Krankenversicherung: Wenn Gesundheit ein Luxus ist
Symptome googeln und hoffen, dass es nichts Schlimmes ist: Wie viele Menschen verzichten in der Schweiz aus Geldsorgen auf Besuche bei der Ärztin? Und was sind die Folgen? Drei Berner:innen erzählen.
Wer in der Schweiz wenig verdient, erhält eine Prämienverbilligung. Die genaue Höhe der Beiträge, der Anteil der Personen, die bei der Zahlung der Krankenversicherungskosten unterstützt werden, zum Teil auch die Berechnungsgrundlagen sind, wie so oft, von Kanton zu Kanton verschieden.
Der Kanton Bern liegt ungefähr im Mittelfeld: Im Jahr 2023 betrug in Bern das absolute Maximum, das eine erwachsene Person monatlich an Unterstützung erhalten konnte, 221 Franken. Das heisst: Auch mit dem günstigsten Modell und maximaler Franchise bezahlten diese Wenigverdiener:innen in der Stadt Bern noch knapp 100 Franken selbst.
Was bei den Diskussionen um die Prämien oft vergessen geht: Obwohl viele einen bedeutenden Teil des verfügbaren Einkommens für die Versicherungskosten aufwenden, heisst das noch lange nicht, dass sich auch alle einen Arzttermin leisten können, wenn sie ihn für nötig halten. Denn wer wenig verdient, setzt die Franchise in der Regel auf das Maximum von 2500 Franken. Gleichzeitig haben viele dieser Geringverdienenden nicht genügend Geld für Arztrechnungen auf der Seite.
Wie viele Personen in der Schweiz auf gesundheitliche Leistungen verzichten, ist schwierig festzustellen: Verschiedene regionale und nationale Erhebungen kamen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, von zwei bis zwanzig Prozent – Sans-Papiers nicht miteingerechnet. Eine vom Bundesamt für Gesundheit in Auftrag gegebene vergleichende Studie von 2022 kam zum Schluss, dass Menschen mit geringem Einkommen, solche ohne Schweizer Pass und unter 35-Jährige tendenziell häufiger auf medizinische Leistungen verzichten.
Wenn sie die Franchise auf das Maximum gesetzt und kaum Geld auf dem Konto haben: Wie entscheiden Personen, ob und wann sie zur Ärztin gehen? Drei junge Berner:innen mit geringem Einkommen, die alle keine Sozialhilfe beziehen, einer davon ohne Schweizer Staatsbürgerschaft, haben der WOZ erzählt, wie die Gesundheitskosten sie belasten. Wobei sie alle betonten, dass es Menschen gebe, die beim Zugang zum Gesundheitssystem noch viel grössere Schwierigkeiten hätten – etwa solche, die auch Kinder versorgen müssen, die kein Netzwerk haben oder die die Landessprachen nicht gut beherrschen.
Manuel Sigrist*
«Geh doch zum Arzt.» Das hört Manuel Sigrist immer wieder von Leuten aus seinem Umfeld, wenn er ein Leiden hat. «Ich sage dann jeweils, dass ich dafür kein Geld habe.» Womit er bei vielen auf Unverständnis stosse. Das zahle doch die Versicherung, entgegnen sie daraufhin erstaunt. «Ich muss dann erklären, dass die Versicherung bei meiner Franchise praktisch nie etwas zahlt.» Ein «grosses Missverständnis» nennt Sigrist diese verzerrte Wahrnehmung über die vermeintlich allumfassende Absicherung in der Schweiz.
Sigrist ist 36 Jahre alt und wählt jedes Jahr die maximale Franchise, um Kosten zu sparen. Nach einer Lehre als Grafiker studierte er Illustrationsdesign und arbeitet seitdem selbstständig als Illustrator – mit unregelmässigem und bescheidenem Einkommen, trotz mehr als vierzig Stunden Arbeit pro Woche. Er komme immer «tout juste» durch, und das sei lange auch okay gewesen. «Aber langsam nervt es mich, dass ich viel mehr arbeite als alle, die ich kenne, und doch nur knapp über die Runden komme.» Bekannte würden ihm immer mal wieder den gut gemeinten Ratschlag erteilen, sich eine Anstellung zu suchen, um weniger prekär zu leben. Tatsächlich gibt es in seiner Branche aber praktisch keine festen Stellen.
