Abtreibung: Nicht Mutter werden

Nr. 10 –

In den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft entscheidet in der Schweiz alleine die Frau, ob sie ein Kind haben will oder nicht. Wie fühlt es sich an, diese Entscheidung zu treffen? Sechs Frauen erzählen.

  • Fotos: aus der Serie «Hôtel Scribe» (1999) der Künstlerin Chantal Michel. © www.chantalmichel.ch

«Da muss ich darüber reden dürfen»

Stephanie (31), Sozialpädagogin

«Wir haben verhütet, doch das Kondom ist geplatzt. Und dann bin ich schwanger geworden, mit sechzehn als Au-pair im Welschland. Von meinen Eltern oder in der Schule wurde ich nie aufgeklärt. Wir lasen auf dem Pausenplatz in der ‹Bravo› die Ratschläge des Dr.-Sommer-Teams. Ich war dann total überfordert, als der Test positiv war, habe mich geschämt. Und natürlich haben mein Freund und ich uns Vorwürfe gemacht, dass wir nicht besser aufgepasst hatten.

Am Wochenende war ich jeweils zu Hause – da hat meine Mutter den Test gefunden. Das war ein Drama! Meine Eltern haben nicht mit mir geschimpft, aber es war sofort klar: ‹Du musst abtreiben.› Für mich war das gar nicht so klar. Doch dann ging es Schlag auf Schlag: Frauenärztin, Spital, die Frage, ob man es auskratzen sollte – was für ein Wort! Ich vergesse nie mehr, wie ich im Spital das Ultraschallbild sah. Mir ist das ziemlich eingefahren: Krass, in meinem Bauch lebt jetzt etwas, da entsteht etwas. Es war ein positives Gefühl, aber mit sechzehn überlegst du dir ja auch noch nicht, was mit der Zukunft ist.

Heute denke ich: Es war ein Glück, dass meine Eltern damals für mich entschieden haben. Mein Kind wäre jetzt fünfzehn Jahre alt, ich hätte ganz vieles nicht machen können in meinem Leben. Zudem glaube ich, dass ich gar keine Kinder möchte. Trotzdem: Ich hätte damals Raum gebraucht, um mir überlegen zu können, was ich will. Zeit, um selber zu entscheiden. Heute noch kann mein Vater das Wort ‹Abtreibung› nicht in den Mund nehmen, aber ich spüre, dass meine Eltern wissen, dass sie mich damals mehr hätten tragen sollen.

Mich hat die Abtreibung noch lange beschäftigt, und es dauerte Jahre, bis ich angefangen habe, darüber zu reden. Irgendwann merkte ich: Das ist nichts Schlimmes, das gehört zu mir, da muss ich auch darüber reden dürfen. Dass ich heute bewusst darüber spreche, gehört zu meinem Verarbeitungsprozess: So, jetzt stelle ich mich dem, jetzt normalisiere ich es!

Seither erzählen mir immer wieder Frauen, dass ihnen das auch passiert ist. Wir können uns über unsere Erfahrungen austauschen, müssen uns dafür nicht schämen. Ich fühle mich erleichtert und gestärkt. Bis jetzt hat auch nie jemand negativ auf meine Geschichte reagiert. Manche waren erstaunt: ‹Krass, du kannst ja total gefasst darüber reden, das könnte ich nicht.› Ich habe mich schon gefragt, ob ich vielleicht kalt und abgebrüht wirke. Aber dass ich darüber rede, heisst ja nicht, dass ich keine Emotionen habe.»


In den ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft hat eine Frau in der Schweiz das Recht, die Entscheidung für eine Abtreibung alleine zu treffen. Laut Strafgesetz muss sie schriftlich bestätigen, dass sie sich in einer Notlage befindet. Zudem muss die Ärztin oder der Arzt vor dem Abbruch ein «eingehendes Gespräch» mit der schwangeren Frau führen – genauso wie das auch bei anderen medizinischen Eingriffen die Regel sein sollte. Die Abtreibung kann unmittelbar nach dem Gespräch stattfinden, eine gesetzliche Bedenkzeit gibt es keine.

Auch nach Ablauf der Frist von drei Monaten – daher die Bezeichnung «Fristenregelung» – ist ein Abbruch straflos, wenn die Ärztin, der Arzt ihn aus medizinischen oder psychischen Gründen für notwendig erachtet. Je fortgeschrittener die Schwangerschaft ist, desto grösser muss laut Strafgesetzbuch die «Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung oder einer schweren seelischen Notlage» sein.

