Rom:nja aus der Ukraine: Wieso sprechen die denn Ungarisch?
Mit einer Kampagne gegen Rom:nja greifen rechte Politiker:innen den Schutz für ukrainische Geflüchtete an. Dabei sind die Vorwürfe schnell widerlegt. Und der Kanton Zürich zeigt, wie es auch gehen könnte.

Es war bloss der traurige Höhepunkt einer längst aus dem Ruder gelaufenen Kampagne, als sich auch noch SVP-Hardliner Pierre-Alain Schnegg zu Wort meldete. Anfang Mai gab der Berner Regierungsrat den Tamedia-Zeitungen ein Interview, das nur so gespickt war von Stereotypen, Hetze und Vorurteilen.
Durch falsche Identitäten mitsamt gekauften Papieren würden Rom:nja den für Ukrainer:innen eingeführten Schutzstatus S missbrauchen, sagte Schnegg. Nicht nur verhielten sich diese Leute «nicht wie Kriegsflüchtlinge», sie kämen auch gar nicht aus der Ukraine. Die angeblich erbeutete Sozialhilfe wiederum müssten sie «Organisationen» abgeben. Die Forderung, die Schnegg daraus ableitete: den Status S abschaffen.
Richtig Fahrt aufgenommen hatte die Empörungsdebatte im Winter in St. Gallen. Schon dort war von Rom:nja die Rede, die in Scharen in die Ostschweiz kämen, aber trotz ihrer angeblichen Herkunft aus der Ukraine weder Russisch noch Ukrainisch sprächen. Ausgehend von eingegangenen Meldungen witterte Boris Tschirky, Mitte-Fraktionschef im St. Galler Kantonsrat, Betrug – und machte Druck auf die Regierung. Sekundiert wurde er dabei von Parteikollege Benedikt Würth, der das Anliegen in Form eines Vorstosses auf die nationale Bühne holte. Auch andere Kantone meldeten sich mit Geschichten rund um eingereiste Rom:nja, die alle «brandneue Pässe der gleichen Behörde» hätten.
All diese Berichte waren meist im Konjunktiv formuliert, Belege für die Behauptungen blieben die Verantwortlichen schuldig. Für die Politik ist der Fall dennoch längst klar: In der kommenden Session beugt sich der Ständerat über Würths Motion zur Verschärfung des Status S, im Nationalrat ist ein gleichlautender Vorstoss hängig. Eingereicht hat ihn mit Nicolò Paganini ein weiterer Vertreter der St. Galler Mitte-Achse.
Am äussersten Rand
Befragt man Stéphane Laederich zu den Vorwürfen, formuliert er einen einfachen Grundsatz: «Bis das Gegenteil bewiesen ist, sind das Ukrainer:innen – und als Ukrainer:innen bekommen sie den Status S, solange in der Ukraine Krieg herrscht», sagt der Direktor der Rroma Foundation, einer Stiftung, die sich für die Rechte der Minderheit in der Schweiz einsetzt. «Dass man sie beschuldigt, Papiere gefälscht oder gekauft zu haben, ist eine rassistische Unterstellung kriminellen Handelns.» Rom:nja würden benutzt, um generell Stimmung gegen den Status S zu machen, ist er überzeugt. Wie viele Schutzsuchende aus der Ukraine der Gemeinschaft angehören, lässt sich nicht eruieren, weil das Staatssekretariat für Migration bewusst keine Daten zur ethnischen Zugehörigkeit Asylsuchender erhebt.
Vor zwei Jahren, als Russlands Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine erst seit ein paar Monaten lief, verfasste Laederich einen Bericht zur Situation der Rom:nja in der Ukraine. Wer sich durch die über sechzig Seiten des Berichts liest, fragt sich, wie die Debatte überhaupt derart eskalieren konnte. Gleich mehrere Vorwürfe lassen sich nach der Lektüre plausibel entkräften.
In der Ukraine wohnen je nach Schätzungen bis zu 400 000 Rom:nja; weil viele es aus Angst vor Diskriminierung bevorzugen, ihre Ethnie nicht zu nennen, liegen keine genauen Zahlen vor. Einige Gruppen sind über das ganze Land verstreut, gut in die Mehrheitsgesellschaft integriert und deshalb nach aussen kaum als Rom:nja zu erkennen, andere leben segregiert in geschlossenen Siedlungen im Süden oder Westen des Landes. Gerade in diesen Siedlungen ausserhalb der Städte gebe es oft weder fliessend Wasser noch Strom noch Sanitäranlagen, so der Bericht, viele Rom:nja hätten nie eine Schule besucht, schreiben und lesen gelernt. Eine Existenz am äussersten Rand der Gesellschaft.
«Die Probleme sind sozialer Natur und haben viel mit Armut und Not zu tun und nichts mit dem Umstand, dass es Rom:nja sind», sagt Laederich. Dass in den letzten Monaten immer mehr Rom:nja aus dem Oblast Transkarpatien an der Grenze zu Ungarn geflohen sind, erklärt er sich mit einer Registrierungskampagne: Um mehr Männer fürs Militär zu mobilisieren, hätten die ukrainischen Behörden in der Oblasthauptstadt Uschhorod angefangen, den Rom:nja Ausweispapiere auszuhändigen. Da viele vorher undokumentiert gelebt und weder Heirats- noch Geburtsurkunden besessen hätten, hätten sie die neuen Reisepässe dazu benutzt, das Land zu verlassen.
