Wahlkampf in Ungarn: Genug vom Hass

Nr. 23 –

Was ist von Péter Magyar zu halten, Ungarns erstem Oppositionellen, der Viktor Orbán gefährlich werden kann? Auf Wahlkampftournee mit einem, der für Neuanfang steht – obwohl er selber Teil des Systems war.

Péter Magyar singt nach seiner Rede in Szentes Volkslieder mit dem Publikum
Er weiss, was ankommt: Péter Magyar singt nach seiner Rede in Szentes Volkslieder mit dem Publikum.

«It’s the final countdown» hallt über den Kossuthplatz in Szentes, einer kleinen Stadt im Südosten von Ungarn. Es ist Pfingstmontag, 10.30 Uhr. Die Sonne scheint, Menschen suchen Schatten unter den prächtigen Jugendstilbauten, als sich plötzlich eine Schar um einen Mann in weissem Hemd und weissen Sneakern bildet.

Er schüttelt Hände, schiesst gekonnt Selfies mit den Umstehenden. Einer alten Dame kullern Freudentränen über die Wange. Der Mann bahnt sich seinen Weg hin zur Platzmitte, wo die Ladefläche eines alten Transporters in den ungarischen Nationalfarben als Bühne bereitsteht. Drei Kameraleute umkreisen den Mann wie Satelliten, Tausende verfolgen den Livestream auf Facebook. Der Mann richtet seine Pilotensonnenbrille und springt mit einem Satz auf die Ladefläche. Er schnappt sich ein Mikrofon und ruft: «Jó napot, Szentes!» (Hallo, Szentes!) Vor ihm ein Meer aus klatschenden Händen.

Der Mann ist kein Rockstar, sondern Politiker. Und deshalb folgt in den kommenden 42 Minuten auch kein Konzert, sondern eine flammende Rede über Korruption, über Hasskampagnen und Propaganda, über Lehrer:innenmangel und geschlossene Krankenhäuser. Der Mann wird dem Publikum klarmachen, dass es nur einen Weg aus der Misere gibt: ihn selbst.

Dabei war Péter Magyar, 43 Jahre alt, bis vor kurzem noch ein Nobody – wenn auch ein Nobody aus bester Budapester Familie. Der Grossonkel war Staatspräsident, der Grossvater Richter am Obersten Gerichtshof, und seine Exfrau ist die ehemalige Justizministerin Judit Varga. Dennoch: Kaum jemand kannte Magyar. Drei Monate und einen Regierungsskandal später sehen Umfragen ihn und die Tisza-Partei bei den laufenden Europawahlen bei 25 bis 30 Prozent der Wähler:innenstimmen. Und die ungarische Propagandamaschinerie gibt Milliarden Forint für Schmierenkampagnen gegen ihn aus. Das ganze Land ist zugepflastert mit Plakaten, auf denen Magyar als Lakai von Brüssel betitelt wird.

Wer ist dieser Mann, der aus dem Nichts aufgetaucht ist und von Viktor Orbáns rechtspopulistischer Fidesz-Partei zum Staatsfeind Nummer eins deklariert wurde? Und wie schafft er es, ausgerechnet in Orbáns konservativem Kernmilieu zu punkten?

Zum Schluss ein Fluchwort

Magyar, dessen Name auf Deutsch «Ungar» bedeutet, blickt auf sein Klemmbrett, auf dem er all die lokalen Probleme aufgeführt hat. Dann beginnt er seine Rede. Mit bebender Stimme spricht er von der Geburtsklinik in Szentes, die vor kurzem geschlossen wurde. Vom Krankenhaus, das völlig unterbesetzt ist, weil viele Ärzt:innen ins Ausland abwandern. Und vom ehemaligen Bürgermeister der Kleinstadt, der – wie so viele andere Politiker:innen in Ungarn – in Korruptionsvorwürfe verstrickt ist. Vor ihm nicken die Anwesenden zustimmend.

Magyar gelingt es, volksnah zu wirken. Nicht nur, weil er die Probleme in Ungarn pointiert anprangern kann. In einem Satz benutzt er den schwarzen Humor, den die Ungar:innen so lieben («Ungarn will jetzt auch einen Menschen auf den Mond schicken. Ich habe da eine Idee, wen wir nehmen könnten»), im nächsten ein berühmtes Zitat aus einem Gedicht des ungarischen Freiheitskämpfers Sándor Petőfi («Ein Meer hat sich erhoben, auf bäumt sich seine Flut!»). Und zuletzt ein Fluchwort, von denen die ungarische Sprache so viele hat (unübersetzbar). Das kommt an.

