Marxismus: Trümmer für den Neubau
Knapp 7000 Seiten – und erst beim Buchstaben N: Das «Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus» bewahrt eine historische Bewegung und Theorie auf, in Hunderten von Stichwörtern.
Nehmen wir die Moral. Sie durchzieht Individuen und Gesellschaft. Erst kommt das Fressen und dann die Moral, lästerte Bertolt Brecht. Aber sie kommt dann eben doch, die Moral.
Das analysiert Peter Jehle im entsprechenden Stichwortartikel im «Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus» («HKWM»). Vor rund 35 Jahren begonnen, ist dieses Mammutwerk mittlerweile im zweiten Teilband des neunten Bandes beim Stichwort «Nazismus» angelangt. Jehles Eintrag umfasst 36 Spalten auf 18 Grossseiten. Er führt durch die wechselhafte Geschichte der abstrakten Konzeption der Moral ebenso wie konkreter Moralen, von Sprichwörtern und Kants kategorischem Imperativ über Robespierres Terror der Tugend bis zur Rolle der Moral bei Karl Marx, bei Antonio Gramsci und Simone de Beauvoir.
Dabei hat Moral einen schlechten Ruf. Zu einem Regelsystem verfestigt, tritt sie mit scheinbar vom Himmel gefallenen oder an diesen gerichteten Werten auf: Du sollst nicht. Du musst. Je nach Klasse, Geschlecht und Rasse ist sie anders ausgeprägt, verlangt aber die Einordnung in die herrschenden Verhältnisse. Andererseits darf die Moral nicht zu aufdringlich auftreten. Der Moralapostel erscheint als lächerliche Figur, moralinsauer stossen allzu strikte Verhaltensregeln auf. Noch die abschätzige Sprache vom «Gutmenschen» zehrt von dieser Ranküne.
Doch wer die Moral lächerlich macht, propagiert die Unmoral. Wer jene verachtet, die Flüchtlingen helfen wollen, will diese erbarmungslos über die Grenze stellen. Ob und wie und welche Moral verteidigt werden soll, hängt, so zeigt Jehle, vom politischen Kräftefeld ab. Dabei referiert er anthropogenetische Grundlagen als «spezifisch menschlichen Sinn für Gerechtigkeit und Fairness», der sich in der gegenseitigen Kooperation zeigt. Entsprechend bleibt in allen Emanzipationsbewegungen ein moralischer Impuls ebenso notwendig wie möglich.
Keine Grosstheorie
Ein Wörterbuch des Marxismus wirkt aus der Zeit gefallen. Es blickt auf Trümmer der Geschichte zurück, liesse sich mit Walter Benjamin sagen, auf katastrophal zusammengebrochene Hoffnungen, die bis in die Gegenwart lähmen. Da jeder Artikel die marxistische Diskussion zum entsprechenden Gegenstand aufarbeitet, ist das «HKWM» vorab ein Archiv. Und zwar ein Archiv verschiedener Marxismen. Dass es keine einheitliche marxistische Grosstheorie geben kann, ist gerade ein Resultat der Geschichte, die das Wörterbuch rekonstruiert. Das ist seine historische Funktion.
Die Rekonstruktion zeigt sich nicht nur im Material, sondern vor allem auch in der Methode. Da ist das Wörterbuch kritisch. Eine Vielzahl von Autor:innen mit unterschiedlichen Herangehensweisen sind beteiligt. Gemeinsam ist wohl ein «materialistischer» Ansatz, der also der Ökonomie, den Produktivkräften, dem Naturzusammenhang eine bedeutsame, aber keineswegs alleinige Funktion zuerkennt, sondern Gesellschaften zugleich als ein vielfältig gegliedertes Ganzes versteht.
Dabei geht es nicht nur um «marxistische» Stichwörter, sondern auch um marxistische Positionen zu einer Vielzahl von Begriffen und Themen. In diesem neunten Band wird etwa die «Montage» als ästhetisches Prinzip behandelt. Oder die «Möglichkeit» als philosophisches Konzept, zu dem das Lexikon nicht weniger als vier Artikel enthält. Die «Natur» kommt ebenso vor wie die «nationale Frage» oder der «Nahostkonflikt».