«Es war für mich ein Schleimklümpchen»

Franziska (61, Name geändert), Medienschaffende

«Ich hatte nie Probleme mit meinen beiden Abtreibungen. Ich hatte auch nie einen Kinderwunsch, vielleicht machte es das einfacher. Es gibt ja immer wieder Frauen, die grosse moralische Bedenken haben – das hatte ich nie. Im Gutachten des Psychiaters, das es damals, 1973, für eine Abtreibung noch brauchte, steht, dass es für mich nur ein Schleimklümpchen war. Ich hatte keine Beziehung dazu, Punkt.

Mit siebzehn habe ich das erste Mal abgetrieben. Ich war in der Ausbildung, und es kam einfach nicht infrage, ein Kind zu haben. Zum Glück hatte ich eine Freundin, die etwas älter war und wusste, wo man in Zürich abtreiben konnte. Ich bin da rein und hinten wieder frisch rausgekommen. Bei meiner zweiten Abtreibung, mit 31, war es dann eine echte Entscheidung, weil beide Optionen zumindest vorstellbar waren. Ich war in einer festen Beziehung, der Mann sagte: ‹Das musst du wissen.› Er hätte wohl beides mitgemacht.

Kurz bevor ich zum zweiten Mal schwanger wurde, hatte ich mich bereits über die Möglichkeit einer Unterbindung informiert. Doch es schreckte mich ab, dass man dafür eine Vollnarkose brauchte. Für die Abtreibung wurde ich von meiner Frauenärztin in eine Praxis überwiesen, die das machte. Der Arzt sagte: ‹Dann machen wir das aber gleich zusammen, die Abtreibung und die Unterbindung.› Ich erschrak über das Tempo, weil die Operation kurz danach sein musste. Ich hatte ja erst sehr spät gemerkt, dass ich schwanger war, wollte es wohl nicht wahrhaben. Der Arzt versicherte mir aber, dass ich bis zum Eingriff jederzeit noch Nein sagen könnte. Ich weiss noch, wie ich nach dem Gespräch dachte: Das wäre genial, das befreit mich von allen Sorgen!

Als ich dann abgetrieben hatte und unterbunden war, war ich extrem erleichtert. Eine Freundin kam nach der Operation mit einer Flasche Wein ins Spital, wir haben angestossen und die ganze Flasche getrunken. Ich hatte die Entscheidung des Jahrhunderts für mich gefällt, und ich habe sie nie bereut.»


Die meisten Frauen entscheiden sich in der Schweiz für einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch: Die Schwangere nimmt dafür zwei Medikamente, zuerst eines, das das Wachstum des Embryos blockiert, zwei Tage später ein weiteres, das die Gebärmutter dazu anregt, den Embryo auszustossen. Etwa ein Viertel der Abtreibungen erfolgt chirurgisch, mit einer lokalen Anästhesie oder einer Vollnarkose. Heute werden die Zellen nicht mehr aus der Gebärmutter ausgekratzt oder ausgeschabt, sondern abgesaugt. Das Geräusch während des chirurgischen Eingriffs höre sich ähnlich an wie das schlürfende Saugen des Schlauchs beim Zahnarzt, erzählen manche Frauen.

«Ich nahm mir zu wenig Raum»

Julia (41, Name geändert), Autorin

«Ich wäre heute nicht dort, wo ich bin, wenn ich damals das Kind bekommen hätte. Das ist weder nur positiv noch nur negativ – es ist beides. Ich bereue es, die Rolle des Mamis nicht gelebt zu haben. Aber ich habe nach diesem Erlebnis auch vorwärtsgemacht, habe mir wirklich überlegt, was ich im Leben will, bin zielstrebig darauf los und habe viel erreicht. Ich kann nicht sagen, ob die Entscheidung richtig oder falsch war.

