Geopolitik: «Europa müsste die Flüchtlinge aufnehmen»
Israels Vorgehen und seine militärische Überlegenheit lassen es in den Augen seiner Nachbarn als Bedrohung erscheinen, sagt Daniel Gerlach. Der Publizist und Nahostexperte über Irans Dilemma, saudische Ambitionen und Zukunftsszenarien für Gaza.
WOZ: Herr Gerlach, wenn Sie derzeit auf den Nahen Osten blicken: Welche der aktuellen Entwicklungen ist in Ihren Augen die gefährlichste?
Daniel Gerlach: Die Frage ist: Für wen? Natürlich ist es legitim, über die Gefahr einer geopolitischen Eskalation zu reden. Vergessen wir dabei aber nicht, dass die Situation für die Leute vor Ort nicht bloss gefährlich, sondern tödlich ist. Täglich sterben viele Menschen – vor allem in Gaza und im Libanon –, und niemand hilft ihnen derzeit.
Im Moment greift Israel den Norden von Gaza wieder mit aller Härte an. Ist für Sie ersichtlich, welches Ziel die Regierung verfolgt?
Ich kenne die politische Strategie nicht, sofern es überhaupt eine gibt. Aber es ist entscheidend, wie Israels Vorhaben interpretiert wird, weil sich daraus das Verhalten der involvierten Akteure ableiten lässt. Schaut man sich die Berichte in arabischen und teils auch israelischen Medien an, strebt Israel eine Entvölkerung von Gaza-Stadt an. Demzufolge will man den Gazastreifen um etwa ein Drittel der Fläche verkleinern, was dem in israelischen Medien dargelegten «Eiland»-Plan entspräche. Der frühere israelische Generalstabschef Giora Eiland forderte, Gazas Norden dauerhaft unter israelische Kontrolle zu bringen. Den Rest der Fläche würde man wohl sich selbst oder einer palästinensischen Miliz überlassen. Man hofft vielleicht, dass sich die internationale Gemeinschaft oder arabische Staaten irgendwann verantwortlich fühlen für die Linderung des Elends dort und die Menschen emigrieren lassen.
Lässt sich sagen, in welchem Zustand sich die Hamas mittlerweile befindet?
Der bewaffnete Widerstand im Gazastreifen ist zäh. Offenbar ist die Hamas noch immer in der Lage, junge Männer zu finden, denen sie eine Waffe in die Hand drücken und sagen kann: «Kämpft gegen den Aggressor.» Oft wird es so dargestellt, als kämpfe Israel in Gaza noch immer gegen die Täter des Massakers vom 7. Oktober 2023 – etwa die Nukhba, eine Spezialeinheit des militärischen Arms der Hamas. Wenn aber heute israelische Soldaten in Gaza-Stadt auf einen Kämpfer treffen, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass dieser mit dem 7. Oktober gar nichts zu tun hatte, sondern gerade erst rekrutiert wurde. Das ist der eine Punkt.
Und der andere?
Die Zerstörung ziviler Infrastruktur und zivile Opfer sind kein Kollateralschaden, sondern strategisch eingepreist. Die Hamas ist ja auf diese angewiesen, um weiter bestehen zu können: Sie braucht Krankenhäuser, um Verletzte zu behandeln, Lieferketten für den Nahrungsmittelnachschub, Gebäude, um sich zurückzuziehen – und Menschen, die diese Struktur am Leben erhalten, solange sie selbst noch leben. Je mehr zivile Infrastruktur zerstört wird, desto einfacher wird es, die militärischen Ziele zu treffen. In dieser Hinsicht agiert die israelische Armee nach dem gleichen Handbuch der Aufstandsbekämpfung wie andere Armeen, von Algerien über Tschetschenien bis Syrien, wenngleich mit Hightech.
Blicken wir auf den zweiten Kriegsschauplatz, den Libanon. Was bezweckt Israel mit seiner Bodenoffensive?
