Attentat auf Robert Fico: Gewalt in der Pufferzone
Nach dem Attentat auf Premier Robert Fico droht in der Slowakei eine autoritäre Antwort. Dabei stand das Land schon zuvor politisch am Abgrund.
Das Attentat auf den slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico am 15. Mai sorgte für Entsetzen. Es war der erste Schusswaffenangriff auf einen Regierungschef eines europäischen Staates seit der Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Đinđić im März 2003. Ficos Zustand ist inzwischen wohl stabil, wenn auch weiterhin sehr ernst. Instabil hingegen ist sein Land, das sich nach Jahren der Stagnation in einer dramatischen nationalen Krise befindet.
In der Slowakei steht die liberale Demokratie mit ihren wichtigen Institutionen wie dem Verfassungsgericht oder den öffentlich-rechtlichen Medien seit langem unter Druck. «Was hat sie denn erwartet? Dass man sie auf Händen tragen wird? […] Dass man ihr Blumen unter die Füsse werfen wird?», fragte Robert Fico 2021 bei einer Pressekonferenz, die einberufen worden war, nachdem ein siebzigjähriger Rentner die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová wiederholt bedroht hatte. Im März 2024 sprang eine unbekannte Frau über den Zaun von Čaputovás Haus und hämmerte wütend an ihr Kellerfenster. Čaputová und ihre Töchter wachten auf, verbarrikadierten sich panisch. Der Sicherheitsdienst tauchte viel zu lange nicht auf. Auch das war für Fico kein Grund zur Besorgnis. Auch er selbst hat die Präsidentin regelmässig verbal attackiert – so wie er das bei allen unliebsamen Opponent:innen tut.
Robert Fico, der im letzten Herbst zum vierten Mal zum slowakischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, ist seit drei Jahrzehnten als Grossmaul bekannt. Die liberale, proeuropäische Menschenrechtlerin Čaputová belegt er regelmässig mit bösen Spitznamen. Viral verbreiten sich auch seine Beleidigungen der demokratischen Opposition und seine Hasstiraden gegenüber Moderator:innen, die kritische Fragen stellen – in immer derberer Sprache. Journalist:innen nannte Fico «Presstituierte», die demonstrierenden Kulturschaffenden, die vor der nationalistischen Demagogie und dem Demokratieabbau warnen, bezeichnete er noch letzte Woche als «geistig Obdachlose».
Die inkompetenteste Regierung
Ficos Karriere begann in Perestroikazeiten als Kader der Kommunistischen Partei. In drei Jahrzehnten trat der Sozialdemokrat genauso für die Todesstrafe ein wie für die Legalisierung von Marihuana oder hohe Sozialleistungen. Inzwischen gehört der Populist eindeutig zum nationalkonservativen Lager – und in seiner vierten Amtszeit hat Fico seine Rhetorik noch einmal verschärft. Er schürt gezielt Ängste und macht Stimmung gegen den liberalen Westen sowie die Ukraine. Geopolitisch machte er die Slowakei zu einem Teil des Putin-freundlichen autoritären Blocks.
Fico ist für die Verrohung der parlamentarischen Kultur und des gesellschaftlichen Diskurses in der Slowakei massgeblich mitverantwortlich. Vom Kreml übernahm er das Narrativ eines verrotteten, dekadenten Westens. Alltäglich sind seine verbalen Attacken gegenüber vulnerablen Bevölkerungsgruppen und NGOs, die bald auch gesetzlich zu ausländischen Agenten erklärt werden sollen.
Trotzdem sass Fico vor dem Attentat recht sicher im Sattel. Sein unerwartetes Comeback hat ihn ermutigt, einen noch autoritäreren Kurs zu verfolgen: Der Premierminister zielt auf die Abschaffung der Gewaltenteilung. Mit einer blitzschnell durchgesetzten Reform verschaffte er mehreren korrupten Oligarchen, Kleptokraten und dubiosen Parteisponsoren eine Amnestie. Das Parlament hat darüber hinaus einer Justizreform zugestimmt, die die Unabhängigkeit der Justiz stark einschränkt. Und am Tag des Attentats sollte die Legislative über eine zweite Fundamentalreform befinden: das neue Mediengesetz, mit dem vor allem das Fernsehen nach orbánschem Vorbild zu einer Propagandamaschinerie umfunktioniert werden soll.