Als es passierte, war ich 32 und beruflich noch nicht dort, wo ich sein wollte. Da war kein Platz für ein Kind, auch finanziell nicht. Ich hatte eine Affäre mit meinem Exfreund, und wir haben nicht verhütet an dem Abend. Ich weiss auch nicht, was ich da herausfordern wollte …

Als ich ihm sagte, dass ich schwanger sei, meinte er, dass er zwar Kinder wolle, aber nur mit einer Frau, die ihn liebe. Ich fühlte mich erpresst. Was da an Erwartungen auf mich zukam, konnte ich nicht erfüllen. Eine Kleinfamilie, zu dritt in einer kleinen Wohnung: Das wäre der Horror für mich! Zufällig unterhielt ich mich in jenen Tagen mit einer alleinerziehenden Mutter. So will ich das nicht, war mein einziger Gedanke.

Vielleicht wurde mir die Abtreibung zu leicht gemacht, vielleicht hätte man bei mir eine grössere Hürde einbauen müssen. Ich bin schon dafür, dass der Bauch jeder Frau nur ihr selbst gehört, und ich bin froh, konnte ich frei entscheiden … Aber ich nahm mir zu wenig Raum für die Entscheidung. Ich machte mir voll den Stress, redete mit ganz vielen Leuten, saugte wie ein Schwamm alles auf. Dabei hörte ich zu wenig auf meine innere Stimme. Ich spürte ja, dass ich schwanger war. Es war eine Verbindung da, etwas Schönes, Heiliges. Hätte ich nur besser in mich reingehört … ich hätte mich wahrscheinlich gegen einen Abbruch entschieden. Ich würde deshalb jeder Frau raten, sich für die Entscheidung wirklich Zeit zu lassen.

Meine Abtreibung ist heute mein Geheimnis, ich erzähle nur den engsten Freundinnen davon, weil ich nicht verurteilt werden, nicht gesellschaftlich stigmatisiert sein will.»


Die Zahl der Abtreibungen in der Schweiz ist konstant – konstant tief. Jährlich entscheiden sich zwischen 10 000 und 11 000 Frauen für einen Schwangerschaftsabbruch, das sind 6,3 von 1000 Frauen im gebärfähigen Alter. Die Schweizer Zahlen sind präzise, denn ÄrztInnen sind gesetzlich verpflichtet, Abbrüche zu melden. Die Zahlen zeigen: In allen gesellschaftlichen Schichten treiben Frauen ab. Diejenigen, die hier ihre Geschichte erzählen, sind in der Schweiz aufgewachsen, gut ausgebildet, aus städtischen Milieus. Tatsächlich werden mehr Schwangerschaften in Städten abgebrochen: Das gesellschaftliche Klima ist hier offener, die Anonymität für Frauen, die abtreiben wollen, grösser. Doch auch in ländlichen Kantonen werden heute – anders als vor der Einführung der Fristenregelung im Jahr 2002 – Abtreibungen gemacht.

Weltweit liegt die Abtreibungsrate deutlich höher: Pro Jahr brechen 35 von 1000 Frauen eine Schwangerschaft ab, schätzt das US-amerikanische Guttmacher Institute, das auf Forschung zu reproduktiver Gesundheit spezialisiert ist. Deutlich tiefer ist die Abbruchrate in Industrieländern, etwas höher in sogenannten Entwicklungsländern. Der Schluss, der nicht nur für ExpertInnen naheliegt: Je grösser das Wissen von Frauen und Männern über Sexualität, je besser der Zugang zu Verhütungsmitteln, desto weniger ungewollte Schwangerschaften gibt es. Je ausgeprägter das Bewusstsein der Frauen, über den eigenen Körper selber bestimmen zu können und die Familienplanung in der Hand zu haben, desto weniger Abtreibungen gibt es. An Orten, wo Abtreibungen nicht (oder kaum) legal möglich sind, gibt es denn auch nicht weniger Abtreibungen – Frauen treiben trotzdem ab, illegal, unter gesundheitsgefährdenden oder gar lebensgefährlichen Umständen.

«Das will ich nicht»

Nina (29, Name geändert), Islamwissenschaftlerin

«Als ich 25 war, bekamen innerhalb kurzer Zeit mehrere Freundinnen und meine Schwester ein Kind. Ich erschrak darüber, wie bei diesen Frauen das Muttersein so richtig einschlug: Sie hockten daheim mit ihren Babys. Das Kinderhaben ist anfangs Frauensache.

Ich war damals in einer stabilen Beziehung. Weil ich keine Lust hatte, Hormone zu nehmen, verhütete ich mit Temperaturmessen. Das klappte zwei Jahre gut und dann nicht mehr. Als ich merkte, dass ich schwanger war, wusste ich sofort: Das will ich nicht. Noch bevor ich es meinem Freund sagen konnte, machte ich einen Termin bei einer Frauenärztin. Dass diese Entscheidung Frauensache ist, war für mich klar – und für ihn eigentlich auch.

