Universitätsbesetzungen: Von wegen Debattenforum
In der ganzen Schweiz haben Student:innen Unigebäude besetzt, um gegen den Krieg in Gaza zu protestieren. Im Zentrum ihrer Forderungen: ein Boykott israelischer Universitäten. Die Reaktionen darauf fallen erstaunlich gehässig aus.
Wer kam eigentlich auf diese Idee? In Deutschschweizer Medien wird derzeit mantraartig wiederholt, dass eine Universität kein politischer Ort und Forschung irgendwie neutral sei. Auch unter dieser Prämisse werden die Besetzungen mehrerer Schweizer Universitäten in den letzten Tagen scharf angegriffen. Zu lesen war, die Proteste würden den «Prüfungsbetrieb stören» sowie «den Ruf der Universitäten als Debattenforum beschädigen». Die NZZ verlangt, dem Treiben müsse jetzt ein Ende gesetzt werden. Sie unterstellt den Protesten pauschal eine «antisemitische Grundhaltung» – und beraubt sie damit jeder Legitimation.
Wie schrill die laufende Debatte ist, wird schnell klar, wenn man an den besetzten Unis nach den Gründen für die Proteste fragt. «Im Gazastreifen haben die israelischen Streitkräfte alle zwölf Universitäten zerstört sowie fast alle Schulen und Bibliotheken», sagt am Montagvormittag ein zwanzigjähriger Jusstudent in Basel. Er ist Mitglied des Medienteams und händigt auf der Treppe zum Bernoullianum ein Flugblatt aus. Gerade haben mehrere Dutzend junge Student:innen das Universitätsgebäude besetzt. «Gemäss der Uno sind bisher fast 5500 Studierende und 100 Uniprofessor:innen getötet worden», sagt der Student weiter. «Und die einzige Reaktion der Uni Basel auf diese gezielte Zerstörung der Bildungsinfrastruktur und der Hochschulen ist Schweigen. Das ist unerträglich.»
Die Besetzer:innen fordern etwa die Aufnahme und die Unterstützung von palästinensischen Studierenden und Forschenden durch die Basler Universität. Und vor allem: einen akademischen Boykott. Konkret: Die «sofortige Einstellung der Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen, bis Israel einen dauerhaften Waffenstillstand, die Einhaltung des Völkerrechts und das Ende der Apartheid akzeptiert», wie es auf dem Flugblatt heisst.
Aggressive Vorwürfe
Der akademische Boykott steht im Zentrum der Besetzungen in Lausanne, Genf, Bern, Basel, Fribourg und Zürich, und er erhitzt die Gemüter. Widerlich und unverschämt sei die Forderung, findet etwa FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen. Joseph Daher sieht die Sache anders. Der Historiker steht vor dem Eingang des besetzten Géopolis-Gebäudes in Lausanne. Er ist fast jeden Tag hier. Daher ist in Lausanne Gastprofessor, er forscht schon seit Jahren zur politischen Ökonomie des Nahen Ostens und des politischen Islam.
«Man muss sich schon ernsthaft mit dem Inhalt dieser Forderung beschäftigen», sagt Daher. «Dass sie sich gegen Institutionen und nicht gegen Einzelpersonen richtet, ist elementar.» Von den Universitäten in Israel hätte sich noch keine gegen das Vorgehen des israelischen Staates in Gaza ausgesprochen. Er spricht von einer beängstigenden Aggressivität der Medien in dieser Frage, von undifferenzierten Vorwürfen, die zuletzt auch direkt gegen ihn gerichtet gewesen seien.
Der schwerwiegendste: Die Proteste seien antisemitisch. Ein Vorwurf, von dem sich Joseph Daher deutlich distanziert: «Das trifft mich sehr: Er widerspricht allem, wofür ich einstehe, meinen antirassistischen Werten – in keiner Weise richtet sich unser Protest gegen die jüdische Bevölkerung», sagt er.
Das betonen auch die Lausanner Aktivist:innen. Im Innern des Géopolis-Gebäudes dominiert mit Ausnahme der Palästinaflaggen die Ästhetik herkömmlicher linker Räume. Es gibt ein «Awareness-Konzept», Sticker, die für die «Queer Liberation» werben, an einer Wand hängt ein kleines Transparent, gemäss dem keinerlei Antisemitismus toleriert werde. An einer Medienkonferenz betonten die Besetzer:innen unlängst, dass sie mit dem Slogan «From the river to the sea» die Freiheit aller Menschen fordern würden. Und als vergangene Woche ein «Blick»-Journalist bekannt machte, dass zwei Besetzer:innen in Lausanne dem hamasfreundlichen libanesischen Fernsehsender Al Mayadeen ein Interview gegeben hatten, distanzierten sich die Besetzer:innen kurz darauf davon. Das Interview sei nicht mit der Pressegruppe abgesprochen gewesen. Sie seien mit den Positionen des Senders nicht einverstanden.
