«Free Gaza»-Proteste : «Was hier passiert, ist Irrsinn»
Die USA erleben die grössten Student:innenproteste seit dem Vietnamkrieg. An der Columbia-Universität eskalierte die Lage diese Woche.
Wie wird die Columbia-Universität einst auf diese Ereignisse zurückblicken?
In der Nacht auf den 30. April 2024 besetzten Student:innen die Hamilton-Halle mit Decken und Schlafsäcken, verbarrikadierten die Eingänge mit Holztischen und benannten die Halle in «Hind’s Hall» um – zu Ehren von Hind Rajab, einer Sechsjährigen, die vom israelischen Militär getötet wurde, nachdem sie als Einzige ihrer Familie einen Panzerbeschuss auf ein Fahrzeug überlebt hatte.
Am Tag zuvor hatte Minouche Shafik, die Präsidentin der New Yorker Eliteuniversität, mitgeteilt, die Verhandlungen zwischen der Universitätsleitung und den Teilnehmer:innen des Protestcamps auf dem Campus seien gescheitert. Den Demonstrant:innen setzte sie ein Ultimatum, ihre Zelte zu räumen – wer bleibe, würde suspendiert werden.
Das Ultimatum verstrich ungenutzt. Worauf die Polizei in der Nacht auf Mittwoch das besetzte Gebäude stürmte und das Zeltlager räumte. Dutzende Student:innen wurden festgenommen. Was als friedlicher Protest begann, endete in Chaos und Gewalt.
Die grössere Geschichte
Ein paar Tage vor der Eskalation sitzt Greg Khalil vor dem Pulitzer-Gebäude der Journalismusschule und spricht in geschliffenen Sätzen. «There is a much bigger story.» – Die eigentliche Geschichte sei viel grösser, beginnt er seine Erzählung. Er unterrichtet an der Fakultät, als einer der wenigen Dozent:innen der Universität entstammt er einer palästinensischen Familie.
Als die Student:innen der Hochschule in Manhattan vor zwei Wochen das propalästinensische Zeltlager errichtet hatten, liess es die Unipräsidentin Shafik am Tag darauf von Polizist:innen in Kampfausrüstung auflösen. Mehr als hundert friedliche Demonstrant:innen wurden verhaftet und vom Unterricht suspendiert. Einen Tag nach dem Abriss bauten die Studierenden die Zeltstadt auf der gegenüberliegenden Rasenseite wieder auf.
Seitdem hat sich ein Dominoeffekt in Gang gesetzt, dessen Wucht noch nicht absehbar ist: An Universitäten in zwei Dutzend Bundesstaaten gibt es Proteste, Polizeieinsätze und Massenverhaftungen. Politiker:innen wie US-Senator Bernie Sanders haben ihre Unterstützung für die Proteste ausgesprochen. Kongressabgeordnete wie Ilhan Omar und Alexandria Ocasio-Cortez haben die Zeltstadt in New York besucht.
Die Protestierenden werfen der US-Regierung wegen der Militärhilfe für Israel die Beteiligung an einem Völkermord vor und fordern von ihren Universitätsleitungen, Investitionen in Firmen zu stoppen, die von Israels Krieg in Gaza profitieren. Allein die Columbia-Universität hat ein Stiftungsvermögen von mehr als 14 Milliarden US-Dollar, das sie auch gewinnbringend anlegt.
«Ich bin stolz auf diese jungen Menschen», sagt Khalil. «Ja, sie machen Fehler. Aber das sind die klügsten Köpfe Amerikas, und sie kämpfen für Gerechtigkeit.» In den Protesten beobachtet er neue Allianzen zwischen jüdischen und arabischen Student:innen, Zusammenarbeit und Solidarität.
Die Interessen der Geldgeber
An der Columbia zeigt sich ein Dilemma, vor dem Universitäten im ganzen Land stehen. Sie müssen entscheiden, was Vorrang hat: Recht und Ordnung oder das Recht der Studierenden, gegen das Leid in Gaza zu protestieren. Gleichzeitig häufen sich Berichte über Vandalismus, Hassrede, antisemitische und islamophobe Vorfälle. Immer wieder soll das Massaker der Hamas am 7. Oktober relativiert oder gerechtfertigt worden sein. Auch gegen einen proisraelischen Professor, der in sozialen Medien Hetze verbreitet haben soll, wird ermittelt.