Ich hatte damals keine Frauenärztin und musste googeln, wo man Abtreibungen machen kann. Da war ich schon sehr überrascht, dass ich nur zwei Orte in Zürich fand, die explizit schreiben, dass sie das machen. Mir war wichtig, in eine Praxis mit feministischer Grundhaltung zu gehen. So wusste ich, dass mir keine komischen Fragen gestellt würden, dass ich nicht moralisch verurteilt würde. Gerade weil man mit meinen äusseren Umständen das Kind ja auch hätte bekommen können: Ich war in einer Beziehung, mein Freund hatte ein fixes Einkommen, ich gerade den Bachelor abgeschlossen. Aber für mich war einfach klar, dass ich es nicht will. Ich habe mir dann auch die Spirale einsetzen lassen, damit mir das nicht noch einmal passiert. Das war befreiend.

Die Abtreibung war unproblematisch. In einem Gespräch wollte die Ärztin wissen, ob ich mit jemandem darüber geredet hätte und wo ich gerade im Leben stünde. Ein freundliches Gespräch, in dem es überhaupt nicht darum ging, dass ich irgendetwas beweisen musste. Dann nimmst du eine Tablette und bekommst deine Tage wieder. Die Ärztin empfahl mir, das Blut aufzufangen, um sicherzugehen, dass es rauskommt; man würde den Zellklumpen sehen. Im Blut, das ich auffing, sah ich aber nichts.

Heute denke ich nur an die Abtreibung, wenn es von aussen an mich herangetragen wird. Oft schwingt bei den Fragen mit, dass Abtreibung etwas Schlimmes sei, dass ich eigentlich traumatisiert sein müsste. Das finde ich sehr irritierend, weil es bei mir einfach nicht zutrifft. In der Theorie ist es in einer liberalen Gesellschaft voll okay abzutreiben. In der Praxis ist es aber dann doch noch erstaunlich stigmatisiert und tabuisiert.»


Die Schweizer Abtreibungsbestimmungen gehören zu den liberalsten in Europa. In Deutschland ist ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich rechtswidrig (siehe WOZ Nr. 5/2018 ); in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen wird eine Frau, die abtreibt, jedoch nicht bestraft – vorausgesetzt, dass sie sich vorher in einer anerkannten Beratungsstelle für Schwangerschaftskonflikte beraten liess. Extrem restriktive Abtreibungsregelungen gelten beispielsweise in Polen: Abtreibungen sind nur erlaubt, wenn das Leben der schwangeren Frau oder ihre Gesundheit in Gefahr ist oder wenn sie vergewaltigt wurde. Auch in Irland ist es fast unmöglich, legal abzutreiben.

Während in Polen die Regierungspartei nur von öffentlichen Protesten davon abgehalten wurde, das Abtreibungsrecht weiter zu verschärfen, wird im erzkatholischen Irland die Praxis möglicherweise bald liberalisiert. Im Frühsommer entscheiden die IrInnen in einem Referendum, ob ein Verfassungsartikel gestrichen werden soll, der dem Embryo und der Schwangeren gleichermassen ein Recht auf Leben zugesteht.

«Wir schaffen das zusammen»

Tanja (32), Parteisekretärin

Ich hatte die Pille abgesetzt, weil ich keine Lust mehr auf die Hormone hatte. Und dann waren mein damaliger Freund und ich unvorsichtig … Mein Zyklus spielte wegen der Pille verrückt, und die Schwangerschaftstests waren alle negativ. Irgendwann bekam ich heftige Unterleibsschmerzen, wir sind in den Notfall. Dort nahmen sie Blut und riefen tags darauf an: ‹Doch, Sie sind schwanger.› Wir waren Mitte zwanzig und hatten schon übers Kinderhaben geredet – theoretisch. Wir wussten beide, dass wir Kinder wollten, gerne auch früh. Zuerst haben wir uns gefreut, ich erinnere mich aber auch an einen Abend, an dem wir total durchdrehten. Wir waren völlig überfordert. Und dann haben wir beide intensiv alleine darüber nachgedacht und mit Freundinnen und Freunden geredet. Ich wog nicht rational ab, sondern fühlte eher. Und ich informierte mich über Abtreibungen. Als ich einen Dokumentarfilm zum Thema schaute, wurde mir klar: Das ist eigentlich auch eine gute Lösung, auch für mich. Wir waren ja beide noch im Studium, und ich arbeitete zu jener Zeit sehr viel.