Da Sigrist grundsätzlich bei guter Gesundheit ist und meist das Maximum an Prämienverbilligung erhält, ist es bisher irgendwie gegangen. Doch Krankheit und ungeplante Arztbesuche bedeuten für ihn finanzielle Probleme. So wie vor zwei Wochen, als ihn eine Magen-Darm-Grippe flachlegte und er weder arbeiten konnte noch etwas verdiente. Oder wie im vergangenen Jahr, als er ein Muttermal entfernen liess, dass sich verändert hatte. «Inklusive Nachbehandlungen kostete alles zusammen etwa 2000 Franken.» Der Illustrator hatte sich da gerade ein kleines Sicherheitspolster von mehreren Tausend Franken zusammengespart gehabt – was darin resultierte, dass seine Prämienverbilligung gestrichen wurde. Mehrkosten für Versicherung und Steuern, zusammen mit der Muttermaloperation: Manuels Polster war weg.
Er findet es schwierig, im Behördendschungel den Durchblick zu haben. «Ich vermute, dass das auch extra so angelegt ist.» Gleichzeitig fühlte er sich als Wenigverdiener immer wieder unter Verdacht. Etwa wenn er in gewissen Jahren weniger als 21 000 Franken netto verdiente. Dann wird im Kanton Bern das Anrecht auf Prämienverbilligung nicht mehr automatisch geprüft, sondern man muss selbst einen Antrag stellen – weil dann davon auszugehen sei, dass diese Personen vermutlich anderweitig finanziell unterstützt werden, wie der Kanton auf Anfrage schreibt. «Ich musste mich bei den Behörden dafür rechtfertigen, wie ich mit so wenig Geld überleben kann», so Manuel.
Milena Rochat*
«Heute geht es wieder einigermassen», sagt Milena Rochat mit leicht heiserer Stimme in einem Café im Berner Länggassquartier. Die letzten Tage lag sie mit Fieber im Bett, ab und zu hustet sie noch. Ein Arztbesuch wegen einer Grippe? Für Rochat keine Option. «In den letzten Monaten hat es mich gleich dreimal so richtig erwischt, da habe ich mir überlegt, ob ich nicht doch zum Arzt gehen sollte.» Auch sich mal durchchecken zu lassen, hielte die 33-Jährige für sinnvoll. «Aber dann denke ich sofort: Wie viel kostet das?»
Milena wuchs in Bern als Tochter einer alleinerziehenden Mutter auf. Viel Geld hätten sie nicht gehabt, doch arm habe sie sich nie gefühlt. «Auch dank Freund:innen und Verwandten hat es mir nie an etwas gefehlt.» Prämienverbilligung erhielt sie schon als Kind, und Ärzt:innenbesuche waren eher selten. Nach Abschluss ihres Studiums in soziokultureller Animation hatte Milena während zweier Jahre gleichzeitig verschiedene Teilzeitjobs in der Gastronomie und verdiente wenig. «Es ging, aber es war immer etwas knapp, manchmal musste ich Rechnungen für den nächsten Monat aufschieben.» Dazu gehörten auch die Krankenkassenprämien.
Bei ihrer nächsten Stelle im sozialen Bereich verdiente sie etwas besser: Beim Berufseinstieg um die 2500, im fünften Arbeitsjahr etwa 3500 Franken bei einer Sechzigprozentanstellung. Milena begab sich praktisch nie in ärztliche Beratung oder Behandlung, abgesehen von einigen Terminen bei einer Gynäkologin, die nötig waren, nachdem HP-Viren bei ihr festgestellt worden waren, sowie einigen Psychotherapiestunden. «Diese Rechnungen habe ich wegen der Franchise selbst bezahlt.»