Dieser Konflikt, sagt Greg Khalil, habe nicht über Nacht angefangen. Bis zum 7. Oktober habe man das Thema Nahostkonflikt vermeiden wollen, weil es als «zu kontrovers» angesehen worden sei. Danach sei die Universitätsleitung nur bereit gewesen, über Antisemitismus zu sprechen – ohne Menschenrechte zu benennen. «In welcher Gesellschaft leben wir, wenn wir unfähig sind, Journalist:innen dazu auszubilden, Fakten, unterschiedliche Narrative und Geschichten zu sehen?»
Unipräsidentin Shafik interessiere weder die Sicherheit ihrer jüdischen noch jene ihrer palästinensischen Student:innen, die ebenfalls unter Angriffen litten, sagt Khalil. Es gehe ihr bloss darum, die Geldgeber der Universität zu befriedigen – was den Antisemitismusvorwurf zum politischen Spielball mache. Wenn eine Universität politische Forderungen ihrer Geldgeber berücksichtigen müsse, setze sie ihre akademische Unabhängigkeit aufs Spiel.
Khalil deutet auf die Treppen vor der grossen Bibliothek. Im Januar beobachtete Khalil dort einen Protest mit israelischen und palästinensischen Fahnen – ein ungewöhnlicher Anblick. Kurze Zeit darauf verschwanden die Demonstrant:innen. Sie sollen von zwei israelischen Studenten mit Skunk angegriffen worden sein. Skunk ist ein nichttödliches, aber stark übel riechendes und häufig von der israelischen Armee gegen Palästinenser:innen eingesetztes Kampfmittel. Fünfzehn Student:innen mussten im Spital behandelt werden. Die Unileitung spielte den Angriff auf die «unangemeldete propalästinensische Demonstration» herunter. Der Fall werde untersucht, hiess es bloss.
Die Columbia blickt auf eine lange Protestgeschichte zurück. 1968 besetzten Student:innen aus Protest gegen den Vietnamkrieg fünf Universitätsgebäude. Sie nahmen einen Dekan in derselben Hamilton Hall, die nun wieder besetzt wurde, als Geisel und brachten den Universitätsbetrieb zum Stillstand. Eine Woche nach Beginn der Besetzung stürmte die Polizei damals die Gebäude. 700 Studierende wurden festgenommen, 148 verletzt.
Der Präsident der Universität musste daraufhin zurücktreten. Columbias Ruf litt, und die Universität reagierte mit Reformen, die Freiräume für Aktivismus der Student:innen sicherstellten. Niemals waren diese Freiräume so bedroht wie in den vergangenen zwei Wochen.
In den Stunden der Verbarrikadierung wird Dozent Greg Khalil der Einzige sein, der noch auf Nachrichten antwortet: «Ich bin nicht vor Ort, aber was passiert, ist Irrsinn», schreibt er. Am 15. Mai soll zudem auf der Protestwiese die Abschlussfeier der Columbia, das Highlight des Jahres, stattfinden – ob diese Feier abgehalten wird, ist in diesen Tagen fraglich.
Workshop im «Safe Space»
Vor der Räumung im Protestlager: Auf der Wiese veranstalten Student:innen Workshops – etwa zum Genozid an den Armenier:innen, zum Konflikt in Tigray, zu Antisemitismus. Ein Mädchen mit Strubbelhaaren und einer Kippa im Wassermelonenlook, dem Symbol für palästinensischen Widerstand, spricht darüber, wie sehr der Holocaust immer noch im kollektiven jüdischen Gedächtnis präsent sei. Auch andere erzählen ihre Familiengeschichten. Den 7. Oktober erwähnt niemand.
Jemand fragt, warum die antisemitischen Vorfälle der vergangenen Tage nicht öffentlich verurteilt wurden. Vor dem Campusgelände hatte jemand einer jüdischen Gruppe zugeschrien: «Geht doch zurück nach Polen.» Ausserdem kursiert ein Video, in dem eine mit Palästinensertuch vermummte Demonstrantin vor proisraelischen Demonstranten steht und ein Plakat hält. Darauf steht: «Al Kassams nächstes Ziel». Die Kassam-Brigaden sind der militärische Arm der Hamas in Gaza.