Seit Jahren betrachtet Israel die Hisbollah als den gefährlicheren strategischen Feind als die Hamas – wobei es deren Verhalten stets gut einschätzen konnte. Die Hisbollah ist ja auch eine politische Partei, die ihre Macht im Libanon erhalten möchte, ihre Kontrolle über den Staat und wirtschaftliche Ressourcen. Während sie in grossen Teilen der Bevölkerung unbeliebt ist, schöpfte sie aus der Feindschaft gegen Israel eine Existenzberechtigung: Sie ist – dank iranischer Unterstützung – die einzige Kraft, die den israelischen Streitkräften etwas entgegensetzen kann. Zumindest vermittelte sie bisher diesen Eindruck.
Aber was hat Israel von einem solchen Vorgehen?
Einerseits kann es demonstrieren, dass die Hisbollah zu echtem Widerstand gar nicht in der Lage ist; zum anderen will die israelische Seite die Gelegenheit nutzen, sie so zu schwächen, dass sie nicht länger den Norden Israels beschiesst und innenpolitischen Druck in Israel erzeugt. Premierminister Benjamin Netanjahu hätte den Krieg in Gaza beenden können; für diesen Fall hatte die Hisbollah in Aussicht gestellt, den Beschuss zu beenden. Sich auf einen Kompromiss einzulassen, wäre aber eine weitreichende politische Konzession gewesen. Israels Hisbollah-Problem wäre kurzfristig entschärft, die Bedrohung aber nicht beendet. Netanjahu wollte keinesfalls einen Präzedenzfall schaffen.
Und die Hisbollah?
Die wiederum hat sich kolossal verkalkuliert. Sie dachte, Israel werde sich nicht getrauen, einen vollen Krieg vom Zaun zu brechen, weil das sehr viele israelische Menschenleben aufs Spiel setzt. Gerade am Wochenende haben wir zwar gesehen: Trotz dichter Luftverteidigung treffen noch immer Raketen aus dem Libanon Ziele in Israel. Israel ist es aber gelungen, die militärische Macht der Hisbollah zumindest temporär zu brechen.
Was bedeutet das für das innenpolitische Machtgefüge im Libanon?
Die Schwächung der Hisbollah könnte andere politische Kräfte stärken, die allerdings keinen neuen Bürgerkrieg wollen. Möglich wäre auch, dass sich der Iran jetzt erst recht im Libanon engagiert. So oder so wird das Land stark destabilisiert. Der Krieg zerstört schon jetzt etwa die Landwirtschaft im fruchtbaren Süden, was eine dramatische Nahrungsmittelknappheit zur Folge hat. Arbeitsplätze und finanzielle Ressourcen drohen knapp zu werden – und das in einem Land, dem Inflation, Wirtschaftskrisen und institutionelles Versagen in den letzten Jahren ohnehin schon stark zugesetzt haben. Derzeit sind Hunderttausende auf der Flucht. Viele werden versuchen, aus dem Land zu kommen, vor allem nach Europa. Und als Kriegsflüchtlingen müsste man ihnen auch in Europa Schutz gewähren.
Die Hisbollah wird stark vom Iran unterstützt. Nach welcher Logik handelt dessen Regime?
Es steckt in einer Falle der eigenen Ideologie und Propaganda. Über Jahre hat es sich ein kostengünstiges System aufgebaut: In mehreren Staaten unterhält es Milizen, die aggressiv und ideologisiert waren – aber auch steuerbar. Mittlerweile haben sich Irans Interessen verschoben: Das Regime verspricht sich mehr von einer Annäherung an die arabischen Golfstaaten. Der globale Ölhandel wird über die Region abgewickelt, sie ist ein logistischer Knotenpunkt des Welthandels, beheimatet viele Flughubs. Auch China erweitert seinen Einfluss. Da will das iranische Regime nicht abgehängt werden. Die Milizen, die der Iran als Kräfte des Widerstands inszeniert hat, sind zur Belastung geworden. Das Regime muss für sie Verantwortung übernehmen, obwohl die Kosten dafür immer weiter steigen.