In Szentes hält Magyar Rede Nummer 108. Oder 109? So genau weiss das keiner mehr in seinem Team. Magyar betreibt einen ungeheuren Aufwand, um bekannter zu werden. Nach Szentes tritt er am selben Tag noch in fünf weiteren Orten auf. Sein Ziel ist es, mit seiner neu gegründeten Tisza-Partei am 9. Juni ins Europaparlament einzuziehen.

Katalin und Ádám Balogh, ein Ehepaar aus Szentes, beobachten Magyar vom Rand der Menge. Sie würden für die Tisza-Partei stimmen, sagen sie. «Péter Magyar ist seit Jahren die erste Person, die alle Menschen anspricht, ob Jung oder Alt», sagt Katalin Balogh. Magyar wolle die Menschen in Ungarn wieder vereinen, statt sie wie die Fidesz immer weiter zu spalten, glaubt sie.

Ein in Tränen aufgelöster Rentner steht wenige Meter weiter. Er sagt, er habe in seinen 71 Lebensjahren viele Politiker kommen und gehen sehen. Keiner weckte ein solch grosses Vertrauen in ihm wie Péter Magyar. «Wäre er schon früher gekommen, vielleicht hätte ich heute mehr als 27 000 Forint Rente» (70 Franken). Das Leben in Ungarn ist in den letzten Jahren erheblich teurer geworden: Die Inflation lag bei bis zu 25 Prozent, bei Lebensmitteln sogar bei bis zu 45 Prozent. Die Löhne steigen nicht im selben Ausmass. Und die Rente des alten Mannes hat sich überhaupt nicht erhöht.

Zum Abschluss seiner Rede in Szentes fordert Magyar die Zuhörer:innen auf, sich an den Händen zu fassen. «Nehmt die Hand eures Nachbarn. Zeigen wir Fidesz, dass sie uns nicht spalten können!» Alle machen mit. Dann springt er von der Ladefläche und nimmt ein weiteres Bad in der Menge. Selfies, Autogramme, Small Talk.

Die Entscheidung für die Parteigründung sei spontan gefallen, erklärt Magyar gegenüber der WOZ, während er in der Menge steht: kurz nach dem 11. Februar, dem Tag, an dem seine Exfrau, die ehemalige Justizministerin Judit Varga, aus der Politik zurücktreten musste. Sie und Staatspräsidentin Katalin Novák hatten die Begnadigung eines Mannes unterzeichnet, der geholfen hatte, Kindesmissbrauch zu vertuschen. Ein Skandal, der das Bild von Orbáns Partei als Verfechterin von Familienwerten und christlichem Konservatismus erschütterte.

Wenige Tage später trat Péter Magyar erstmals an die Öffentlichkeit. Er gab dem regierungskritischen Youtube-Kanal «Partizán» ein Interview, das inzwischen 2,5 Millionen Mal angeklickt wurde. Das entspricht einem Viertel der ungarischen Bevölkerung. Er könne nicht länger Teil dieses «korrupten Systems» sein, sagte Magyar und warf Orbán und Fidesz vor, sich «hinter Frauenröcken» zu verstecken, anstatt selbst Verantwortung zu übernehmen. Anfang April hielt Magyar hinter dem Parlament in Budapest die erste Rede seiner Tour: Mehr als 100 000 Menschen kamen, um ihm zuzuhören.

Selber Teil des Systems

Was unterscheidet ihn von all den anderen Oppositionspolitiker:innen, die in den letzten vierzehn Jahren versucht haben, gegen Orbán zu gewinnen? Bei den letzten Parlamentswahlen vereinigten sich alle Oppositionsparteien gegen Orbán. Sie schafften es nicht einmal, die Zweidrittelmehrheit von Fidesz zu brechen.

«Sie sind Teil des Systems», sagt Magyar und verschränkt die Arme. An seinem rechten Handgelenk baumelt eine hölzerne Kreuzkette. «Jahrelang haben sie gepredigt, dass man gegen Orbán nicht gewinnen kann. Dass die Jungen und die Leute auf dem Land sich nicht für Politik interessieren. Jetzt bin ich seit zwei Monaten unterwegs und beweise, dass es geht.»

Doch bevor Magyar Politiker wurde, gehörte er selbst zum elitären Kreis um Orbáns Regierungspartei Fidesz. Er diente als ungarischer Diplomat in Brüssel und bekleidete Führungspositionen in der staatlichen MBH-Bank. «Ich bin aus diesem System ausgestiegen», behauptet er heute. Mit seinem Insiderwissen wolle er der Fidesz nun gezielt schaden.

Das tut er bereits: Magyar veröffentlichte Ende März eine Tonaufnahme seiner Exfrau vom Januar 2023. Darauf ist zu hören, wie Varga über Regierungsbeamte spricht, die Gerichtsakten verschwinden liessen, um ihre Rolle in korrupten Geschäften zu vertuschen. Varga liess noch am selben Tag verlauten, sie sei von Magyar zu diesen Aussagen gezwungen worden. Sie beschuldigte ihren Exmann, sie geschlagen und misshandelt zu haben. Magyar bezeichnete die Vorwürfe als Verleumdung.

