu überleben – dann nämlich soll er eine Rede vor dem US-Kongress in Washington halten. Der Ministerpräsident hoffe darauf, dass ihm diese dabei helfe, seine internationale Reputation zu retten und damit die Gunst seiner Wähler:innen wiederzuerlangen, so Talshir.
Bereits seit der Regierungsbildung mit seinen rechtsextremen Partnern Ende 2022 und den kurz darauf angekündigten Plänen zum Staatsumbau ist Netanjahus Verhältnis zum US-Präsidenten unterkühlt. Die Form der israelischen Kriegsführung und der Unwille Netanjahus, einen Plan für die Zeit nach dem Krieg zu formulieren, rufen Bidens Unmut hervor, auch weil ihn der Gazakrieg im US-Wahljahr in Bedrängnis bringt. Hinzu kommt die internationale Isolation, in der sich Israel derzeit befindet. All das belastet Netanjahus Beliebtheit in Israel zusätzlich; die Rede in Washington soll es richten.
Im Zwist mit den Militärs
Ideal wäre es für Netanjahu freilich, die Neuwahlen bis zum nächsten Jahr hinauszögern zu können – wenn möglicherweise ein anderer an der Spitze der USA steht: Donald Trump. Netanjahu darf davon ausgehen, von diesem in seiner Politik bestätigt zu werden, wie bereits während dessen erster Amtszeit.
Die Aufgabe der Protestbewegung sieht Politologin Talshir deshalb darin, Neuwahlen so früh wie möglich zu erwirken – durch mehr öffentlichen Druck von der Strasse und einen Aufruf zum Generalstreik. Ein weiteres halbes Jahr unter dieser Regierung, die in Zeiten des Kriegs nur ihre eigenen Ziele verfolge, hätte in ihren Augen desaströse Folgen. Und tatsächlich gibt es einige Sollbruchstellen in der Regierungskoalition, die den Zielen der Protestbewegung in die Hände spielen.
Netanjahu hat nämlich zunehmend Probleme, seine rechtsextremen Koalitionspartner:innen einzuhegen. Die Forderungen des nationalen Sicherheitsministers Itamar Ben-Gvir und des Finanz- und Siedlungsministers Bezalel Smotrich – keine Zugeständnisse gegenüber den Palästinenser:innen, kein Waffenstillstandsdeal – drängen Netanjahu zunehmend in einen offen ausgetragenen Konflikt mit der israelischen Armee. Die jüngsten gegenseitigen Anschuldigungen drehen sich um die Frage, wer den Befehl zu einer «humanitären Pause» entlang einer Route im Süden von Gaza gegeben habe, die das Militär am Wochenende ankündigte.
Offener Krieg gegen die Hisbollah?
Eine ganze Reihe von Themen haben die Kluft in den letzten Wochen noch vertieft. Ein Beispiel: Einige Offiziere sagten gegenüber den Medien, Israel laufe Gefahr, die «taktischen Errungenschaften» der vergangenen Monate im Gazastreifen wieder zu verlieren, weil Netanjahu sich weigere, einen Nachkriegsplan zu entwickeln und die Machtübernahme einer alternativen Kraft zur Hamas, etwa der Palästinensischen Autonomiebehörde, zuzulassen. Stattdessen kehre die Hamas, so zitierte die «Haaretz» die Offiziere, in bereits von der israelischen Armee geräumte Gebiete in Gaza zurück. «Dass sich der eigene Ministerpräsident gegen das Militär stellt, ist auch für die Rechten eine rote Linie», so Talshir. Die Zerwürfnisse könnten ihn wichtige Stimmen kosten und noch mehr Leute auf die Strasse bringen.
Ob und wann es tatsächlich zu Neuwahlen kommt, hängt allerdings noch von einer anderen grossen Frage ab: Entwickelt sich der zunehmend eskalierende Konflikt im Norden Israels mit der vom Iran gelenkten libanesischen Hisbollah-Miliz zu einem offenen Krieg? Derzeit bereist der US-Sondergesandte Amos Hochstein den Libanon und Israel, um genau das zu verhindern. Der Biden-Vorschlag für einen Waffenstillstand in Gaza biete auch die Möglichkeit, den Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah beizulegen, so Hochstein.
Auch deswegen gibt es für Aktivist Aviv Gez keine Alternative: «Jede Sekunde, die diese Regierung noch im Amt ist, bringt das Land weiter an den Abgrund.»