Globales Kriegsregime: Das Desertieren neu denken

Nr. 23 –

Die Welt ist zersplittert, während Krieg und Kapital immer neue Verbindungen schmieden. Ein Plan, wie jenseits falscher Allianzen und alter Hegemonien ein neuer Internationalismus zu gründen wäre.

Luftaufnahme: verletzte US-Soldaten werden im Oktober 2010 in der afghanischen Provinz Kandahar zu einem Helikopter getragen
Wir sollten uns fragen, wer vom anhaltenden Scheitern der Kriegsmaschine profitiert und was sich hinter ihren vordergründigen Zielen verbirgt. Verletzte US-Soldaten werden im Oktober 2010 in der afghanischen Provinz Kandahar zu einem Helikopter getragen. Foto: David Guttenfelder, Keystone

Wir scheinen in eine Phase des endlosen Krieges eingetreten zu sein. Sie betrifft den ganzen Globus und rüttelt an den zentralen Knotenpunkten des Weltsystems. Alle zeitgenössischen Konflikte haben ihre je eigene Genealogie, ihre eigenen Wetteinsätze und Risiken, aber es lohnt sich, einen Schritt zurückzutreten, um sie in einem grösseren Zusammenhang zu sehen. Unsere Hypothese lautet, dass sich gerade ein globales Kriegsregime herausbildet – ein Regime, in dem Regierungs- und militärische Verwaltungen eng mit kapitalistischen Strukturen verflochten sind. Um die Dynamik der einzelnen Kriege zu begreifen und ein passendes Projekt des Widerstands zu formulieren, müssen wir zuerst die Konturen dieses Regimes verstehen.

Rhetorik und Praktiken globaler Kriegsführung haben sich seit den frühen 2000er Jahren dramatisch verändert. Damals waren noch Begriffe wie «Schurkenstaat» und «gescheiterter Staat» die ideologischen Schlüsselkonzepte, mit denen man den Ausbruch militärischer Konflikte erklärte, die definitionsgemäss stets an der Peripherie stattfanden. Voraussetzung dafür war ein stabiles und effizientes internationales Regierungs- und Kontrollsystem, angeführt von den führenden Nationalstaaten und globalen Institutionen.

Heute steckt dieses System in einer Krise und ist unfähig, die Ordnung aufrechtzuerhalten. In bewaffnete Konflikte, wie jene in der Ukraine und in Gaza, sind ein paar der weltweit mächtigsten Akteure involviert, was das Gespenst einer nuklearen Eskalation heraufbeschwört. Der Erklärungsansatz der Weltsystemtheorie hat solche Umbrüche üblicherweise als Zeichen einer hegemonialen Wende angesehen, vergleichbar mit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, die den Übergang von einer britischen zu einer globalen Hegemonie der USA markierten. Aber im heutigen Kontext bedeutet dieser Umbruch keinen klaren Machttransfer: Der Niedergang der US-Hegemonie läutet bloss eine Phase ein, in der die Krise zur Norm geworden ist.

Autoritätskult und Logistik

Wir schlagen also vor, diese neue Phase mit dem Begriff «Kriegsregime» zu erfassen. Dieses Regime ist zuallererst in der Militarisierung des Wirtschaftslebens zu erkennen und in dessen zunehmender Ausrichtung an den Anforderungen einer «nationalen Sicherheit». Nicht nur werden immer mehr öffentliche Gelder für die Aufrüstung bereitgestellt, sondern die wirtschaftliche Entwicklung als Ganzes ist auch immer stärker von Militär- und Sicherheitslogiken geprägt, wie der spanische Aktivist und Philosoph Raúl Sánchez Cedillo im Buch «Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine» schreibt.

Auch die ausserordentlichen Fortschritte auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz werden zu einem grossen Teil von Militärinteressen und Kriegstechnologien vorangetrieben. Logistische Kreisläufe und Infrastrukturen sind ebenfalls an bewaffnete Konflikte und Operationen angepasst. Die Grenzen zwischen dem Ökonomischen und dem Militärischen verwischen zusehends; in einigen Wirtschaftsbereichen sind sie bereits ganz verschwunden.

