Im Multiversum des Kapitals (Teil 2): Wer herrscht wie im globalen Kapitalismus?
Der Staat ist auch im globalen Empire kein Auslaufmodell, denn er bleibt unverzichtbar, um internationale Machtasymmetrien abzusichern. Was heisst das für die Weltordnung?
Über nichts können sich Linke heutzutage so trefflich zerstreiten wie über die Frage nach den globalen Machtverhältnissen. Während die einen in Anbetracht des islamistischen Terrors der Ansicht sind, «der Westen» habe vielleicht doch eine ganz positive, weil irgendwie zivilisatorische Funktion, halten die anderen an lieb gewonnenen Analysen fest und sehen die Weltpolitik ausschliesslich von US-Verschwörungen bestimmt. Offensichtlich herrscht grosse Ratlosigkeit darüber, wer wie im globalen Kapitalismus eigentlich herrscht: die USA, supranationale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) oder doch eher subjektlos «das Kapital»?
Wieso überhaupt «Imperialismus»?
Dass Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend von Imperialismus und nicht mehr von Imperien, also «Reichen», die Rede war, hatte mit dem Aufstieg Britanniens zu tun. Anders als die frühen Kolonialreiche beruhte das britische Empire auf zwei völlig unterschiedlichen Machtformen: Zum einen ging es – ganz klassisch – um die Kontrolle von Territorien und Verkehrsrouten, zum anderen aber folgte man auch der Logik dessen, was Gilles Deleuze «Deterritorialisierung» nannte: des freigesetzten Flusses von Handels- und Kapitalströmen. Anders ausgedrückt: Britannien nutzte seine Kolonialherrschaft nicht einfach, um sich die Rohstoffe der Kolonien anzueignen, sondern um die Kolonisierten zum Handel zu zwingen. Das jedoch geschah nicht aus zivilisatorischer Überzeugung, sondern weil sich der Freihandel unter der Voraussetzung ungleicher Entwicklung als extrem effiziente Form der Machtausübung erwiesen hatte.
Dieser Zusammenhang verweist auf ein grundlegendes Problem des Kapitalismus: Obwohl er auf der Freisetzung von Strömen beruht, kann er seine territoriale Bindung nie aufgeben. Alles Gerede von virtuellem Raum, sich selbst vermehrendem Geld, verflüssigten Produktionsformen und so weiter ändert nichts daran: Der Kapitalismus bleibt an Gegenständlichkeit gekettet: an Rohstoffe, Energieträger, Produktionsorte, reale Menschen, folglich auch an Orte. Ja, die Bedeutung des Territoriums wächst heute sogar, da Rohstoffe, Baugrund und Ackerland knapp werden.
Die territoriale Fessel des Kapitalismus hat aber auch noch eine zweite Dimension: Märkte brauchen Rechtssicherheit, und die kann nur von Staaten hergestellt werden, die gegenüber den einzelnen Marktakteuren «relativ unabhängig» sind. Staaten jedoch (auch neu entstehende «Supra-Staaten» wie die EU) sind per Definition das durchgesetzte, legitimierte Gewaltmonopol innerhalb eines Territoriums.
Der Staat und die Globalisierung
In den 1990er Jahren verkündeten viele AutorInnen das Ende des Nationalstaats. Die Globalisierung, so hiess es, mache den Staat überflüssig. IT-Technologien schleiften die Grenzen, supranationale Institutionen wie der IWF verwandelten sich in eine Art monetäre Weltregierung. Doch mittlerweile ist klar, dass sich diese Prognosen als falsch herausgestellt haben. Virtuelles Geld mag in Mikrosekunden über den Globus rasen und Griechenland eher von der Europäischen Zentralbank (EZB) als von Syriza regiert werden (was die Frage aufwirft, ob Linksregierungen heute nicht in erster Linie als Widerstandsformen begriffen werden müssen). Aber gleichzeitig ist die Bedeutung der führenden Nationalstaaten keineswegs geschrumpft. Staaten entscheiden zwar nicht mehr souverän über ihre Sozialpolitik, aber in der Finanzkrise seit 2008 waren sie es, die dem klammen Finanzkapital zwei Billionen US-Dollar spendieren mussten. Und schliesslich wird auch das Lebensniveau der Menschen – trotz wachsender Ungleichheit in den Industriestaaten – nach wie vor ebenso sehr durch Nationalität wie durch Klassenzugehörigkeit bestimmt. Mit dem Lebensstandard eines schweizerischen Facharbeiters gehört man in Burkina Faso zu den oberen fünf Prozent.
