Gaza-Proteste : Die Wahl als Prinzipienfrage

Nr. 19 –

Die Proteste an den US-Universitäten setzen Präsident Joe Biden zunehmend unter Druck. Während die Rechten Law and Order fordern, droht der unentschiedene Demokrat auch links wichtige Stimmen zu verlieren. 

Protestierende und Polizei stehen sich vor der University of California in der Nacht auf den 2. Mai gegenüber
Die Polizei geht mit zum Teil exzessiver Gewalt gegen die Protestierenden vor. An der University of California wurde in der Nacht auf den 2. Mai ein Zeltlager geräumt. Foto: David Butow, Laif

Ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen im November werden in den USA Erinnerungen an 1968 wach. An inzwischen über fünfzig Universitäten ist es zu Polizeieinsätzen gegen Student:innen gekommen, die weitestgehend friedlich gegen den Krieg in Gaza und die US-amerikanische Unterstützung Israels protestieren. Dabei wurden bisher über 2500 Personen – darunter auch viele Professor:innen – verhaftet und zahlreiche Studierende suspendiert und exmatrikuliert.

An der Columbia University in New York, wo die Proteste ihren Ausgang genommen hatten, wurde wie schon 1968 das Institutsgebäude Hamilton Hall besetzt – und dann von einer martialisch auftretenden militarisierten Polizei gestürmt und geräumt. Ebenfalls wie 1968 werden die polizeiliche Repression und die gewaltsame Wiederherstellung der Ordnung insbesondere durch rechte Republikaner:innen, aber auch durch panisch agierende Demokrat:innen legitimiert. Schliesslich sei – so wird immer wieder weitgehend evidenzfrei behauptet – der Protest als solcher antisemitisch und gewaltsam, von antiamerikanischen Kräften gesteuert oder gar eine neue Spielart des Terrorismus.

Erinnerungen an Vietnam

Joe Biden, der schon 1968 deutliche Distanz zu seinen protestierenden Altersgenoss:innen gehalten hatte, steht angesichts der Demonstrationen von allen Seiten verstärkt unter Druck. Vermutlich erinnert er sich gut daran, wie Richard Nixon während der Vietnamproteste die Demokrat:innen mit «Law and Order»-Parolen vor sich hertrieb, um dann im Herbst 1968 die Wahlen zu gewinnen. Nach längerem Schweigen verurteilte Biden zunächst nur sehr knapp «antisemitische Proteste» und kritisierte gleichzeitig etwas kryptisch «all jene, die nicht verstehen, was mit den Palästinensern passiert».

Nach der Eskalation an der Columbia University letzte Woche folgte nun eine offizielle Stellungnahme des Weissen Hauses, in der Biden klarstellte, friedlicher Protest müsse zwar geschützt werden, aber eben nur im Rahmen von Recht und Ordnung. «Order must prevail» – Ordnung müsse durchgesetzt werden. Daraus lässt sich ableiten, dass in Bidens Augen die allermeisten Proteste wohl als nicht friedlich zu gelten haben, da sie ja die Ordnung stören und geltende Regeln verletzen – etwa solche, die das Aufstellen von Zelten auf Universitätsgelände untersagen. Für ein Land, in dem vor allem Schwarze und Frauen ihre politischen und sozialen Rechte – soweit sie diese denn haben – primär sozialen Bewegungen, zivilem Ungehorsam und disruptivem Protest verdanken, ist das eine erschreckend geschichtsvergessene Position.

Biden verlor zudem kein Wort über die unverhältnismässige Polizeigewalt, gegen die an den betroffenen Universitäten jeweils Hunderte von Professor:innen ebenso wie die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union und die American Association of University Professors – ein Zusammenschluss von Professor:innen und anderen Akademiker:innen – Einspruch erhoben hatten. Und auch die Frage, ob die Proteste einen Einfluss auf seine Nahostpolitik haben werden, beantwortete er einsilbig mit Nein.

Von Lausanne bis Zürich

Bis Montagabend sollten an der Universität Lausanne die rund tausend Besetzer:innen das Gebäude Géopolis verlassen; bei Redaktionsschluss dauerte die nun sechstägige Besetzung aber immer noch an. Die Aktivist:innen fordern, dass sich ihre Universität für einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza einsetzt und sämtliche Kooperationen mit israelischen Universitäten aussetzt.

Am Dienstagmittag besetzten Studierende zudem Eingangshallen der ETH Zürich und der Universität Genf – in Zürich löste die Polizei den Sitzstreik umgehend auf.