Zu Jahresbeginn wurden von Fico mehrere unabhängige Medien von den offiziellen Regierungspressekonferenzen ausgeschlossen. Sie müssen seitdem vor der Tür bleiben. Fico verfolgt die Strategie, mit seinen eigenen Wähler:innen direkt über Facebook oder Telegram-Kanäle zu kommunizieren. Gruppen von jüngeren Parteimitgliedern jagten im Winter bekannten politischen Gegner:innen hinterher, um sie mit aggressiven Parolen und Videoaufnahmen zu diffamieren.
Die vierte Regierung Ficos ist seine rechteste und inkompetenteste. Der Umweltminister ist Neofaschist und Lobbyist der fossilen Industrie. Ein Coronaleugner wurde beauftragt, das Pandemiekrisenmanagement aufzuarbeiten. Kulturministerin Martina Šimkovičová, eine ehemalige Nachrichtenmoderatorin, die wegen rassistischer Kommentare ihren Job verlor, mit null Erfahrung im Kunstbetrieb, verbreitet massiv Lügen und Halbwahrheiten im eigenen propagandistischen Netzsender TV Slovan (Slawe). Ihr Staatssekretär hat vor wenigen Wochen ernsthaft behauptet, die Erde könnte flach sein – ausgerechnet er soll künftig die Verantwortung für die mediale Bildung an Schulen übernehmen.
Die Regierung hat in den letzten Monaten in allen Bereichen Gefolgsleute an die Spitze von Institutionen gesetzt: Egal ob im Nationalpark Hohe Tatra, im Kinderkulturzentrum oder in der Kunsthalle Bratislava – die Leitung muss regimetreu sein. Nicht einmal der staatliche Sicherheitsdienst blieb von diesen Tendenzen verschont: Die Wachmänner leitet jetzt ein unerfahrener Parteikader aus der Provinz. Es sind ebendiese Neulinge, die das Attentat des 71-jährigen Wutbürgers Juraj C. auf den Premierminister nicht verhindert haben.
Wie kam es zu Ficos Wiederwahl?
Viele Slowak:innen bleiben angesichts dieser gefährlichen Entwicklungen nicht still. Beide Hauptinitiativen der Regierung brachten den ganzen Winter über regelmässig Zehntausende Menschen auf die Strassen. Organisiert haben die Massenproteste drei oppositionelle Parteien sowie unterschiedliche Bürgerorganisationen. Dank der Proteste hat sich ein neuer Hoffnungsträger klarer profiliert: der linksliberale Vorsitzende der Partei Progressive Slowakei, Michal Šimečka.
Doch nun ist alles anders: Das Attentat auf Fico wird sich zweifellos für lange Zeit auf die Versammlungsfreiheit auswirken. Eine repressive Antwort auf das Attentat lassen etwa Äusserungen von radikalen Rechten befürchten: Sie fordern nun die Abschaffung der Opposition. Und während die aktuelle Präsidentin Zuzana Čaputová appellierte: «Lassen Sie uns aus dem Teufelskreis des Hasses und der gegenseitigen Beschuldigungen aussteigen», rief ihr designierter Nachfolger, Peter Pellegrini – ein Weggefährte Ficos –, alle Parteien dazu auf, ihren Europawahlkampf einzuschränken, bis sich die Lage beruhigt habe.
Wie konnte Fico überhaupt wiedergewählt werden?, fragen sich viele. Er, dessen letzte Regierung nach dem Doppelmord an dem Investigativjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová 2018 doch nach Massenprotesten gestürzt worden war. Wie ist es möglich, dass trotz so vieler Beweise von massiver Korruption ein Teil der Bevölkerung hinter ihm steht? Ficos Wiederwahl ist ein Beleg dafür, dass sich die Verhältnisse nicht so rasch ändern, wenn sich der Populismus einmal ins politische System eingeschrieben hat. Sie zeugt auch davon, dass sich erfahrene Machtmenschen sogar nach mehreren Niederlagen oder Problemen mit der Justiz mit einer zerstörerischen Kraft an die Macht zurückdrängen – so wie man das derzeit auch am Beispiel Trump beobachten kann.
