Zum Muttertag: Kann ich, will ich, muss ich?
Überforderung, Reue, Verlust und Weigerung: vier Berichte über Mutterschaft jenseits der Idealisierung.
Wer an eine Mutter denkt, denkt typischerweise nicht in viele Richtungen. Eine weiblich gelesene Person mit zwei Kindern, dazu die verzerrten Vorstellungen mütterlicher Eigenschaften: Häuslichkeit, Sanftmut, Selbstlosigkeit. Der Begriff der Mutter geht immer mit einer Typisierung einher. Im Roman «Mutterschaft» fragt die kanadische Schriftstellerin Sheila Heti: «Will ich Kinder, weil ich als die bewundernswerte Frau bewundert werden möchte, die Kinder hat? Weil ich als normale Frau betrachtet werden oder weil ich zur besten Sorte Frau gehören will, derjenigen, die nicht nur Arbeit hat, sondern auch den Wunsch und die Fähigkeit, zu nähren, einen Körper, der Babys produzieren kann, und mit der ein anderer Mensch Babys zeugen möchte?»
Wer kein Kind wolle, so Heti, wolle nicht zur Vorstellung anderer von sich werden.
Mutterschaft ist keine Rolle, deren Ausgestaltung jede Mutter für sich selbst bestimmt, sondern eine Reaktion auf geschlechtertradierte Bilder, die schwer zu überwinden sind. Umso wichtiger also, dass Mutterschaften sichtbar gemacht werden, deren Realität nicht mit jener auf den Muttertagspostkarten übereinstimmt. Die das Bild der Mutter (oder Nichtmutter) nicht verklären, sondern erweitern. Alles Gute zum Muttertag!
Jana*: «Ich liebe mein Kind, aber ich hasse das Muttersein»
Letztes Jahr waren wir bei Freunden essen, als jemand sagte: «Ohne Kinder hat man doch irgendwie eine Lücke im Leben.» Alle am Tisch stimmten zu, ich aber blieb still. Bei mir ist das ganz anders. Das Bedauern kam nicht ohne, sondern mit dem Kind.
Ich bin aufgewachsen mit der Vorstellung, dass kinderlose Frauen unglücklich seien. Die hat man immer ein bisschen bemitleidet: Die Arme, die hat keinen Partner, die Arme, die kann keine Kinder bekommen. Nie wurde reflektiert, dass Kinderlosigkeit gewollt oder auch einfach okay sein könnte. Als wären Kinder die Erfüllung eines Frauenlebens. Um Männer gings in diesen Diskursen nie.
Mutter sein, dachte ich, gehört zum Leben dazu. Die Möglichkeit, glückliche Nichtmutter zu sein, stand nicht im Raum. Aus diesem Modus heraus entschied ich mich für ein Kind. Nicht, weil ich es wirklich wollte. Aber was bedeutet das denn überhaupt: ein Kind wollen? Man kann ja nicht wissen, was es mit einem macht. Das ist das Fiese am Kinderkriegen: Wie einschneidend es sein kann, merkt man erst, wenn mans selbst erlebt.
Als ich schwanger wurde, freute ich mich sehr. Der Bauch, die Brüste, mein ganzer Körper fühlte sich toll an. Zweifel spürte ich in dieser Phase keine. Als mein Sohn etwas zu früh auf die Welt kam, musste er für ein paar Wochen auf die Neonatologie. Das war ein Stress: die Sorgen ums Kind, das viele Abpumpen, wo ich mich doch eigentlich hätte ausruhen müssen. Als wir ihn nach ein paar Wochen nach Hause nehmen konnten, wünschte ich mir Zeit mit ihm und meinem Mann. Besuch empfingen wir wenig.
Ich hatte zuvor immer diesen Satz gehört: «Wenn das Kind einmal auf der Welt ist, ist es das Schönste der Welt.» Für mich traf der Satz nicht zu. Ich fand das Muttersein überhaupt nicht schön, im Gegenteil: Die Babyzeit empfand ich als isolierend, langweilig und streng zugleich. Ich fühlte mich wie überfahren. Und dachte dabei ständig, irgendwas müsse falsch sein mit mir: Wieso spürte ich dieses vielbeschworene Mutterglück nicht?
«Ist es nicht das Tollste überhaupt?» Auch diesen Satz hörte ich oft. Und dann erwartungsvolle Blicke, als müsse ich die Erzählung der glücklichen Mama aufrechterhalten. Dabei schrie alles in mir: Nein, es ist schrecklich! Das ewige Umsorgen, die fehlende Zeit für mich, der Mann, der nach sechs Wochen wieder arbeiten ging, unsere Rollenverteilung, die sich anfühlte, als wären wir in den Fünfzigern gefangen.