Eine Erklärung hat der Experte auch für den Vorwurf, dass die Rom:nja aus den Transkarpaten weder Russisch noch Ukrainisch beherrschen. Bis zum Ersten Weltkrieg habe Transkarpatien zu Österreich-Ungarn gehört, wo die Rom:njasprache Romanes verboten gewesen sei. Später sei das Gebiet von der Sowjetunion annektiert worden. Aus diesem Grund hätten viele Leute, darunter auch Rom:nja, traditionell Ungarisch gesprochen. Hinzu komme die Politik von Ungarns Premier Viktor Orbán, allen Ungarischsprachigen einen Pass anzubieten, damit die ihn wählen würden. Einige gut ausgebildete Rom:nja hätten schon vor dem Krieg von diesem Angebot Gebrauch gemacht und seien ausgewandert.
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine habe sich die Situation der Rom:nja in der Region drastisch verschlechtert. «Der Staat hat versagt: Hatten viele Rom:nja zuvor in den sowjetischen Fabriken und Kolchosen geschuftet, ist die Arbeitslosigkeit seither hoch, auch die Schulpflicht für die Kinder wird nicht durchgesetzt», sagt Laederich. Und gerade die Rom:nja aus dem Westen der Ukraine seien stark von Rassismus betroffen, würden oft als Bettler:innen, Dieb:innen und Mitglieder von Mafiaclans verunglimpft.
Es sind antiziganistische Stereotype, die seit Jahrhunderten bestehen und sich auch in der Schweiz – Stichwort: Kindswegnahmen durch die Pro Juventute – historisch tief eingeschrieben haben. Die bereits in der Ukraine erfahrene Stigmatisierung wird durch Vorwürfe wie jene der illegal erworbenen Pässe bloss noch einmal verstärkt.
Überfordert von der Bürokratie
Stefan Heinichen ist Jugendarbeiter und hat sich zum interkulturellen Vermittler weiterbilden lassen. Seit vielen Jahren schon begleitet er Geflüchtete beim Ankommen. Auch ihn empört die aktuelle Debatte: «Politiker:innen können sagen, was sie wollen, aber dass die Journalist:innen deren Behauptungen eins zu eins wiederholen, statt selbst zu recherchieren, finde ich skandalös.» Bislang habe er keinerlei Beweise für die vielen Anschuldigungen der letzten Wochen gesehen.
Aktuell betreut Heinichen, der auch Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus ist, viele Rom:njafamilien aus der Ukraine. Praktisch alle seien das erste Mal in ihrem Leben in Westeuropa. «Sie kennen sich mit dem hiesigen System nicht aus, sind vielfach von der Bürokratie überfordert.» Für viele sei die Situation ebenso herausfordernd wie für die Gemeinden, in denen die Geflüchteten unterkämen. «Es ist, als würden Menschen aus der Zeit von Jeremias Gotthelf ins 21. Jahrhundert katapultiert», meint er.
Im Unterschied zu anderen Geflüchteten, die einzeln reisten, kämen die Rom:nja oft mit der ganzen Grossfamilie, was für die Behörden nicht immer einfach sei. Hinzu komme, dass der Rassismus, dem die Rom:nja in der Ukraine ausgesetzt seien, sich in der Schweiz reproduziere: Es habe auch schon Geflüchtete gegeben, die nicht mit Rom:nja in der gleichen Unterkunft hätten leben wollen. Bereits 2022, als mit den anderen Ukrainer:innen auch die ersten Rom:nja in die Schweiz flohen, war Heinichen in den Kantonen unterwegs, vermittelte den Asylbehörden und den Gemeinden Wissen über die Minderheit. «Für mich ist es wichtig, dass sie die Rom:nja genauso behandeln wie andere Geflüchtete», sagt er.
Anders als der Berner Regierungsrat Schnegg, der lieber Behauptungen aufstellt, schritt der Kanton Zürich zur Tat. Vor einigen Wochen sei die Fachstelle für Integration auf ihn zugekommen, erzählt Heinichen, gemeinsam hätten sie ein «temporäres Entlastungsangebot» geschaffen, das derzeit noch am Anfang steht. Es sieht vor, Familien bei Behördengängen und anderen Belangen zu unterstützen, aber auch die Gemeinden bei Verständigungsproblemen oder Fragen rund um den Schulbesuch der Rom:njakinder zu beraten.
Auch in anderen Kantonen gebe es entsprechende Bestrebungen, sagt Vermittler Heinichen. Was fehle, sei Personal mit den für eine solche Arbeit nötigen Sprachkenntnissen und dem Wissen über Kultur und Lebensumstände der Rom:nja. «Es braucht viel Geduld und einen langen Atem, aber wir müssen uns dem stellen. Dass diese Menschen in der Schweiz Zuflucht suchen, ist schliesslich die Realität.»