Und Ficos Rückkehr zeigt, dass der Eiserne Vorhang nicht der Vergangenheit angehört. Im Wahlkampf 2023 bewirtschaftete Fico kollektive Ängste und Ressentiments, die im Osten Europas aufgrund der komplexen, von verschiedenen Okkupationen und Umbrüchen, aber auch wenig aufgearbeiteten Kollaborationen geprägten Geschichte nach wie vor herrschen. In seinem Wahlprogramm versprach er «keine weitere Patrone» für den Verteidigungskrieg der Ukraine, den er immer als «russisch-amerikanischen Konflikt» bezeichnet. Gleichzeitig stellte er an die EU die Forderung, bei den Verhandlungen über eine Friedenslösung zu helfen, anstatt weitere Militärhilfe zu leisten. Er habe «grosse Angst um slowakische Männer, die an die Front müssten» – eine weitere Lüge, die bei vielen gut ankommt.
Einer, der nichts zu verlieren hatte
Die Radikalisierung im Zeitalter der multiplen Krisen und der neuen Irrationalität erlebte auch der offensichtlich frustrierte Attentäter Juraj C., der inzwischen seine Schuld zugegeben hat. Der Mann aus Levice verdiente sein Geld als Securitymann in einem Supermarkt. Dort überlebte er vor einigen Jahren selbst einen Angriff eines aggressiven Junkies. Bis zu seiner Pensionierung hatte Juraj C. im Bergbau gearbeitet und sich auch in Gewerkschaften engagiert. Erfolglos blieb seine schriftstellerische Laufbahn. In seinem lyrischen Werk, versammelt in drei Bänden, finden sich zahlreiche fremdenfeindliche Äusserungen über Roma und Versatzstücke neofaschistischer Ideen. Juraj C. war stolzes Mitglied der paramilitärischen Gruppierung Slovenskí branci (Slowakische Söldner), eine «Bürgerwehr» mit 200 Mitgliedern, die dem radikalen völkischen Lager nahestand und 2022 aufgelöst wurde.
Die russische Invasion in der Ukraine hat Juraj C. höchstwahrscheinlich zutiefst erschüttert. Er lehnte Ficos Putin-nahe Aussenpolitik ebenso ab wie die umstrittene Justizreform und den Umbau des öffentlich-rechtlichen Senders RTVS und nahm auch an einigen Demonstrationen gegen die Regierung teil. Er ist einer von vielen, die sich in der komplizierten globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts verloren fühlen, und er hatte nichts zu verlieren.
Gewalt und Anfeindungen gehören inzwischen in der Slowakei sowie in vielen weiteren europäischen Ländern zum Alltag von Politiker:innen. In Mitteleuropa ist die Lage besonders kompliziert und die Polarisierung tief. Die Region, eine Pufferzone zwischen den Kriegs- und Krisengebieten in der Ukraine und Belarus auf der einen sowie Deutschland und Österreich auf der anderen Seite, ist aufgrund der schrecklichen historischen Erfahrungen emotional stark in die Geopolitik involviert und extrem gefordert. Gerade hier wird sich die demokratische Zukunft Europas entscheiden.
Kommentare
Kommentar von renée
Do., 23.05.2024 - 07:12
Grossen Dank für diesen aufklärenden Artikel. "Ficos Wiederwahl ist ein Beleg dafür, dass sich die Verhältnisse nicht so rasch ändern, wenn sich der Populismus einmal ins politische System eingeschrieben hat.“ Da kommt mir Ces Kaiser’s Lied in den Sinn, das nicht an Aktualität eingebüsst hat: "Das Geschäft mit dem Tod ist ein sicheres Geschäft, das Geschäft mit der Angst ist ein Bombengeschäft und der eherne Götze auf goldenem Thron heisst Sensati- Sensation.“