Aber es wurde besser. Heute ist mein Sohn zweieinhalb, er redet ununterbrochen, seine Persönlichkeit kommt immer mehr heraus. Ich sage ihm jeden Tag, wie sehr ich ihn liebe. Und das stimmt auch. Ich liebe ihn über alles. Trotzdem habe ich dieses andere Gefühl in mir: Wäre ich doch nie Mutter geworden.
Mein Mann hätte gern ein zweites Kind, ich nicht. Jetzt wirds immer schöner, wieso nochmals bei null anfangen? Mit Windeln und Brei und dem ganzen Zeug? Da schnürt es mir den Hals zu. Aber ich bin richtig froh um meinen Partner. Er ist ein toller Vater, liebevoll und zugewandt, der die Verantwortung nicht scheut. Dafür bin ich extrem dankbar, auch wenn es eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Er kann meine Gefühle gut nehmen, wie sie sind, und lässt mir Zeit für mich.
Es gibt ganz viele Momente in meinem Leben, in denen ich wünschte, kein Kind zu haben. Ich arbeite im Gesundheitssektor und hätte zum Beispiel gern mal für Ärzte ohne Grenzen einen Einsatz gemacht. Im Moment geht das schlecht, ich habe mit der Mutterschaft eine Verantwortung, der ich mich nicht entziehen will. Aber ich trauere manchen Träumen nach. Und es macht mich traurig, dass ich mir dieses Betrauern abspreche. Mein Kind lehre ich doch auch, dass es alle Emotionen zulassen darf.
Ich habe ein paar Freundinnen, mit denen ich ehrlich über meine Gefühle reden kann, aber das Wort «bereuen» habe ich bisher nie in den Mund genommen, auch wenn es auf mich zutrifft. Das traue ich mich nicht.
Ich glaube, meine Gefühle wären heute anders, wenn das Bereuen ein Teil der Mutterschaft sein dürfte. Aber es fühlt sich an, als wäre es nicht erlaubt. Als würde ich damit gegen ein Gesetz verstossen. Oft wird gesagt, junge Familien bräuchten mehr Unterstützung. Das stimmt natürlich. Die Strukturen in der Schweiz sind in keiner Weise auf Eltern ausgerichtet, das Gerede von Vereinbarkeit ist ein Witz. So was macht mich richtig hässig. Es führt aber auch dazu, dass man unglücklichen Müttern, die den Mut aufbringen, über ihre Gefühle zu reden, weismachen will, sie würden bloss unter den Strukturen leiden. Das greift für mich zu wenig weit. Ich für mich sage: Ich liebe mein Kind. Aber das Muttersein – das hasse ich.
* Jana heisst in Wirklichkeit anders. Sie möchte lieber anonym bleiben.
Luisa: «Fallen wir durch das Elternwerden nur noch mehr in diese traditionellen Geschlechterrollen?»
Als Hebamme weiss ich sehr viel über Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Aber ich hatte unterschätzt, wie es sein würde, so viel und gleichzeitig so wenig darüber zu wissen, was da alles auf mich zukommen würde.
In meiner Schwangerschaft war ich in einer Art Schwebezustand. Durch meine Arbeit wusste ich, was alles schieflaufen konnte, und obwohl es meiner ungeborenen Tochter gut ging, war ich oft verunsichert. Aber die Geburt im Geburtshaus verlief toll.
Ich hatte viel Respekt vor dem Wochenbett und dem Babyblues, der meist so drei Tage nach der Geburt eintritt. Der war dann auch richtig crazy. Eine Minute war ich voll am Heulen, Gedanken wie «Wow, wir haben jetzt ein Kind» und «Ich vermisse meinen Bauch» und «Wieso habe ich meine Schwangerschaft nicht mehr genossen?», das ganze Programm. Und im nächsten Moment so: «Okay, das war jetzt dieses Hormonchaos.» Und fünf Minuten später wieder komplett am Ende. Ich konnte wahnsinnig schnell vom einen in den anderen Modus wechseln. Das war schon sehr eindrücklich.
Dummerweise muss man ja genau in dieser Babyblueszeit wieder nach Hause. Ich weiss noch, wie ich aus unserer Höhle im Geburtshaus hinaustrat und dachte, wie schräg und laut und wuselig all die Menschen sind. Ich war überhaupt nicht bereit, wieder im Aussen zu sein.