«Gibt es einen Weg, militanten Widerstand zu leisten, ohne antisemitisch zu sein?», fragt ein Protestteilnehmer.
Die Gesprächsrunde verläuft im «Safe Space» und ohne Konfrontation, allerdings auch, ohne kontroverse Themen abzuhandeln. Alle sind höflich, alle hören einander zu. «Nie habe ich mich sicherer gefühlt als hier», sagt die junge Frau mit der Wassermelonenkippa. Im Protestcamp habe sie Gemeinschaft und Freundschaft gefunden.
Als «viel zu simplistisch» wird Aharon, ein linker und jüdisch-orthodoxer Philosophiestudent aus Israel, die Diskussion am darauffolgenden Tag kritisieren. Er leitet die Campusinitiative «Jews for Ceasefire» und arbeitete mit dem Protestcamp an einer Strategie, mit der Teilnehmende für antisemitische Äusserungen verantwortlich gemacht werden sollten – allerdings besteht auch unter Jüd:innen kein Konsens darüber, was als antisemitisch gelten soll und was nicht.
Sharif (31), Filmstudent, sitzt vor dem Eingang in die Zeltstadt. Die Dämmerung bricht über den Campus herein. Gleich werden sich muslimische Demonstrant:innen zum Gebet auf einer blauen Plastikplane einfinden.
Sharif stammt aus einer ägyptischen Familie und wuchs in New Jersey auf. Er sagt, er habe kein Interesse an einer Zusammenarbeit mit Zionist:innen. Er trägt eine Kufiya um seinen Kopf gewickelt und auch im Dunkeln noch eine Sonnenbrille, was ihn cool, aber auch unnahbar erscheinen lässt. Jede Nacht bleibt er bis drei Uhr morgens hier, führt Medientrainings mit den Protestierenden durch, beantwortet Fragen von Journalist:innen.
Viele Zionist:innen auf dem Campus hätten in der israelischen Armee gedient, sagt er. Sie würden Demonstrant:innen angreifen und dann Antisemitismus beklagen. «Du kannst nicht den Genozid unterstützen und dann behaupten, du fühlst dich unsicher.»
Sharif sagt auch, er hadere damit, die Hamas als Terrororganisation zu bezeichnen, und sehe Israel dafür als Terrorstaat. Die Anschuldigungen, dass israelische Frauen am 7. Oktober vergewaltigt worden seien, hält er für unwahr. In Gaza hingegen würden israelische Soldaten tatsächlich Vergewaltigungen verüben. Überhaupt konsumiert er Nachrichten nicht aus «Mainstreammedien», sondern nur aus den sozialen Medien.
Widerspricht man ihm, verliert er das Interesse am Gespräch, wird wortkarg, muss plötzlich gehen; es sei schon spät.
Dezidiert antizionistisch
Die Protestierenden behaupten, antisemitische Vorfälle ernst zu nehmen – und doch fühlen sich jüdische Israelis, selbst die ganz Linken unter ihnen, nicht wohl. Geht das: inklusiv sein zu wollen und gleichzeitig all jene Jüd:innen auszuschliessen, die mit zionistischen Ideen aufwuchsen?
Allie (24), Masterstudentin in Public Health, meidet die Gegend des Universitätsgeländes seit dem 7. Oktober. Sie hat keine Angst um ihre körperliche Unversehrtheit. Aber sie fühlt sich dort nicht wohl. Sie sitzt in einem Café ausserhalb des Campus und nippt an ihrer Cola. Sie tastet sich langsam im Gespräch vor, wählt ihre Sätze behutsam.
Allie ist in einer zionistischen Jugendbewegung aufgewachsen. Soweit sie zurückdenken kann, beschäftigt sie sich mit Israel, einmal hat sie das Land besucht. «Ja, vielleicht habe ich nur eine Seite gesehen, aber trotzdem. All diese Protestierenden sind mit dem Krieg über Nacht Nahostexperten geworden und wissen jetzt über die Komplexität dort Bescheid?»
Sie fühle Empathie gegenüber Israelis wie Palästinenser:innen, sagt sie. Aber nach dem 7. Oktober habe sie gehört, wie ein Pro-Palästina-Komitee an der Uni das Gemetzel der Hamas als «Gegenoffensive» bezeichnet habe. Sie selbst habe keine konkreten Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht, sagt Allie. Es sei mehr ein Gefühl.