Das Kriegsregime zeigt sich aber auch in einer Militarisierung des Sozialen: manchmal explizit, indem jeder Widerstand einfach unterdrückt wird oder wenn sich plötzlich alle um eine Nationalflagge scharen. Aber es gibt auch allgemeinere Erscheinungsformen, etwa in Form eines wachsenden Autoritäts- und Machtkults auf ganz unterschiedlichen Stufen der Gesellschaft. Die feministische Kritik an dieser Militarisierung betont schon länger die toxischen Männlichkeiten, die sie befördert, wie auch andere Verzerrungen, die allen sozialen Beziehungen und Konflikten eine militärische Logik aufzwingen.

Rechte Galionsfiguren wie Jair Bolsonaro, Wladimir Putin und Rodrigo Duterte ziehen eine klare Verbindung zwischen ihrem militaristischen Ethos und ihrer Liebe zu gesellschaftlichen Hierarchien. Und sogar wenn es nicht so deutlich artikuliert wird, können wir die Verbreitung eines reaktionären politischen Repertoires beobachten, das Militarismus mit gesellschaftlicher Repression verknüpft: Rassistische und sexistische Hierarchien werden verschärft; Migrant:innen werden attackiert und entrechtet; Abtreibungen werden massiv erschwert oder ganz verunmöglicht; die Rechte von Schwulen, Lesben und trans Menschen werden ausgehöhlt – während gleichzeitig die Gefahr eines heraufziehenden Bürgerkriegs beschworen wird.

Scheiternde Kriegsmaschine

Das aufkommende Kriegsregime zeigt sich auch im scheinbar paradoxen anhaltenden Scheitern hegemonialer Kriegskampagnen. Seit mindestens einem halben Jahrhundert verlieren die USA alle ihre Kriege, von Vietnam bis Afghanistan und dem Irak, obwohl ihre Armee die am grosszügigsten finanzierte und technologisch fortgeschrittenste auf dem Planeten ist. Ein Symbol dieses Scheiterns ist der Militärhelikopter, der die letzten amerikanischen Armeeangehörigen davonträgt und eine in vielerlei Hinsicht zerstörte Landschaft hinterlässt. Warum scheitert eine solche hochgerüstete Kriegsmaschine ein ums andere Mal? Eine naheliegende Antwort lautet, dass die USA nicht mehr der imperialistische Hegemon sind, als den einige sie immer noch sehen.

Die Dynamik des Scheiterns legt aber auch die umfassende globale Machtstruktur bloss, die solche Konflikte aufrechterhält. Hier lohnt sich ein Blick zurück auf Michel Foucaults Analysen zum anhaltenden Unvermögen der Gefängnisse, ihre angestrebten Ziele zu erreichen. Obwohl seit jeher darauf angelegt, kriminelles Verhalten zu korrigieren und zum Besseren zu verändern, hat das Strafvollzugssystem, wie Foucault bemerkt, oft das Gegenteil bewirkt: steigende Rückfallraten, verurteilte Täter, die noch tiefer in die Kriminalität abrutschen, und so weiter. «Vielleicht», so schlägt er vor, «sollte man das Problem umkehren und sich stattdessen fragen, wer oder was vom Versagen des Gefängnisses profitiert […]. Vielleicht sollte man versuchen herauszufinden, was sich hinter dem offenkundigen Zynismus der Strafjustiz verbirgt …»

Angesichts der beschriebenen Kriegsmaschine sollten wir das Problem ebenfalls umkehren und uns fragen, wer von deren anhaltendem Scheitern profitiert und was sich hinter ihren vordergründigen Zielen verbirgt. Dabei entdecken wir keine Intrige militärischer und politischer Führer, die hinter verschlossenen Türen Ränke schmieden. Vielmehr zeichnet sich etwas ab, was Foucault ein «gouvernementales Projekt» nennen würde.

Umkämpfte Machtverteilung

Die endlose Parade bewaffneter Konfrontationen, grosser und kleiner, dient der Unterstützung einer militarisierten Regierungsstruktur, die an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Formen annimmt und auf mehreren Ebenen von Kräften dirigiert wird, zu denen die führenden Nationalstaaten, die supranationalen Institutionen und die konkurrierenden Kapitalbereiche gehören. All diese Akteure stimmen manchmal miteinander überein, manchmal geraten sie aber auch in Konflikte.

Das enge Verhältnis zwischen Krieg und den Kreisläufen des Kapitals ist nichts Neues. Die moderne Logistik hat militärische Wurzeln im Kolonialismus und im transatlantischen Sklav:innenhandel. Doch die gegenwärtige politische Lage ist geprägt davon, dass «Geopolitik» und «Geoökonomie» zunehmend ineinandergreifen, während andauernd Räume von Wertschöpfung und Akkumulation erschaffen und erneuert werden, die sich rund um die Welt mit der umkämpften Verteilung von politischer Macht kreuzen.