Wie geht das Regime damit um?
Unter dem neuen Präsidenten Massud Peseschkian hat der Iran versucht, rhetorisch zu deeskalieren. Man hat die Hamas und andere Partner zwar jahrelang ermutigt, den Druck auf Israel zu erhöhen, hat aber weder mit dem Ausmass des Hamas-Massakers vom 7. Oktober noch mit der Vehemenz der israelischen Reaktion darauf gerechnet. Das iranische Regime kann zwar propagandistisch Kapital schlagen, weil der Krieg Israels dessen westliche Unterstützer in den Augen des Globalen Südens diskreditiert. Aber was macht man dann aus diesem Kapital? Den Machthabern fällt das eigene System auf die Füsse.
Wie meinen Sie das?
Die Huthis im Jemen etwa haben recht früh in den Krieg eingegriffen – durch Raketenbeschuss auf Israel und Angriffe auf Schiffe im Roten Meer. Ich denke, dass die Huthis ihre Raketen auch abgefeuert haben, um die iranische Führung unter Zugzwang zu setzen – weil sie Sorgen hatten, dass deren Unterstützung zugunsten einer Annäherung an Saudi-Arabien nachlassen könnte. Ein anderes Beispiel: Im Libanon kursiert eine recht konkrete Verschwörungstheorie, wonach Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah vor seinem Tod durch einen israelischen Angriff vor drei Wochen vom Iran verraten worden sei. Israel könnte aus diesem Zerwürfnis Kapital schlagen – aber Netanjahus Regierung scheint zu ignorieren, dass das iranische Regime keinen vollumfänglichen Krieg, sondern einen gesichtswahrenden Ausweg suchte. Vielleicht hat sie das aber auch durchschaut und wollte die iranische Schwäche nutzen.
Die Tötung hochrangiger Hamas- und Hisbollah-Kader, die Pager-Angriffe im Libanon, die Kriege in Gaza und im Libanon: Was löst die israelische Machtdemonstration in der Region aus?
Mit seiner Rücksichtslosigkeit und All-in-Mentalität schockt Israel die arabische Welt, beeindruckt sie aber auch. Israel als imperiale, ideologisch getriebene und von den USA hochgerüstete Militärmacht: Vor dreissig, vierzig Jahren kultivierten die arabischen Regimes dieses Bild zu Propagandazwecken. Man wusste aber, dass Israel – abgesehen von Palästina – keine expansiven Absichten verfolgt. Die meisten arabischen Staaten hatten sich zuletzt mit Israel und seinen Sicherheitsinteressen abgefunden. Jetzt aber geben in Jerusalem Rechtsextreme wie der «Siedlungsminister» Bezalel Smotrich und Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir den Ton an. Das, verbunden mit der militärischen Überlegenheit, lässt Israel in den Augen mancher Nachbarn nun tatsächlich als Bedrohung erscheinen.
So werden diese ihre Armeen weiter aufrüsten?
Vermutlich – und nicht nur das: Auch Mächte wie China oder Russland werden in der Region anders zu agieren beginnen. Die USA und die europäischen Staaten hoffen, dass es Frieden und Entspannung im Nahen Osten geben wird, wenn Hisbollah und Hamas geschlagen sind und der iranische Einfluss eingedämmt ist. Eine gewagte Prognose.
Viele Expert:innen sind sich einig, dass die US-Wahl im November die Entwicklungen im Nahen Osten stark beeinflussen wird. Zu Recht?