Fünf Jahre lang hatte Milena keine Hausärztin. «Meistens ging es mir auch gut. Aber manchmal habe ich ängstliche Momente und denke mir: Das würde ich jetzt gerne abklären lassen.» Etwa als sie erfährt, dass einer Cousine ein Tumor aus der Wange operiert werden musste und die Ärzt:innen meinten, die Ursache könnte genetisch sein. Mehrere Familienmitglieder lassen sich untersuchen, bei einigen fällt der Test positiv aus. Milena lässt sich aus finanziellen Gründen nicht checken
Wie es ist, wenn es gar nicht mehr geht, hat Milena bei ihrem letzten festen Job erlebt. Sie konnte nicht mehr richtig schlafen oder wachte mitten in der Nacht auf, in Gedanken bei der Arbeit. Der spätere Befund: eine Erschöpfungsdepression. Da sie keine Hausärztin hatte, ging sie in den City-Notfall, eine Praxis, die Patient:innen ohne Anmeldung behandelt. Die zuständige Ärztin konnte ihr nur für eine Woche ein Arztzeugnis ausstellen. Innerhalb von wenigen Tagen fand sie über eine Bekannte einen Psychiater, der sich um die Triage kümmerte. «Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen gewesen.»
Sie sieht ihr Netzwerk als eine Art soziales Kapital, das sie in solchen Situationen immer mal wieder unterstütze. Aber das sollte nicht nötig sein, fügt sie an. «Wir leben in einem Land mit so viel Kapital – da sollten doch alle Zugang zu Gesundheit haben, und zwar mit möglichst tiefen Hürden. Wenn man jeden Monat Krankenkassenprämie bezahlt, sollte man doch auch zum Arzt gehen können, wenn man etwas braucht, oder?»
Heute geht es Milena wieder gut. Aktuell ist sie beim RAV angemeldet, im Mai fängt sie einen saisonalen Gastrojob an. Mittlerweile hat sie eine Hausärztin, bei der sie aber noch nie war.
Mohssan Nova*
Mohssan Nova sitzt an einem alten Holztisch auf dem Sitzplatz seiner Wohnung und beugt sich vor, um auf eine Stelle aussen an seinem Knie zu zeigen, die sich immer wieder entzündet. «Ich glaube, es ist etwas mit dem Meniskus.» Vergangene Woche seien die Schmerzen wieder einmal so richtig schlimm gewesen. Etwas Abhilfe verschaffte er sich mit Schmerzmitteln und einer Salbe, die er in der Hausapotheke an seinem Arbeitsort gefunden hatte.
Das Knie mal einer Fachperson zeigen? «Wenn ich zum Arzt gegangen wäre, dann hätte das mit den Untersuchungen und Medikamenten sicher um die tausend Franken gekostet. Dieses Geld habe ich nicht.» Heute sei es etwas besser mit den Schmerzen. Das ist auch gut, denn in zwei Stunden fängt seine Schicht im Gastro- und Barbetrieb an, in dem er seit Anfang letztes Jahr arbeitet.
Der 37-jährige Nova ist im Iran aufgewachsen, wo er einer Minderheit angehörte. Nach seiner Flucht ersuchte er in der Schweiz um Asyl. Nach einer langen und schwierigen Zeit erhielt er vor einem Jahr und vier Monaten den B-Ausweis und darf seither arbeiten. Sein Diplom aus dem Iran ist in der Schweiz nicht anerkannt, und der Job im kollektiv organisierten Betrieb war der bisher einzige, den er fand.
Auch wenn er betont, dass er seinen Kolleg:innen sehr dankbar sei, hätte er gerne eine andere Stelle. Denn im aktuellen Betrieb kann er nicht mehr als vier Schichten pro Woche arbeiten und kommt so monatlich meist nur auf knapp 2000 Franken. «Ende des Monats bin ich immer auf null, manchmal auch im Minus», so Nova. Gleichzeitig hat er das Gefühl, dass das viele Stehen und Gehen sein Knie in Mitleidenschaft zieht, und mehr als das: «Die Arbeit braucht meinen Körper sehr stark.»