Die logistischen Probleme der Coronapandemie bildeten die Kulisse für eine Reihe nachfolgender militärischer Unruhen. Bilder von Containern, die in Häfen feststeckten, signalisierten, dass der Welthandel ins Stocken geraten war. Konzerne unternahmen verzweifelte Versuche, die Krise zu bewältigen, indem sie alte Handelsrouten neu erschlossen oder neue eröffneten. Darauf folgten die Invasion der Ukraine und die logistischen Unterbrüche, die sich daraus ergaben. Der Öl- und Gashandel von Russland nach Deutschland war eines der weitreichendsten Opfer dieses Krieges, vor allem nach der spektakulären Sabotage der Nordstream-Pipeline in der Ostsee. Plötzlich sprachen alle wieder von Nearshoring oder Friendshoring als Strategien, um die westlichen Wirtschaften von den Energievorräten Moskaus zu entwöhnen. Der Krieg brachte auch den Fluss von Weizen, Mais und Ölsaaten ins Stocken. In Europa schossen die Energiepreise in die Höhe; in Afrika und Lateinamerika wurden Grundnahrungsmittel knapp; zwischen Polen, der Tschechischen Republik und der Ukraine kam es zu Spannungen, nachdem die Exportbeschränkungen für landwirtschaftliche Produkte aus der Ukraine aufgehoben worden waren.

Die deutsche Ökonomie stagniert, und mehrere weitere EU-Mitgliedstaaten sahen sich gezwungen, ihre Energieversorgung neu zu organisieren, indem sie mit nordafrikanischen Staaten Verträge aushandelten. Russland hat seine Energieexporte in Richtung Osten umgeleitet, vor allem nach China und Indien. Dank neuer Handelsrouten – zum Beispiel via Georgien – kann Russland die westlichen Sanktionen zumindest teilweise umgehen. Diese Reorganisation logistischer Räume ist eindeutig eine der wesentlichen Komponenten des Konflikts.

Zunehmende Fragmentierung

Auch in Gaza sind Abmachungen zu Logistik und Infrastruktur entscheidend, obwohl sie oft durch das unerträgliche Gemetzel verschleiert werden. Die USA hatten gehofft, der Wirtschaftskorridor Indien – Naher Osten – Osteuropa, der sich von Indien bis nach Europa erstreckt und durch die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien, Israel und Griechenland führt, könnte ihren regionalen wirtschaftlichen Einfluss stärken und ein Gegengewicht zu Chinas «Neuer Seidenstrasse» bilden.

Dies hing aber ab vom Projekt einer Normalisierung der arabisch-israelischen Beziehungen, die durch den herrschenden Krieg womöglich endgültig unterhöhlt worden sein könnten. Darüber hinaus haben die Angriffe der Huthis im Roten Meer die grossen Schiffsunternehmen dazu gezwungen, den Suezkanal zu meiden und längere, teurere Routen zu nehmen. Die US-Armee baut nun einen Hafen vor der Küste Gazas, angeblich, um Hilfslieferungen zu ermöglichen. Die palästinensischen Organisationen wiederum behaupten, dessen eigentlicher Zweck sei die Ermöglichung ethnischer Säuberungen.

Die Kämpfe in der Ukraine und in Gaza sind zwei Beispiele dafür, wie weltweit Kapitalräume neu erschaffen werden. Schlüsselorte der Zirkulation werden unter einem Kriegsregime und durch die aktive Intervention einzelner Nationalstaaten umgestaltet. Voraussetzung dafür ist eine Vermischung politischer und ökonomischer Logik. Noch viel offensichtlicher ist dieses Phänomen in der indopazifischen Region: Wachsende Spannungen im Südchinesischen Meer und Militärallianzen wie Aukus (ein Militärbündnis zwischen Australien, Grossbritannien und USA) beeinflussen dort ökonomische Netzwerke wie die «Umfassende und fortschrittliche Vereinbarung für eine Trans-Pazifische Partnerschaft» (eine Freihandelszone, gebildet von Australien, Brunei, Kanada, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam). In dieser Übergangszeit kann jeder Konflikt oder Unterbruch einer Lieferkette diesem oder jenem Staat oder kapitalistischen Akteur dienlich sein. Doch durch eine zunehmende räumliche Fragmentierung und das Entstehen unvorhersehbarer Hindernisse ist das System als Ganzes in Bedrängnis geraten.