All dies wird die Proteste vermutlich nur weiter anfachen. Denn es bestärkt die Protestierenden in ihrem Eindruck, dass die US-Regierung und grosse Teile der politischen Eliten sowie der Medien an der bisher nur rhetorisch an Bedingungen geknüpften, in der Praxis aber unverändert fortgesetzten Unterstützung Israels festhalten. Während die Kriegsführung in Gaza mit ihren katastrophalen Folgen als immer schwerer zu rechtfertigen erscheint und vor allem die umfassenden US-amerikanischen Waffenlieferungen in der Bevölkerung deutlich an Rückhalt verlieren. Insbesondere junge Wähler:innen lehnen Bidens Nahostpolitik mehrheitlich ab.

Momentan scheint Biden jedoch eher die Sorge umzutreiben, dass er den Republikaner:innen um Trump eine offene Flanke bieten könnte, die – verstärkt durch Sender wie Fox News – sowieso ständig behaupten, das Land versinke unter ihm im Chaos. Vielleicht hofft er, dass auch die jungen Wähler:innen trotz der Entfremdung am Wahltag in ihm das kleinere Übel erkennen und ihm ihre Stimme geben werden, zumal wenn sie primär von ökonomischen Sorgen um Arbeitsplätze und Lebenshaltungskosten motiviert sind. In zweifacher Hinsicht erscheint dies als gewagt.

Zum einen unterschätzen Biden und die Führung der demokratischen Partei wohl noch immer das Ausmass an Enttäuschung, Frustration und Wut angesichts von Tod, Hunger und Vertreibung in Gaza. Es sind ja nicht nur die protestierenden Student:innen, die sich vor allem aufgrund seiner Nahostpolitik von «Genocide Joe» abwenden. Auch innerhalb der Partei vertieft sich die Spaltung – und prominente Figuren wie Bernie Sanders, Ilhan Omar und Rashida Tlaib sowie die College Democrats of America fordern ein Umdenken.

Aus dem Weissen Haus, dem Verteidigungsministerium und dem Wahlkampfteam werden immer wieder anonyme Kritik und öffentliche Rücktritte gemeldet. Allein in Michigan, einem entscheidenden «Swing State», haben bei den Vorwahlen der Demokrat:innen über 100 000 Wähler:innen eine Warnung an Biden ausgesendet und «uncommitted» angekreuzt, zu Deutsch etwa: unentschlossen. Ähnliches passierte in Minnesota, Massachusetts und anderen Staaten, in denen zum Teil Stimmanteile auf dem Spiel stehen, die im November wahlentscheidend sein können. Man sollte nicht unterschätzen, wie sehr es für manche zur Prinzipienfrage geworden ist, ob sie überhaupt wählen gehen.

Zum anderen haben die Republikaner:innen ihre Karten längst auf den Tisch gelegt und verfolgen ihre destruktive Agenda ohne Rücksicht auf Tatsachen oder den Schaden, den sie anrichten, wenn sie ganz aktiv eine Strategie der Delegitimierung von Protest und der Polarisierung betreiben, die das Risiko einer Eskalation der Gewalt an den Unis und darüber hinaus signifikant erhöht. Auch die exzessive Polizeigewalt steigert das Eskalationsrisiko, wie etwa der organisierte Angriff auf das Protestcamp an der University of California zeigte.

Aggressiver Backlash

Der republikanische Frontalangriff auf die Autonomie öffentlicher wie privater Hochschulen und auf das Recht auf Protest und Dissens muss als Teil einer umfassenderen Strategie verstanden werden, die nichts mit der Bekämpfung des tatsächlich existierenden Antisemitismus oder mit der Sicherheit an den Unis zu tun hat. Vielmehr dient die Skandalisierung der Mobilisierung der eigenen Wähler:innen, deren Angst vor Chaos und Terrorismus mit Hass auf Unis als vermeintliche Stätten der Indoktrination fusioniert wird. Und sie zielt auf die Spaltung der Demokrat:innen ab.

Darüber hinaus sind die nur notdürftig verhüllte Repression gegen Protestbewegungen und der Angriff auf Universitäten als Orte des Lernens und der kritischen Wissensproduktion Teil eines autoritären politischen Projekts, das aggressiv den Rückbau emanzipatorischer Errungenschaften in allen Bereichen betreibt und die Widerstände dagegen zu schwächen versucht. Daher sollte der Backlash gegen die Proteste – und der Unwille der Demokrat:innen, sich den autoritären Tendenzen entschieden entgegenzustellen – auch ausserhalb der USA für Beunruhigung sorgen.

«The whole world is watching», skandierten 1968 die Demonstrant:innen vor der Democratic National Convention in Chicago, während sie von der Polizei verprügelt und verhaftet wurden. Wie es die Geschichte will, tagt die Democratic National Convention auch diesen August wieder in Chicago, um Biden formal zum Kandidaten zu küren.

Robin Celikates ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin und Kodirektor des Center for Social Critique. Im laufenden akademischen Jahr ist er Gastwissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, USA. 2016 war er Gastwissenschaftler an der Columbia University.