Sobald es um politische Inhalte geht, wird Magyar vage. «Wir haben einige Gemeinsamkeiten mit der aktuellen Regierung», sagt er. Er glaube an ein starkes Europa, das auf souveränen Mitgliedstaaten beruhe. «Trotzdem wollen wir den Krieg mit der EU beenden und die Beziehungen normalisieren. Ungarn soll wieder ein normaler Teil dieses Klubs werden und sich auch wie ein Klubmitglied verhalten.» Dann unterbricht die Pressesprecherin. Sie müssten jetzt wirklich los.

13.30 Uhr, knapp zwanzig Kilometer weiter südlich in Mindszent. 6000 Einwohner:innen, viele Bauernhöfe und ein Strandbad an der Theiss. Fidesz-Ergebnis bei den letzten Wahlen: 55 Prozent. István Bónus, 62 Jahre alt, sitzt allein auf einer Parkbank, in den schwieligen Händen hält er sein Smartphone. Er will ein Foto mit Péter Magyar machen.

Bónus, der sein ganzes Leben lang unter Tage gearbeitet hat, erzählt, dass auch er anfangs Fidesz gewählt habe. So wie fast alle, die er kenne. «Das war damals ganz einfach: Nichts konnte schlimmer sein als Gyurcsány.» Ferenc Gyurcsány, Orbáns sozialistischer Vorgänger, war einer der unbeliebtesten Politiker seit der Wende 1990. «Aber Orbán ist schlimmer», sagt Bónus. Er habe es geschafft, Ungarn zu spalten. «Man kann mit niemandem mehr diskutieren. Wohin man auch geht, überall sieht man die Hassplakate von Fidesz. Die Propaganda hat uns den Hass gelehrt. Aber ich will nicht hassen. Ich will in Frieden leben können.»

Als Péter Magyar ankommt, verabschiedet sich Bónus schnell und stellt sich vor den alten Transporter, Magyars Bühne. Ein paar Hundert Leute sind gekommen. Dabei werden die genauen Standorte seiner Auftritte meist erst am Abend zuvor bekannt gegeben. Magyar schüttelt wieder Hände, springt wieder auf seinen Transporter und heizt die Menge an, indem er über das Altersheim spricht, das wahrscheinlich bald schliessen muss. Die Zuhörer:innen klatschen. Dann sagt er, dass die Regierung bereits zwei Milliarden Forint für eine Schmutzkampagne gegen ihn ausgegeben habe.

Investigative Journalisten sprechen sogar von 2,5 Milliarden Forint, umgerechnet knapp 6,4 Millionen Franken. Man muss nicht weit laufen, um Fidesz-Plakate mit dem Wort «Krieg» und dem Gesicht von Péter Magyar zu sehen. Das ist das neuste Narrativ des Putin-Freundes Orbán: Wer für Waffenlieferungen in die Ukraine ist, ist ein Kriegstreiber.

Viel gestohlenes Geld

Über das tatsächliche Programm der Tisza-Partei ist bislang wenig bekannt. Auch wo Magyar politisch steht, lässt sich derzeit nur erahnen. Magyar selbst sagt immer wieder: «Wir sind nicht links, wir sind nicht rechts, wir sind Ungarn.»

Kritiker:innen bezeichnen den Ex-Fidesz-Mann deshalb als rechten Opportunisten. Darauf angesprochen, sagt Magyar: «Ich wollte nie Politiker werden. Es wäre einfacher für mich, ein Vater für meine drei Kinder zu sein und am Wochenende mit ihnen Fussball zu spielen, anstatt gegen die Propaganda von Viktor Orbán anzutreten. Da ist es mir scheissegal, was die anderen von mir denken.» Er habe die Partei gegründet, weil ihn Tausende von Menschen nach dem viralen Interview dazu aufgefordert hätten.

Péter Márki-Zay trat vor zwei Jahren als Spitzenkandidat der vereinigten Opposition gegen Ministerpräsident Viktor Orbán an. Und verlor haushoch. Er sagt, Magyar sei so beliebt, weil man ihn noch keinem Lager zuordnen könne. Doch lange werde das nicht mehr so bleiben. «Magyar war Teil von Orbáns System, er hat als Leiter von Staatsbetrieben Verträge unterschrieben, bei denen viel Geld gestohlen wurde. Aber im Moment interessiert das die Leute nicht.»

Nach exakt 43 Minuten ist auch die Rede in Mindszent geschafft. Magyar muss weiter, in die nächste Stadt. Aber vorher macht er noch ein Selfie mit István Bónus.

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