Irgendwann sagte ich: Vielleicht ist es besser abzutreiben. Das brauchte schon Überwindung, denn für mich war es wichtig, was mein Partner in dieser Situation empfindet. Und für ihn war klar, dass er Teil des Prozesses war, auch wenn eine Abtreibung am Schluss die Entscheidung der Frau ist. Es ist ein grosser Glücksfall, wenn man sich einig ist. Es war ja auch für meinen Freund eine extrem emotionale Situation, und er musste eine Haltung zwischen Transparenz und Zurückhaltung finden, ohne Druck auszuüben. Ich weiss noch, wie er sagte: ‹Egal was, wir schaffen das zusammen.› Ich fühlte mich voll aufgehoben, das gab mir eine grosse Freiheit.

Als wir uns entschieden hatten, ging alles reibungslos, voll angenehm. Die Frauenärztin stellte unsere Entscheidung nicht infrage und machte mir kein schlechtes Gewissen. Ich hatte etwas Angst vor dem Eingriff, und es war mir wichtig, dass mein Freund da war, als ich aus der Vollnarkose aufwachte. Aber danach war rasch alles, wie wenn nichts gewesen wäre: keine starken Schmerzen oder Blutungen.

Ich hatte auch etwas Angst, dass etwas schiefläuft und ich nachher nicht mehr schwanger werden könnte. Als ich nun mit meinem neuen Partner entschieden habe, dass wir ein Kind wollen, ging es recht lange, bis es klappte. Da dachte ich schon: Scheisse, ist es deswegen? Jetzt habe ich ein achtmonatiges Kind. Ziemlich spät in dieser Schwangerschaft, als ich sah, wie mein Kind sich bewegte, kam mir kurz alles wieder hoch. Mir wurde klar: Wow, ich war schon mal schwanger, es wäre damals ein Leben daraus entstanden! Da habe ich zwei, drei Tage lang getrauert. Ich hatte ja nie Zweifel, dass die Entscheidung richtig war – aber ich hatte auch nie Abschied genommen.»


Der Kampf für eine Legalisierung der Abtreibung war für die Frauenbewegung der siebziger Jahre zentral. Jede Frau sollte über ihr Leben selbst bestimmen können – und auch über ihren Körper: «Mein Bauch gehört mir!» In Frankreich und Deutschland erregten im Frühjahr 1971 jene Frauen grosses Aufsehen, die sich öffentlich und mit Bild – in Deutschland in der Zeitschrift «Stern» – dazu bekannten: «Ich habe abgetrieben!» In der Schweiz fingen zur selben Zeit neben bewegten Frauen auch ÄrztInnen und AnwältInnen an, sich aktiv für eine Legalisierung einzusetzen. Die Forderung zu Beginn: das Thema Schwangerschaftsabbruch ganz aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Jede Frau, so die Überzeugung, kann für sich die rational und emotional passende Entscheidung treffen, sie sucht sich dafür – wenn nötig – die Beratung, die sie braucht.

Zu einer Streichung aus dem Strafgesetz ist es bis heute nicht gekommen: 2002 wurde die Fristenregelung eingeführt, eine Kompromisslösung, mit der auch religiös geprägte Kreise leben können sollten. Schon davor war das geltende Recht so interpretiert worden, dass nicht nur die Gefährdung der körperlichen, sondern auch der psychischen Gesundheit der Schwangeren als Grund für einen legalen Abbruch galt. In den grossen Städten führte das zu einer De-facto-Fristenregelung: Die Informationen darüber, welche ÄrztInnen Abtreibungen durchführen und welche PsychiaterInnen die nötigen Gutachten ausstellen, waren zugänglich – sofern die Frau die richtigen Leute kannte.

«Körperliche Autonomie ist mir extrem wichtig»

Ina (31), Psychologin

«Mit 26 wurde ich schwanger. Ungeplant, in einer Beziehung, die recht schwierig war. Ich hatte dann in der achten Schwangerschaftswoche eine medikamentöse Abtreibung.