Die Wahl steht natürlich im Zeichen des Kriegs in Nahost. Die Demokraten sind unsicher. Sie mussten nun feststellen, dass sie nicht nur wichtige arabisch-amerikanische Stimmen verlieren, sondern dass auch viele ihrer jüdischen Wähler Netanjahus Politik ablehnen. Überlegenswert finde ich wiederum den Gedanken eines US-Wissenschaftlers, mit dem ich neulich sprach. Er meinte, Donald Trump denke nicht geopolitisch, sondern an Geld. Und wo kann er Geschäfte machen? In Israel nicht, das kostet eher. In Saudi-Arabien schon – also könnte die saudische Linie interessanter für ihn sein. Trump wäre vielleicht bereit, Netanjahu und seine stark proisraelische Wählerschaft vor den Bus zu werfen und zu sagen: «Sorry Leute, Business ist Business.»
Saudi-Arabien ist ohnehin ein zentraler Akteur in der Region. Wo liegen die Interessen des Königreichs?
Gut für Saudi-Arabien wäre, wenn die Hisbollah – für die Saudis ein Störfaktor – zerstört wird, Israel aber politisch so geschwächt aus dem Krieg hervorgeht, dass eine Lösung der Palästinafrage nach saudischen Vorstellungen möglich wird. Sollte es dem saudischen Kronprinzen Muhammad bin Salman gelingen, eine Lösung zu finden, in der Ostjerusalem symbolisch als Hauptstadt eines unabhängigen Palästinas anerkannt und unter internationale Kontrolle mit saudischer Führung gestellt wird, würde das in der muslimischen Welt als gerecht oder zumindest würdevoll betrachtet. Für bin Salman wäre das die nächste Stufe auf dem Weg zur angestrebten Unsterblichkeit.
Abgesehen von Saudi-Arabien: Wo blicken Sie hin, um mögliche Entwicklungen in der Region antizipieren zu können?
Definitiv nach Katar. An den dortigen Begegnungen lässt sich die Dramatik der Lage ablesen. Kommen CIA-Leute mit Vertretern des Iran zusammen, was nach meinen Informationen der Fall ist, ist das ein gutes Zeichen: Das heisst, es werden immerhin noch Gespräche geführt und Interessen abgewogen. Die Macht der Golfstaaten ist derzeit eine Art Lebensversicherung für die Region. Sehr genau schaue ich auch auf den Irak. Ich bin oft in Bagdad, wo ebenfalls viele – direkte oder indirekte – Begegnungen zwischen den USA, dem Iran und diversen Milizen stattfinden. Wenn die Situation im Nahen Osten nicht komplett ausser Kontrolle gerät, ist das auch ein Verdienst des irakischen Premiers Muhammad Schia al-Sudani.
Demgegenüber scheint sich Netanjahu derzeit von niemandem zurückhalten zu lassen.
Der militärische Erfolg lässt ihn ständig neue Grenzen ausloten. Und von der internationalen Gemeinschaft erfährt er keine Konsequenzen – nicht einmal dann, wenn die israelische Armee Uno-Soldaten im Libanon beschiesst. Netanjahus Verbündete üben allenfalls Kritik, damit kann er bestens leben.
Trotzdem: Wie könnten Ansätze für eine Lösung des Konflikts aussehen?
Die Kriege im Libanon und in Gaza müssten gestoppt werden. Die internationale Gemeinschaft könnte auf Grundlage der arabischen Friedensinitiative, dem Plan von US-Präsident Joe Biden für die Freilassung der Geiseln in Gaza und dem «Borrell»-Plan der Europäer an einer Befriedung der Region und einer Zweistaatenlösung arbeiten. Auch wenn Israel und die Kriegsparteien noch nicht dafür bereit sind. Das israelische Sicherheitsinteresse ist wichtig, aber man kann nicht den gesamten Nahen Osten allein aus dieser Perspektive betrachten. Auch die anderen Menschen in der Region haben ein Recht auf Leben und Sicherheit.
Der Orientalist Daniel Gerlach (47) ist Direktor des Berliner Thinktanks Candid Foundation und Chefredaktor des Nahostmagazins «Zenith».