Zu Hause habe ich durchgeheult, wenn mein Freund jeweils eine halbe Stunde mit dem Hund draussen war. Ich lag einfach da, starrte mein Kind an und weinte. Das war nicht immer nur ein trauriges Weinen. Ich war schlicht überwältigt. Von sehr vielen Dingen gleichzeitig.
Ich hatte Ängste, dass sich nicht alles gut rückbilden würde, dass ich nicht genug Milch hätte, dass meine Tochter zu gelb sei. Ich vermisste auch ganz stark mein Leben von früher. Ich war superstolz, dass die Geburt so schön gewesen war, nachdem ich die Schwangerschaft als so streng empfunden hatte. Aber mir wurde auch schmerzhaft bewusst, dass ich nicht mehr so würde leben können, wie ich allein es wollte.
Zum Glück kam während dieser Zeit oft die Wochenbettdoula vorbei, die wir organisiert hatten. Brachte stärkende Brühen und Gebäck, machte ein bisschen Haushalt und tauschte sich mit mir aus. Eine Doula ist eine Fachperson, die Frauen vor, während oder nach der Geburt unterstützt. Sie war eine Konstante im Hintergrund, die viel Ruhe reinbrachte.
In der zweiten oder dritten Woche wurden meine Ängste um mich und meine Tochter weniger – dafür sorgte ich mich jetzt um die Paarbeziehung. Dass dieses Kinderhaben uns voneinander entfernen würde, dass ich nicht mehr liebenswert sei, weil ich mich so sehr ums Baby kümmern musste. Dass er jetzt den ganzen Haushalt machen musste, sich nerven würde und dann plötzlich keine Lust mehr hätte.
Aus diesen Sorgen bin ich immer noch nicht ganz raus. Unser Baby ist jetzt fünf Wochen alt, es schläft ganz okay, und mir geht es auch körperlich wieder gut. Aber ich merke, wie Dinge, die früher für kleine Reibereien gesorgt haben, jetzt plötzlich grösser werden. Das mit dem Haushalt zum Beispiel. Früher habe ich den eher gemacht, weil ich weniger lohnarbeite als mein Partner. Jetzt geht das nicht mehr. Ich spüre auch die Mental Load – zum Beispiel wenn ich versuche, das Baby zu stillen, und mein Freund mich fragt, was wir im Kühlschrank haben und was er kochen soll. Keine Ahnung, was er kochen soll, ich weiss ja die meiste Zeit nicht mal, ob ich Hunger habe!
Wir haben uns immer über Gleichberechtigung ausgetauscht und dann aus Bequemlichkeit trotzdem nicht viel geändert. Jetzt merken wir, dass mit dem Baby gewisse Dinge nicht mehr möglich sind. Wir müssen uns mehr aufeinander zubewegen. In dieser Sorge bin ich momentan: Schaffen wirs, wirklich was zu ändern, oder fallen wir durch das Elternsein nur noch mehr in diese traditionellen Geschlechterrollen?
Wir werden es sicher herausfinden. Als Hebamme weiss ich: Diese Gedanken, die krasse Gleichzeitigkeit, der Hyperfokus, die Craziness – alles total normal im Wochenbett. Es braucht einfach seine Zeit. Als Mutter bin ich trotzdem gefordert.
Linda: «Ich will sagen dürfen, dass ich keine Kinder will»
Ich wusste recht früh, dass ich keine Mutter sein wollte. Aber dass ich einmal einen Instagram-Account mit über 11 000 Follower:innen haben würde, in dem ich über mein Leben ohne Kinder rede, hätte ich nie gedacht. Ich freue mich sehr darüber, dass dieses Thema solchen Anklang findet. Aber es zeigt mir auch, wie tabuisiert das weiterhin ist: keine Kinder haben zu wollen.
Mir schreiben täglich Frauen, die sich nicht trauen, laut zu sagen, dass sie sich ein Leben mit Kindern nicht vorstellen können. Die in ländlichen Gebieten leben und Angst vor der Reaktion der Menschen im Dorf haben. Oder die verunsichert sind, weil sie sich überlegen, ob sie wirklich Kinder haben wollen.
Diese Gefühle kenne ich. Meine Mutter hat mich immer machen lassen, aber von Bekannten der Familie hörte ich öfter die klassischen Sprüche: «Das kommt schon noch», «Das ist doch das grösste Glück», «Warte nur, mit dem richtigen Partner wirst du das schon wollen». Worauf ich dachte, irgendwas sei wohl nicht in Ordnung mit mir. Ich fühlte mich wie eine Aussenseiterin. Als würde mir eine lebenswichtige Eigenschaft fehlen. Hätte ich damals Vorbilder gehabt, Frauen in Zeitschriften oder im Fernsehen gesehen, die keine Kinder haben und glücklich damit sind – ich wäre nicht so lange verunsichert gewesen. In mir drin wusste ich nämlich immer ganz genau, was für mich stimmt.
