Massenproteste in Bratislava: Ein Land in Aufruhr

Nr. 11 –

Der Mord am Reporter Jan Kuciak und seiner Verlobten hat die Slowakei in eine tiefe Krise gestürzt. Zehntausende gehen gegen längst überwunden geglaubte Verhältnisse auf die Strasse.

Gerade noch lebten viele SlowakInnen im Gefühl, ihr Land sei, bei allen Mängeln, ein demokratischer Rechtsstaat. Und gerade noch genoss die Slowakei den wohl besten Ruf der Region – ein Land mit hervorragenden Wirtschaftszahlen und eines, das politisch einen anderen Weg ging als die Nachbarn Ungarn und Polen.

Nun hat der brutale Mord am Investigativjournalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten Martina Kusnirova die SlowakInnen zutiefst erschüttert. Auch der internationale Ruf des Landes ist praktisch zerstört. Die Slowakei erlebt die tiefste Krise seit ihrer Staatsgründung vor 25 Jahren.

Dass Jan Kuciak wegen seiner Arbeit als Journalist ermordet wurde, bezweifelt niemand. Wer das junge Paar, das Anfang Mai heiraten wollte, erschoss, darüber ist bisher öffentlich nichts Konkretes bekannt. Aber man weiss, in wessen Interesse Kuciaks Tod lag: Der 27-Jährige hatte über die zweifelhaften Geschäfte slowakischer Oligarchen recherchiert wie auch über die Verbindungen zwischen mutmasslichen Mitgliedern des italienischen Mafianetzwerks ’Ndrangheta und der Regierung in Bratislava. Zuletzt ging Kuciak offenbar Korruptionsfällen in der Justiz nach und untersuchte die geschäftlichen Aktivitäten in der Familie eines umstrittenen Antikorruptionsbeamten.

Das Model und der Mafioso

Kuciaks letzte, als Fragment veröffentlichte Recherche dokumentierte, dass mutmassliche ’Ndrangheta-Mitglieder über zwei Personen direkten Zugang zur Kanzlei des Ministerpräsidenten Robert Fico hatten: über das ehemalige Dessousmodel Maria Troskova, die die persönliche Assistentin und mutmassliche Geliebte Ficos war, sowie über den ehemaligen Abgeordneten Viliam Jasan, der als Sekretär des nationalen Sicherheitsrats amtierte. Beide waren zuvor mit einem italienischen Geschäftsmann aus der Ostslowakei, der der ’Ndrangheta zugerechnet wird, unternehmerisch tätig gewesen. Und beide hatten in ihrer Funktion als RegierungsmitarbeiterInnen Zugang zu geheimen Informationen. Troskova begleitete Fico sogar zu Treffen mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk.

Wegen solcher Verhältnisse, die im Mord an einem Journalisten kulminierten, fühlen sich nun viele SlowakInnen an die Herrschaft des Autokraten Vladimir Meciar in den neunziger Jahren erinnert. Damals gab es enge Verbindungen zwischen der Regierung und dem organisierten Verbrechen, Meciars politische Probleme wurden mal mit Entführungen, mal mit Autobomben gelöst.

Spätestens mit dem EU-Beitritt der Slowakei 2004 schien all dies Geschichte zu sein. Dennoch haben nun viele SlowakInnen den Eindruck, sie hätten sich Illusionen über ihr Land gemacht. Der Staatspräsident Andrej Kiska, früher Unternehmer, heute Philanthrop und eine Art Gewissen seines Landes, sagte kürzlich in einer Ansprache, «etwas Schlechtes» stecke «in den Grundfesten unseres Staates».

Proteste so gross wie 1989

Tatsächlich deckten Journalisten in den vergangenen Jahren immer wieder ungeheuerliche Affären von PolitikerInnen und UnternehmerInnen auf, ohne dass dies einschneidende personelle oder juristische Konsequenzen gehabt hätte. Ein Symbol für die Korruption der slowakischen Politik war dabei der ehemalige Innenminister Robert Kalinak, der zwei Wochen nach dem Mord an Kuciak schliesslich zurücktrat und dem zahlreiche Vergehen vorgeworfen werden – von Amtsmissbrauch über Strafvereitelung bis zu Bestechlichkeit.

Gegen die Korruption gingen in den vergangenen Jahren immer wieder Tausende auf die Strasse. Allerdings flauten die Proteste jedes Mal bald wieder ab. Nun jedoch sind sie so gross wie seit dem Ende der Diktatur im Herbst 1989 nicht mehr. Zehntausende demonstrieren jeden Freitag in der Hauptstadt Bratislava und in anderen Städten des Landes gegen Korruption und für die Aufklärung des Mordes an Jan Kuciak und seiner Verlobten. Der Druck der Öffentlichkeit ist gewaltig – nicht nur auf die Regierung, sondern auch auf die politische Elite insgesamt.

Wohin die Slowakei nun steuert, wagt niemand zu prognostizieren. Klar ist: Die Menschen wollen, wie das Motto der Protestbewegung lautet, eine «anständige Slowakei».