In Basel stellt ein sogenannter «Code of Conduct» ebenfalls klar, dass «Antisemitismus nicht toleriert wird». An erster Stelle steht aber auch: «Du bist hier aus Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung und gegen den Genozid in Gaza.» Die ausschliesslich propalästinensische Ausrichtung fällt auf.
Eine Diskursumkehrung
Der Antisemitismusvorwurf gegen die Proteste wird nicht nur von Medien wie der NZZ vorgebracht. Auch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) übt Kritik – und benennt etwa die Losung «From the river to the sea» als grenzüberschreitenden antisemitischen Ausfall.
Klar ist aber auch, dass der konservative SIG in keiner Weise für die jüdische Bevölkerung als Ganzes spricht. Das betont Guy Bollag. Er ist Mitglied der Organisation Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina (JVJP), die sich zuletzt ebenfalls öffentlich zu Fragen des Antisemitismus geäussert hat. Seit 48 Jahren sei er schon politisch aktiv, sagt der 69-Jährige. «In all den Jahren war die Situation noch nie so schlimm wie heute.» Die Besetzungen der Universitäten unterstützt er. Den akademischen Boykott hält er für ein legitimes Mittel, denn israelische Universitäten seien seit je an der «Unterjochung» der Palästinenser:innen beteiligt, so Bollag, sei es über die Entwicklung militärischer Technologien oder mit rechtlichen und ethischen Rechtfertigungen für diese Unterdrückung.
Bollag spricht von einer medialen Kampagne, die darauf abziele, berechtigte Kritik zu delegitimieren. Nicht zuletzt lenke der aktuelle Diskurs vom Problem ab, dass sich viele jüdische Menschen in der Schweiz zu Recht bedroht fühlten. «Wir werden bedroht – vor allem von rechts, aber es gibt auch unter Linken Antisemit:innen», so Bollag. Es sei deshalb ein ernst zu nehmendes Problem, wenn sich jüdische Menschen, etwa an den Universitäten, unsicher fühlten. «Wer ‹From the river to the sea› fordert, muss auch erklären, was er oder sie damit meint», sagt er – wie es die Student:innen in Lausanne getan haben. «Und zur Freiheit der Menschen in ganz Israel/Palästina gehört auch die Freiheit der festgehaltenen Geiseln der Hamas und der willkürlich inhaftierten Gefangenen.»
Im Rahmen der jetzigen Unibesetzungen finden solche Feinheiten nicht immer Platz. Auch die Forderungen der Student:innen entwickeln sich teilweise in eine problematische Richtung: In Bern verlangten Student:innen zuletzt einen kompletten Boykott israelischer Güter und Unternehmen. Und wenn etwa die Wochenzeitung «Tachles» berichtet, dass sich jüdische Studierende von den Protesten bedroht fühlen, ist das beunruhigend. Die Besetzer:innen legen auffällig wenig Wert auf eine zentrale linke Errungenschaft der letzten Jahre: nämlich die Erkenntnis, dass Diskriminierung nie nur eine Frage der Absicht, sondern auch eine der Erfahrung der Betroffenen ist. Ihnen gegenüber steht eine bürgerliche Presse, die eine Diskriminierungssensibilität einfordert, die sie in ihren Feuilletons bis vor kurzem noch hämisch angriff.
Ängstliche Univerantwortliche
Man dürfe bei all dieser Gehässigkeit aber auch nicht vergessen, dass die meisten der Besetzer:innen gerade mal Anfang zwanzig seien, sagt Joseph Daher in Lausanne: «Sie sind jung, engagiert und interessiert.» Er spricht von einer neuen politischen Generation. «Es gibt noch viel Geschichte zu lernen und viele Erfahrungen zu machen», sagt Daher auch. «Aber dafür sind wir an einer Universität ja schliesslich da.»
Eine Studentin in Basel, auch sie gehört zum Medienteam, sagt: «Wir wollen einen fairen Dialog mit den Universitätsverantwortlichen, dass sie sich mit unseren Forderungen und Anliegen wenigstens auseinandersetzen.» An einem fairen Dialog oder einer kritischen Debatte sind die Universitätsleitungen aber offenbar nicht interessiert.
Bei Redaktionsschluss war in Basel ein Polizeieinsatz gegen die Aktivist:innen in Gang. Die Besetzungen in Bern und Zürich waren bereits polizeilich geräumt – unter Zustimmung der Unileitungen. Auch in Genf ist der Protest vorbei; es kam zu Festnahmen. So sind es letztlich gerade nicht die studentischen Besetzer:innen, die den Ruf der Universitäten als Debattenforum schädigen beziehungsweise verhindern. Es sind die ängstlichen Verantwortlichen in den Rektoraten, die sich dem reaktionären medialen und politischen Druck beugen und auf Repression statt Dialog setzen.