Trotzdem hatte ich eine Phase, in der ich mir intensiv Gedanken machte. Als Menschen in meinem Umkreis, die früher immer gesagt hatten, sie wollten keine Kinder, plötzlich überlegten, welche zu bekommen, fing ich an, mich zu hinterfragen. Man kann sich also täuschen, dachte ich. Und fragte mich, ob ich mir meinen fehlenden Kinderwunsch womöglich nur eingeredet hatte.
Als ich mit meinem jetzigen Partner zusammenkam, tauschten wir uns immer mal wieder über das Thema aus. Für uns war von Anfang an klar: Wir können uns ein Leben ohne Kinder vorstellen. Ich habe mich dann voll ins Thema begeben, habe superviel über ehrliche Elternschaft gelesen, mir Wissen angeeignet und Podcasts angehört. Ich wollte wissen, wie Menschen das Elternwerden erfahren. So bin ich, ich gehe gerne analytisch an Dinge ran. Nach diesem Deep Dive wusste ich: In mein Leben passt kein Kind. Meinem Partner ging es gleich.
Ich glaube, ich rüttle mit meiner Ehrlichkeit an der Vorstellung, was eine Frau in einer Gesellschaft zu tun hat: Kinder kriegen. Das klingt vielleicht banal, aber die Emotionalität, mit der manche Menschen auf meinen Account reagieren, zeigt mir, dass es tatsächlich so ist.
Am häufigsten kommt die Unterstellung, dass ich Kinder hassen würde. Was natürlich völliger Blödsinn ist. Wenn meine Schwester sich entscheiden würde, ein Kind zu bekommen, würde ich mich total darauf freuen, Tante zu sein. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
Oft kommt auch, dass ich das Leben von Eltern abwerten würde. Dabei sage ich auf meinem Account einfach, dass ich mein Leben ohne Kinder geniesse und das okay sein darf. Was ich auch viel zu hören kriege: «Willst du denn im Alter niemanden haben, der dich pflegt? Du wirst vereinsamen!» Als wären Kinder eine kostenlose Pflegekraft, die man sich anschafft. Oder ein Garant dafür, dass man nicht vereinsamt. Ich habe eine Followerin, die im Senior:innenheim arbeitet – die meisten Menschen, sagt sie, besuchen ihre Eltern an Weihnachten und am Geburtstag. Mehr nicht.
Natürlich gibt es auch Beleidigungen, wie immer, wenn man im Internet tabubehaftete Themen anspricht. Menschen lassen sich über mein Aussehen aus oder behaupten, ich würde einfach keinen finden, der mich wolle. Die projizieren ihre Probleme auf mich, mit mir hat das wenig zu tun. Früher haben mich solche Kommentare verletzt, heute bin ich so weit, dass es mir egal ist. Ich weiss, für wen ich Content mache.
Inzwischen habe ich auch einen Telegram-Chat ins Leben gerufen, da sind wir über 400 Menschen, die sich austauschen und unterstützen. Das macht mich glücklich. Ich will, dass jede Person weiss, dass sie die Wahl hat. Kinder haben ist keine gesellschaftliche Pflicht. Und es ist für jede:n anders. Für uns ist es keine Option. Und das soll es auch sein dürfen.
Sabine: «Mir war immer klar: Ich will am Tod meines Kindes nicht zerbrechen»
Giuliano ist unser zweites Kind. Ich wurde schwanger mit ihm, da war unsere Tochter anderthalb. Es war eine schöne Schwangerschaft, etwas strenger als die erste, weil ich daneben noch Kleinkind und Arbeit hatte. Aber mir ging es gut, und ich freute mich.
Am 19. Dezember merkte ich, dass sich etwas anders anfühlte. Geburtstermin war erst Anfang Februar, Weihnachten stand bevor, und mir ging es eigentlich gut. Aber auf dem Heimweg vom Yoga verkrampfte sich mein Bauch, und ich spürte einen Druck auf der Blase. Zu Hause schickte ich meiner Hebamme eine Sprachnachricht; sie sagte: «Nimm Magnesium, leg was Wärmendes drauf.» Wenn es weggehe, sei es gut, sonst solle ich im Spital anrufen.
Die Schmerzen wurden immer mehr, aber ich machte mir nicht übermässig Sorgen. Aber die Wehen wurden stärker, und irgendwann spät in der Nacht packten wir unsere Tochter ins Auto und fuhren ins Spital. Während der Fahrt realisierte ich, dass es eine Geburt geben würde. Dann ist er halt ein Frühchen, dachte ich. Wir schaffen das.