Der Staat ist also auch im globalen Empire kein Auslaufmodell, im Gegenteil: Er bleibt unverzichtbar, um internationale Machtasymmetrien abzusichern. Dabei ist es allerdings nicht so, dass Staaten einfach nur umsetzen, was ihnen von Banken und Konzernen diktiert wird. Staaten sind «verdichtete» Hegemonieverhältnisse. Das heisst, ihren Institutionen ist die Macht der Eliten eingeschrieben. Die Struktur der Justiz beispielsweise gewährleistet, dass die BesitzerInnen grosser Vermögen viel mehr Möglichkeiten haben, ihre Interessen geltend zu machen. Andererseits sind moderne Staaten aber auch der Garant dafür, dass diese Eliten (anders als Feudalherren) nicht «unmittelbar» herrschen. Wenn der Staat seine relative Eigenständigkeit gegenüber den Machtgruppen verliert, kehrt die Willkürherrschaft der Feudalherren und Warlords zurück. Freier Handel und Konkurrenz werden unmöglich.
Doch was bedeutet das für die Weltordnung? Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wurde vor allem über Antonio Negri und Michael Hardts Buch «Empire. Die neue Weltordnung» debattiert. Doch überzeugender ist der Ansatz, auch internationale Beziehungen hegemonietheoretisch zu erklären, wie ihn der italienische Wirtschaftshistoriker Giovanni Arrighi oder die kanadischen Ökonomen Leo Panitch und Sam Gindin verfolgt haben.
Panitch und Gindin zeigen in «The Making of Global Capitalism» (2012), wie sehr der Weltkapitalismus der Gegenwart mit der US-Hegemonie verschränkt ist. Ab 1945 übernahmen die USA die Rolle eines internationalisierten Staats, der nicht allein die Interessen des US-Kapitals (oder gar der US-Bevölkerung), sondern auch das Kapital anderer Länder verteidigte. Dass es dabei zwar auch, aber eben nicht in erster Linie um nationalstaatliche Interessen ging, zeigt sich unter anderem darin, dass Japan und Westeuropa industriell aufgebaut wurden, obwohl man damit eine Konkurrenz für US-Unternehmen heranzog.
Panitch und Gindin zeigen aber auch, dass diese Hegemonie so facettenreich aufgebaut ist, dass die USA die Kontrolle über das globale System bis heute nicht aus der Hand gegeben haben. Mithilfe des IWF kann Einzelstaaten die Wirtschaftspolitik diktiert werden. Solange der Dollar als Leitwährung fungiert, sind die USA vom Zwang befreit, eine ausgeglichene Handelsbilanz erwirtschaften zu müssen. Und die Rolle der Wall Street als Zentrum der globalen Finanzströme garantiert den Rückfluss von Kapital: Auch wenn US-Industrien heute nicht mehr den Weltmarkt beherrschen, werden riesige Mengen an spekulativem Kapital in den USA umgeschlagen und angeeignet.
Das Problem ist allerdings, dass sich diese Vormachtstellung zunehmend auf politische und militärische Fähigkeiten stützt. New York stieg zum globalen Finanzzentrum auf, weil die USA dem Welthandel ihre Regeln aufzwangen und damit die Umverteilung qua Spekulation erleichterten. Die USA fixieren Patentrechte in internationalen Handelsverträgen, die es ihren Unternehmen erlauben, weltweit mitzuverdienen. Und da ist schliesslich auch die militärische Macht: Die USA sind der einzige Staat, der global Investitionssicherheit herzustellen vermag. Da dies den US-Haushalt mit jährlich 600 Milliarden US-Dollar belastet, zeigen die anderen westlichen Industriestaaten bis heute kein Interesse daran, die US-Führung infrage zu stellen.
Das US-Empire ist also ein Hegemoniesystem, in dem sowohl nationale Interessen der USA als auch Interessen des globalen Kapitals berücksichtigt werden. In welchem Verhältnis die Interessen gewichtet werden, muss ständig ausgehandelt werden.