Im Widerstand gegen das globale Kriegsregime sind Rufe nach Waffenstillständen und Waffenembargos unabdingbar. Von grundlegender Bedeutung für den gegenwärtigen Moment ist aber auch eine kohärente internationalistische Politik. Koordinierte Praktiken des Desertierens sind notwendig, damit sich Menschen radikal aus dem herrschenden Status quo befreien können. Zur Zeit der Niederschrift dieses Textes zeichnet sich ein solches Projekt am deutlichsten in der globalen Solidaritätsbewegung mit Palästina ab.

Ein breiter sozialer Wandel

Im 19. und 20. Jahrhundert hat man Internationalismus oft als Solidarität unter nationalen Projekten verstanden. Dies ist auch heute noch manchmal der Fall, etwa bei der Klage, die Südafrika wegen Verdachts auf Verletzung der Uno-Völkermordkonvention durch die israelische Militäroperation in Gaza vor dem Internationalen Gerichtshof eingereicht hat. Doch das Konzept einer nationalen Befreiung, das den antikolonialen Kämpfen der Vergangenheit als Grundlage diente, scheint zunehmend ausser Reichweite zu sein. Während der Kampf um palästinensische Selbstbestimmung anhält, ist die Aussicht auf eine Zweistaatenlösung und einen souveränen palästinensischen Staat zunehmend unrealistisch. Wie könnten wir also ein Projekt der Befreiung gestalten, ohne eine nationale Souveränität anzustreben? Was wir erneuern und ausweiten müssen, ist eine nichtnationale Form von Internationalismus, die in der Lage ist, den globalen Kreisläufen des heutigen Kapitals entgegenzutreten; die Basis dafür liefern marxistische und panafrikanistische Traditionen.

Internationalismus ist kein Kosmopolitismus: Er muss konkreter, materieller und lokaler begründet sein, nicht in abstrakten Forderungen nach Universalismus. Das schliesst die Macht von Nationalstaaten nicht aus, stellt sie aber in einen breiteren Kontext. Eine Widerstandsbewegung für die 2020er Jahre müsste ein ganzes Repertoire an Kräften in den Dienst nehmen, einschliesslich lokaler und städtischer Organisationen, nationaler Strukturen und regionaler Akteure. Kurdische Befreiungskämpfe zum Beispiel reichen über nationale Grenzen hinaus und beziehen gesellschaftliche Grenzen in der Türkei, in Syrien und im Iran mit ein. Auch indigene Bewegungen in den Anden überwinden solche Spaltungen, während feministische Koalitionen in Lateinamerika und darüber hinaus ein schlagkräftiges Modell für einen nichtnationalistischen Internationalismus liefern.

Die Desertion, die eine ganze Reihe von Fluchtpraktiken umfasst, war lange eine Taktik, die dem Widerstand gegen den Krieg vorbehalten war. Nicht nur Soldat:innen, sondern alle Mitglieder einer Gesellschaft können Widerstand leisten, indem sie sich einem Kriegsprojekt entziehen. Für Kämpfer:innen in der IDF (den israelischen Streitkräften), im russischen Heer oder in der US-Armee ist Desertion weiterhin ein bedeutsamer politischer Akt, der sich in der Praxis allerdings als sehr schwierig herausstellen kann. Dasselbe gilt für ukrainische Soldat:innen, obwohl ihre Lage nochmals sehr anders ist. Aber für diejenigen, die im Gazastreifen gefangen sind, ist Flucht schwerlich eine Option.

Desertieren muss also anders gedacht werden als bisher, um aus dem aktuellen Kriegsregime auszubrechen. Denn wie wir bereits gesehen haben, hält sich dieses Regime nicht an nationale Grenzen und Regierungsstrukturen. In der Europäischen Union kann man sich zwar der nationalen Regierung und deren chauvinistischen Positionen widersetzen. Aber man muss gleichzeitig gegen die supranationalen Strukturen des Handelsblocks selbst kämpfen – und sich zudem bewusst sein, dass sogar Europa als Ganzes kein souveräner Akteur in diesen Kriegen ist. Auch in den USA überlagern die militärischen Entscheidungsstrukturen und Streitkräfte die nationalen Grenzen und umfassen ein grosses Netzwerk an nationalen und nichtnationalen Akteuren.