Im Spital empfing mich eine liebe Hebamme. Sie machte ein CTG und fand nach langem Suchen einen Herzschlag – wahrscheinlich meinen. Dann kam die Ärztin und machte einen Ultraschall. Sie sehe leider keinen Herzschlag, sagte sie. «Was heisst das», fragte ich, «ist er tot?» Das klingt vielleicht seltsam, aber ich brauchte klare Worte. Und hatte irgendwie noch die Hoffnung, dass man etwas machen könnte. Gleichzeitig merkte ich: Das Baby kommt jeden Moment.
Sie holten meinen Mann, und dann ging es ganz schnell. 45 Minuten nach unserer Ankunft war Giuliano schon da. Ich war konzentriert, hatte die ganze Zeit Tränen in den Augen. Die grosse Trauer überkam mich erst, als ich ihn in den Armen hielt. Er sah so schön aus, rosa, mit geschlossenen Augen. Wie ein schlafendes Baby.
Trotz der Trauer war ich von den ganzen Hormonen merkwürdig nüchtern und fragte die Assistenzärztin, ob das oft vorkomme. «Nein, kommt nicht oft vor», lautete ihre knappe Antwort. Eine Totgeburt muss auch für das Spitalpersonal schwierig sein, aber ich hätte mir einen sensibleren Umgang gewünscht. Die Ärzt:innen kamen uns so kühl vor, so distanziert.
Die Hebamme hingegen spürte genau, was wir brauchten. Sie weinte mit uns und ging so liebevoll mit Giuliano um. Sie badete ihn, zog ihm eine kleine Windel und ein Kleidchen an. Nach einer Weile holten wir die grosse Schwester dazu. Sie schaute ihn an und war etwas verunsichert, weil wir so aufgelöst waren. Wir sagten ihr, dass das ihr Bruder sei, dass er das für immer bleibe und ihr Schutzengel sei. Später rief ich meine Mama an und erzählte ihr, was passiert war. Mein Weinen werde ich nie vergessen. Wie ein hilfloses Baby. Als wäre ich selbst wieder ein kleines Kind.
Am nächsten Morgen kam die Fotografin, die auf Totgeburten spezialisiert ist. Wir hatten das so gewünscht, obwohl es nicht einfach war, sich mit Giuliano ablichten zu lassen.
Und dann kam irgendwann der Moment, wo wir sagten: Jetzt müssen wir uns verabschieden. Er lag im Spitalbabybettchen, trug Kleidchen, die wir ausgewählt hatten. Wir suchten zwei gestrickte Schmetterlinge aus, einen legten wir zu ihm, der andere blieb bei uns.
Zu Hause erhielten wir viele Blumen und Kerzen. Wir haben ein tolles Umfeld, das mit uns trauerte, für uns kochte, uns aber auch alleine liess, wenn wir das wollten. Ich weinte drei Tage am Stück, war nur auf dem Sofa und im Bett. Immer wieder nahm ich die Bilder und den Schmetterling und machte alles noch einmal durch. Ich las über Tot- und Fehlgeburten: unzählige Artikel und Erfahrungsberichte. Und ich habe darüber geredet, immer wieder.
Ich gab mich in meine Trauer hinein. Aber irgendwann trat ich auch bewusst wieder hinaus. Für mich war schon im Spital klar gewesen: Ich will da dran nicht zerbrechen. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich spürte nach dieser intensiv-traurigen Zeit schnell wieder Zuversicht. Es ging ein paar Wochen, und ich wusste, dass ich wieder ein Kind wollte.
Kurz darauf, noch im ersten Zyklus, wurde ich wieder schwanger. Ich hatte bei diesem Baby auch wieder die volle Zuversicht, dass es gut kommt. Unser drittes Kind, eine Tochter, wurde im Dezember 2023 geboren. Sie war gesund, ist es bis heute.
Diese Geburt hat vieles geheilt. Aber die Trauer über Giuliano ist immer da, ich bin jeden Tag mit meinen Gedanken bei ihm. Hier zu Hause haben wir eine schöne, weisse Box, in der alles von ihm drin ist: Ultraschallbilder, die wenigen Kleider, die wir für ihn gekauft oder bekommen hatten, und die Fotos von nach der Geburt.
Man weiss bis heute nicht, wieso Giuliano starb. Aber ich muss es auch nicht genau wissen. Ich bin kein besonders gläubiger oder spiritueller Mensch, aber ich habe das Vertrauen, dass es so sein musste. Das gibt mir Frieden.