Die Krise der US-Hegemonie
Das Problem ist nun, dass die US-Hegemonie zunehmend weniger ökonomisch fundiert ist und daher immer stärker mit politischen oder militärischen Eingriffen – von der Durchsetzung der Spekulationsökonomie bis hin zur militärischen Präsenz – verteidigt werden muss. Doch über Ausmass und Geschwindigkeit des US-Niedergangs lässt sich streiten. Giovanni Arrighi hielt in den achtziger Jahren eine japanische Vormachtstellung für ausgemacht, heute reden alle von China. Doch auch dort verläuft der Aufstieg längst nicht so linear, wie es auf den ersten Blick scheint. Solange ein Teil der chinesischen Exporterlöse in Form von Gewinnausschüttungen oder Lizenzen ins Ausland fliesst, zögert sich der Niedergang der USA und seiner atlantischen Verbündeten hinaus.
Dazu kommt, dass China den Hegemonieverlust der USA offensichtlich nicht forcieren will. Als die Finanzmärkte 2008 kollabierten, zeigte Beijing wenig Interesse daran, das Währungssystem vom US-Dollar zu emanzipieren. Man fürchtete um Absatzmärkte und um die in Dollar gehaltenen Reserven in Höhe von fast zwei Billionen Dollar. Auch heute ist das Vorgehen Chinas alles andere als eindeutig: Zwar wickelt das Land mittlerweile fast dreissig Prozent seines Aussenhandels in chinesischen Yuan ab, aber die Dollarreserven sind weiter gestiegen: auf inzwischen vier Billionen Dollar.
Doch wie lange wird dieser Zustand verschränkter Interessen noch anhalten? «Es wird viel Blut fliessen», prophezeite der britische Historiker Eric Hobsbawm vor seinem Tod 2012 düster. Und das ist auch der Grund, warum die Verwirrung der Linken teilweise begründet ist. Einerseits nämlich wird das neoliberale Projekt, das die Bereicherung der Eliten sicherstellt, tatsächlich vom US-Staat vorangetrieben. Es hat also nichts mit Antiamerikanismus zu tun, wenn man feststellt, dass sich emanzipatorische Politik gegen die Führungsmacht USA richten muss. Andererseits aber führt jeder Versuch, sich auf «antiimperialistische» Gegenspieler zu beziehen, geradewegs in die Hölle – und zwar nicht nur, weil die «Schurkenstaaten» die Regierungen haben, die sie haben: Wladimir Putin, die Mullahs, die nordkoreanische Kim-Dynastie. Nein, die nationalstaatliche Perspektive als solche birgt ein Problem. In Europa sowieso: Eine Politik gegen Washington, wie sie von russischen, aber auch französischen Rechten propagiert wird, würde zur Rückkehr imperialistischer Konkurrenz führen.
Doch auch in Ländern der Peripherie ist der Nationalstaat ein schlechter Verbündeter. Es stimmt zwar, dass nationale Souveränität dort mit einer progressiveren Sozialpolitik einhergehen kann. In Venezuela beispielsweise sorgte der Linksnationalismus der Regierung für höhere Öleinnahmen des Staats, mit denen Sozialprogramme finanziert wurden. Aber auch dort haben nicht in erster Linie die Armen, sondern die Führungsgruppen im und beim Staat profitiert: Militärs, Bürokratie, regierungsnahe Bau- und Importunternehmer. Der lateinamerikanische Antiimperialismus hat (wie schon in den 1970er Jahren) neue Eliten hervorgebracht, die sich nun nicht mehr auf dem Markt, sondern direkt über den Staat bereichern – sogenannte Korruption als Akkumulationsform.
Es hilft nichts: Für die Emanzipation «der vielen» gibt es keinen anderen Weg, als die Hegemonieverhältnisse innerhalb der Gesellschaften und grenzüberschreitend zu verschieben. Der globale Kapitalismus lässt sich ohne die Macht einzelner Staaten nicht verstehen – weswegen auch der Imperialismus keineswegs Geschichte ist. Doch wer umgekehrt meint, der Imperialismus liesse sich über die Verteidigung nationaler Souveränität besiegen, liegt ebenso falsch.
Im Multiversum des Kapitals
Taugt die Demokratie zum antikapitalistischen Widerstand? Ist das Kapital farbenblind, oder ist der Rassismus nicht vielmehr seine materielle Grundlage? Was hat Burn-out mit Klassenkampf zu tun? Diesen Fragen geht der Sozialwissenschaftler und WOZ-Autor Raul Zelik in seiner Essayreihe «Im Multiversum des Kapitals» nach.
Bereits erschienen: «Die grosse Traurigkeit unserer Zeit» (WOZ Nr. 13/15).