Aus finanziellen Gründen hat Nova seine Franchise auf das Maximum gesetzt, auch wenn er betont, dass er gerne eine tiefere gewählt hätte: «Aber die tiefste Franchise hätte etwa 150 Franken im Monat mehr gekostet – dieses Geld habe ich wirklich nicht.» Im Jahr zuvor hatte er sich wegen eines starken Hustens eine Rippe gebrochen und ging in die Notaufnahme. «Alles zusammen kostete mehrere Hundert Franken, die ich selber bezahlte.»
Die finanziellen Sorgen plagen ihn. Gerade musste er sich etwas Geld leihen, um die Eltern im Iran zu unterstützen, denen der Hinauswurf aus ihrem Haus drohte. «Sie sind schon über achtzig Jahre alt, ich musste ihnen helfen», sagt Nova. Sozialhilfe in Anspruch nehmen will er unter keinen Umständen, denn das könnte seinen Aufenthaltsstatus gefährden. Es bleibt ihm also bloss die Hoffnung auf einen anderen Job. Täglich erhält er Mails mit Stelleninseraten.
Bei der Aufgabe, sich im Schweizer Behördendschungel zurechtzufinden, erhält Nova Unterstützung von Freund:innen. Die notwendigen Informationen zu finden, sei schwierig. «Ich habe manchmal das Gefühl, die wichtigen Dinge sind versteckt.» Und seine Meinung zum Gesundheitssystem? «Ich glaube, es ist megagut, einfach nur für Schweizer:innen. Oder nur für reiche Schweizer:innen.»
Abgesehen von den Einschränkungen im Alltag kann der Verzicht auf Gesundheitsleistungen auch längerfristig negative Folgen haben – sowohl auf die psychische wie auch auf die physische Gesundheit. Zu diesem Schluss kommt etwa die erwähnte Studie von 2022: Wer auf medizinische Versorgung verzichte, verzeichne tendenziell längere Krankenhausaufenthalte, habe ein grösseres Risiko für chronische Erkrankungen, schätze den eigenen Gesundheitszustand schlechter ein und verzeichne eine geringere Lebensqualität.
* Name von der Redaktion geändert.
Kommentare
Kommentar von kusto
Mi., 15.05.2024 - 21:39
Krank gegen Gesund? Wer zahlt?
Als Grundsatz mag die Feststellung dienen, dass die meisten Kranken die notwendigen medizinischen Leistungen nicht bezahlen können, die sie zum (Über-) Leben brauchen. Mehr Wettbewerb funktioniert nicht, weil sich die Kassen vor allem um die Jungen und Gesunden balgen. Es sei denn das Stimmvolk will eine scharfe Trennung zwischen dem Goldstandard und der Holzklasse. Das heisst nach der Logik marktliberaler Träumer: «Wer medizinische Leistungen will, soll das gefälligst selber bezahlen.»
Alle Versuche die Prämien der Krankenkasse in einem bezahlbaren Rahmen für alle zu halten, sind bis heute kläglich gescheitert. Die mächtige Gesundheitslobby hat es mit seiner Blockade- und Verweigerungsstrategie geschafft, das System an den Rand eines Zusammenbruchs zu führen, wo nicht nur für mittelständische Familien die Prämien fast nicht mehr tragbar sind und die Menschen in den meisten Kantonen durch die Maschen der Prämienverbilligung fallen.
«J’accuse…» - mit diesen drastischen Worten eröffnete Emile Zola die Anklage im «Aurore» gegenüber den unhaltbaren Zuständen in der Dreyfus-Affäre. Bei unseren Kassenprämien geht es zwar nicht um einen Justizskandal sondern um die 30 jährige Weigerung der Entscheidungsträger im Parlament sich für eine valable Lösung zusammenzuraufen und den gefühlten Selbstbedienungsladen zu schliessen. Die sture Haltung der Profiteure des heutigen Systems grenzt an Machtmissbrauch und kann offensichtlich nur noch durch ein deutliches Zeichen bei der Abstimmung beendet werden. Mit einem solidarischen «JA» zur Beschränkung der Prämien auf 10% des Einkommens lösen wir vermutlich die Kostensteigerung nicht, aber die Wahrscheinlichkeit steigt erheblich, dass das Parlament endlich seiner Rolle als Legislative gerecht wird.