Stamokap und Kulturkampf
Zwei Beispiele. Einst unterbelichtet, ist der Naturbegriff in linken Theorien seit einiger Zeit entschieden angereichert worden, bis hin zum Ökosozialismus, der beinahe innerlinker Mainstream geworden ist. Zu einem seit längerem schwelenden Kulturkampf findet sich nicht nur das Stichwort «multikulturelle Frage», sondern auch «multikulturelle Politiken». Bei Letzteren wird besonders Lateinamerika berücksichtigt und die dortige Diskussion um indigene Kultur und Politik – die Ausweitung der Diskussion über den westlichen Raum hinaus ist eine Stärke des Wörterbuchs, für das Mitarbeiter:innen aus allen Kontinenten schreiben.
Ein Stichwort wie «Monopolkapital» ist spezifischer in der marxistischen Tradition verankert. Im Begriff verbindet sich die quasi «wertneutrale» Beschreibung einer Konzentration von marktmächtigen Unternehmen mit dem marxistischen Ansatz, die ökonomischen Triebkräfte in unterschiedliche Kapitalfraktionen zu differenzieren. Dieses Verständnis entstand mit der Entwicklung der Grossindustrie um 1900; wohin solche Monopolisierung führe und wie sie politisch zu nutzen sei, wurde von Rudolf Hilferding sozialdemokratisch und von Lenin revolutionär ausgelegt. In den sechziger Jahren sprachen Vertreter:innen einer bestimmten theoretisch-politischen Richtung – etwa Ernest Mandel – erneut vom Monopolkapitalismus und andere – etwa die deutschen Jusos – vom Stamokap, dem staatsmonopolistischen Kapitalismus. Vergangene Zeiten.
Theoretisch hat das Konzept des Monopolkapitals Schwächen, weil damit, so wird im Artikel argumentiert, die Konzentrationsprozesse zumeist als zwangsläufig behauptet und bestimmte Kapitalfraktionen als dominant gesetzt werden. Das «HKWM» rekonstruiert hier lange zurückliegende innermarxistische Debatten. Dabei würde es heute guttun, wieder einmal von unterschiedlichen Kapitalfraktionen zu sprechen. Vielleicht liessen sich so die Beziehungen zwischen Big Tech, Rohstofffirmen und Banken genauer fassen.
Trotz seiner langen Produktionszeit kann das Wörterbuch auch an aktuelle Entwicklungen anknüpfen, etwa mit dem Stichwort «Mosaik-Linke», die, als das Unterfangen begann, als Konzept noch nicht existierte. Der Artikel zeigt auch eine für ein Wörterbuch notwendige Qualität: Obwohl er von einem der Protagonist:innen der Diskussion um die «Mosaik-Linke» verfasst worden ist, informiert er präzise über kritische Positionen dazu.
Ein einzigartiger Arbeitsprozess
Das «HKWM» verlangt nach einem starken Bücherregal. Die bisherigen neun Bände in dreizehn Teilbänden umfassen etwa 4000 grossformatige Seiten und beanspruchen 65 Zentimeter Platz. Das Wörterbuch ist auch ein unvergleichlicher und vielleicht nicht mehr zu wiederholender Arbeitsprozess. Begründet und vorangetrieben vom Philosophen Wolfgang Fritz Haug und der Soziologin Frigga Haug, wird es gegenwärtig von einer breiteren Redaktion und einem grossen Beirat verantwortet. Nicht weniger als 800 Wissenschaftler:innen aus aller Welt sind mittlerweile daran beteiligt. Dabei durchläuft jeder Artikel verschiedenste Diskussionsphasen, in Workshops und Peer Reviews.
Ich habe das selbst mitgemacht. Vor fünfzehn Jahren schrieb ich einen Beitrag zum Stichwort «Kriminalroman», der 2010 im Band 7/II erschien; und ich habe damals zugesagt, den Beitrag zum Stichwort «Sport» zu schreiben. In der bedauerlichen Einschätzung, dass der entsprechende Band 13 vielleicht erst in zehn Jahren erscheinen wird, werde ich die Arbeit am Artikel noch ein wenig vor mir herschieben und vorläufig durch Lektüre in diesem unerschöpflichen Fundus kritischen Denkens ersetzen.