Ich denke heute weniger an den genauen Ablauf zurück – dass ich zu mehreren Terminen ins Spital musste, zum Vorgespräch, zum Ultraschall und dann zur Einnahme der Medikamente. Heute stellt der Schwangerschaftsabbruch für mich vor allem einen Moment des feministischen Aufwachens dar. Ich hatte davor nicht wirklich ein Bewusstsein dafür, wie stark man als Frau in Regeln über den eigenen Körper eingebunden ist, wie stark man sich an Gesetze und Konventionen halten muss.

Ich hatte immer gedacht, mir würde so etwas nicht passieren. Wenn man gebildet und informiert ist, weiss man, wie man nicht schwanger wird, man ist ja nicht blöd – dachte ich. Im ganzen Prozess des Schwangerschaftsabbruchs wurde mir dann auch stets subtil kommuniziert, dass einem so etwas nicht passieren sollte. Nie sagte jemand: ‹Hey, das ist völlig normal, vierzig Prozent der Schwangerschaften sind ungeplant.›

Für mich war es eine sehr intensive Erfahrung, nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Ich liess mir viel Zeit für die Entscheidung, um die drei Wochen, habe mir auch vorgestellt, wie es wäre, das Kind zu bekommen. Im Rückblick muss ich sagen: Dass der Prozess psychisch so intensiv war, wäre nicht unbedingt nötig gewesen. Ich empfand das Beratungsgespräch im Spital zwar nicht als negativ. Aber es wurde mir schon ein wenig aufgedrängt, dass die Entscheidung sehr, sehr schwerwiegend sei und nicht einfach eine von tausend schwierigen Entscheidungen, die man im Leben fällen muss. Deshalb ist es mir so wichtig, betroffenen Frauen zu sagen: ‹Es darf sich genau so anfühlen, wie du es fühlst.›

Mein damaliger Partner reagierte äusserst negativ auf meine Schwangerschaft. Heute ist mir klar, dass sich in seiner Reaktion ein stereotypes, negatives Frauenbild niedergeschlagen hatte. Er sagte zum Beispiel: ‹Die Hormone machen dich irrational.› Dass ich mich schliesslich für den Abbruch entschied, hatte auch damit zu tun, dass ich mir nicht vorstellen konnte, diesen Mann für die nächsten achtzehn Jahre oder noch länger in meinem Leben zu haben.

Ich setzte mich in jenen intensiven Wochen auch mit dem Zustand des Embryos in mir drin auseinander. Ist das eine Person? Darf ich das, ist das moralisch vertretbar? In einem von vielen guten Gesprächen – ich glaube, es war mit meiner Mutter – gab es dann einen befreienden Moment. Mir wurde klar: Egal was das in mir drin ist, egal ob es ein potenzielles Leben ist – ich bin schon jetzt eine Person. Ich bin eine Person mit einem Leben und einem Willen und einem Körper, und ich bestimme darüber. Es hat mir sehr geholfen zu merken, dass ich diesen Embryo nicht abwerten muss. Er kann wertvoll sein und Würde haben, und ich kann es trotzdem nicht wollen. Die abstrakte moralische Frage wurde da ganz konkret.

Seither ist mir körperliche Autonomie extrem wichtig. Ich bekomme noch heute ein beklemmendes Gefühl, wenn ich mir vorstelle, dass es mir damals nicht gelungen wäre abzutreiben oder dass mir ein Abbruch nicht zur Verfügung gestanden hätte.»

Zu den Fotografien

Im Werk der international angesehenen und mehrfach ausgezeichneten Schweizer Foto-, Performance- und Videokünstlerin Chantal Michel spielen aussergewöhnliche Räume eine wichtige Rolle, sei es eine alte Brauerei, ein verlassenes Hotel oder eine verwunschene Landschaft. Die Arbeiten wirken wandelbar, bewegend spielerisch, besinnlich und humorvoll zugleich. Das Dargestellte erscheint wie mitten aus dem Leben gegriffen und wirkt dabei doch rätselhaft entrückt. Gesellschaftliche Muster verwandelt sie in poetisch verstörende Bilder. Dafür benutzt sie ihren eigenen Körper. Durch ihre Präsenz schafft sie Bilder im Zustand des Dazwischen, Bilder zwischen Wachsein und Traum. Sie schafft das, was im Märchen möglich ist – Verwandlungen.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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