Ungarn: Der Frust der Jungen wächst

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Eine Begnadigung in einem Kindesmissbrauchsskandal hat in Budapest zu grossen Protesten geführt, an denen sich vor allem junge, bisher wenig an Politik interessierte Menschen beteiligten. Kann die zerstrittene Opposition davon profitieren?

Demonstration am 21. Februar in Budapest
Solidarität mit den Opfern eines Missbrauchfalls: Demonstration am 21. Februar in Budapest. Foto: Bernadett Szabo, Reuters

Mitte Februar war der berühmte, weiträumige Heldenplatz so voll, dass einige Protestteilnehmer:innen auf die Riesenstatuen bärtiger Vorfahren klettern mussten, um Platz für noch mehr Menschen zu schaffen. Über 150 000 beteiligten sich an einer der grössten regierungskritischen Kundgebungen der letzten Jahre.

Viele davon waren junge Ungar:innen, die unter Viktor Orbáns Regime aufgewachsen sind und bisher wenig bis gar kein politisches Interesse gezeigt hatten. Die Demonstration war eine von mehreren, die von prominenten Personen angemeldet wurden. Leuten, die nicht als oppositionelle Stimmen bekannt sind, sondern aus der Influencer-, Youtube- und Musikszene stammen. Eine davon ist etwa die 26-jährige Mutter Judit Bányai, die mit ihren lustigen Instagram-Videos zum Thema Kindererziehung eine Gefolgschaft von mehreren 100 000 Follower:innen hat. Obwohl einige Oppositionsparteien ihre Anhänger:innen dazu aufriefen, sich der Aktion anzuschliessen, wurde seitens der Organisator:innen gebeten, auf politische Symbole und Fahnen zu verzichten.

Hilfe für einen Fidesz-Getreuen?

Auslöser der Protestwelle war die Anfang des Jahres bekannt gewordene Begnadigung von Endre K., des ehemaligen stellvertretenden Direktors eines Kinderheims, der 2018 in einer Missbrauchs- und Vertuschungsaffäre zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. Sein Name tauchte 2023 auf einer Begnadigungsliste des Präsidialamts auf.

Die TV-Reporterin Judit Moskovics deckte die Geschichte einige Monate später auf, nachdem sie im Rahmen ihrer Recherchen in den Prozessakten zufällig von dieser Liste erfahren hatte. Es ging dann Schlag auf Schlag. Am 10. Februar mussten Staatspräsidentin Katalin Novák, die das Begnadigungsdekret unterzeichnet hatte, sowie Judit Varga, die zu diesem Zeitpunkt Spitzenkandidatin der Regierungspartei bei den EU-Wahlen im Juni war und früher als Justizministerin den Begnadigungsvorschlag gemacht hatte, zurücktreten.

Aus welchen Gründen Endre K. begnadigt wurde, bleibt bis heute ungeklärt. In den wenigen noch unabhängig gebliebenen Medien wird auf seine freundschaftlichen Beziehungen zu diversen Figuren aus Fidesz-Kreisen verwiesen. Dafür gibt es viele Indizien. Allerdings fehlen handfeste Beweise, auch weil offizielle Stellen die Zusammenarbeit mit unabhängigen Journalist:innen grundsätzlich verweigern. Bei der präsidialen Entscheidung soll etwa der frühere Minister Zoltán Balog, der als einer der engsten Berater Orbáns gilt, ausschlaggebend gewesen sein. Er war bis vor kurzem Vorsitzender der Synode der Reformierten Kirche und musste dieses Amt wegen des Skandals ebenfalls verlassen.

Nervosität vor den EU-Wahlen

Für die rechtspopulistische Regierungspartei, die sich in ihrer Propaganda Kinderschutz und traditionelle Familienwerte gross auf die Fahne schreibt, kommt die ganze Affäre zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt. Gerade jetzt, kurz vor den EU-Wahlen, behauptet die Fidesz, einen «Widerstandskampf» gegen die EU-Behörden zu führen, die angeblich immer wieder versuchen sollen, dem christlich geprägten ungarischen Volk alternative Familienmodelle, LGBT-Rechte und bald auch die Toleranz für Pädophilie aufzuzwingen.

Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verschlechterung der Lebensbedingungen – hohe Energiekosten, Inflation, weniger Chancen auf einen erfolgreichen Berufseinstieg – scheint vielen jungen Ungar:innen die Regierungspropaganda nicht nur scheinheilig, sondern eben auch ein Versuch zu sein, die öffentliche Aufmerksamkeit von den wichtigen sozialen Themen abzulenken. In der Konsequenz kocht der Unmut vor allem bei den Menschen hoch, die keinem der beiden politischen Lager angehören und die Debatten über traditionelle Werte und Minderheitenrechte nicht unbedingt für alltagsrelevant halten. In den ungarischsprachigen sozialen Medien kursierten in den letzten Wochen viele Kommentare und Botschaften, die die Ungerechtigkeit der Verhältnisse im Land zum Thema machen. Umfragen zufolge geben fast zwei Drittel der Menschen unter dreissig an, unzufrieden mit dem heutigen Stand der Demokratie in Ungarn zu sein.

Ob die zerstrittene Opposition bald von dieser Unzufriedenheit profitieren kann, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Einst etablierte Parteien wie die sozialdemokratische MSZP sind heute beinahe in die Bedeutungslosigkeit abgestürzt. Neuere politische Konstruktionen wie die grüne LMP («Politik kann anders sein») oder die basisdemokratisch orientierte Momentum-Partei tun sich schwer damit, Unterstützung jenseits des politisch aktiven linksliberalen Milieus in Budapest und anderen Grossstädten zu gewinnen. Momentum war vor zehn Jahren selber aus Strassenprotesten gegen die Orbán-Regierung entstanden. Zu einer Kundgebung der Oppositionsparteien, die vergangenen Sonntag vor dem ungarischen Parlament organisiert wurde, sind gerade einmal tausend Menschen gekommen.