Wie kann man aus einer solchen vielschichtigen Struktur desertieren? Lokale und individuelle Gesten zeigen wenig Wirkung. Eine effektive Praxis benötigt als Grundlage eine kollektive Verweigerung, die international organisiert ist. Die Massenproteste gegen die US-Invasion im Irak, die am 15. Februar 2003 in verschiedenen Städten auf dem ganzen Erdball stattfanden, hatten die supranationale Organisation der Kriegsmaschine korrekt identifiziert. Und sie kündeten von der Möglichkeit eines neuen internationalistischen Antikriegsakteurs. Obwohl sie den Angriff nicht verhindern konnten, schufen sie ein Modell für künftige Praktiken eines Massenrückzugs. Zwei Jahrzehnte später zeugen die Mobilisierungen gegen das Massaker in Gaza, die auf den Strassen und in den Universitäten weltweit aufflammen, von der Entstehung eines «globalen Palästina».

Progressive Allianzen schmieden

Eines der Haupthindernisse für eine solche befreiende internationalistische Politik ist das Lagerdenken (campism): eine ideologische Herangehensweise, die das politische Feld auf zwei einander feindlich gegenüberstehende Lager reduziert, was oft zum Kurzschluss führt, dass man den Feind des Feindes automatisch als Freund betrachtet. Einige Vertreter:innen der palästinensischen Sache sind bereit, jeden Akteur zu feiern – oder ihn zumindest sehr unkritisch anzugehen –, der Widerstand gegen die israelische Besatzung leistet; einschliesslich des Iran und dessen regionaler Alliierter.

Das ist ein verständlicher Impuls in der gegenwärtigen Lage, da die Bevölkerung von Gaza zu verhungern droht und auch sonst schrecklicher Gewalt ausgesetzt ist. Trotzdem führt die binäre geopolitische Logik des Lagerdenkens am Ende direkt zu einer Identifikation mit repressiven und reaktionären Kräften, die gegen die Befreiung arbeiten. Anstatt den Iran oder dessen Alliierte auch nur rhetorisch zu unterstützen, sollte ein internationalistisches Projekt die palästinensischen Solidaritätskämpfe mit den «Frau, Leben, Freiheit»-Bewegungen verbinden, die die Islamische Republik herausfordern. Der Kampf gegen das Kriegsregime muss nicht nur die aktuelle Kriegskonstellation unterbrechen, sondern auf einen breiteren sozialen Wandel hinwirken.

Internationalismus muss also von unten her entstehen, indem lokale und regionale Befreiungsprojekte Möglichkeiten finden, sich Seite an Seite zu engagieren. Aber es braucht auch einen umgekehrten Prozess: Internationalismus sollte darauf hinarbeiten, eine Sprache der Befreiung zu erschaffen, die in ganz unterschiedlichen Kontexten erkannt, verstanden, reflektiert und weiterentwickelt werden kann. Gefragt ist gewissermassen eine stetig arbeitende Übersetzungsmaschine, die heterogene Kontexte und Subjektivitäten zusammenbringen kann. Ein neuer Internationalismus sollte keine wie auch immer gestaltete weltweite homogene Form annehmen (oder auch nur anstreben), sondern vielmehr radikal unterschiedliche lokale und regionale Erfahrungen und Strukturen kombinieren.

Die Zersplitterung des Weltsystems, die Auflösung strategischer Orte der Kapitalakkumulation und die kontinuierliche Verflechtung von Geopolitik und Geoökonomie: All das hat einem Kriegsregime als vorherrschender Regierungsform den Boden bereitet. Angesichts dieser Entwicklung erfordert das Projekt der Desertion nichts weniger als eine internationalistische Strategie zur Neuerschaffung der Welt.

Michael Hardt ist Professor für Literaturwissenschaften an der Duke University in Durham und Autor von unter anderem «Empire» und «Multitude» (beide zusammen mit Antonio Negri). Sandro Mezzadra unterrichtet politische Theorie an der Universität von Bologna. Im November erscheint bei Verso sein Buch «The Rest and the West. Capital and Power in a Multipolar World», das er zusammen mit Brett Neilson geschrieben hat. Letzterem verdanken die Autoren diverse Einsichten in diesem Artikel.

Der vorliegende Text ist auf dem Blog der «New Left Review» erschienen; eine erste deutsche Übersetzung von Lars Stubbe stellte «Sozial.Geschichte Online» zur Verfügung. Wir haben sie angepasst.