Ein Traum der Welt: Bewegliche Ordnung
Annette Hug zu Besuch bei Roland Gretler
Das Archiv war eine Ausstellung, die sich als Unordnung tarnte. Untergebracht war sie im Dachstock des Zürcher Schulhauses Kanzlei. Roland Gretler stand darin und redete. Weil er nicht auf Antworten wartete, konnte man dazu herumwandern. Dabei veränderten sich die Geschichten. Im Jahr 2007 waren wir einmal zu zweit da und kamen mit unterschiedlichen Erzählungen heraus. Ich sah eine Ausstellung zum Victoryzeichen, mein Begleiter erinnert sich vor allem an Zigaretten.
Seit kurzem ist ein Kernbestand von Gretlers «Panoptikum zur Sozialgeschichte» im Sozialarchiv digitalisiert. Mit dem Suchbegriff «Victory» finde ich Winston Churchill in einer Limousine auf dem Limmatquai, im Hintergrund der Turm der Fraumünsterpost. Ein Besuch bei Roland Gretler führte aber immer über die Landesgrenzen hinaus. Da waren zum V-Zeichen aufgestreckte Guerillerofinger, wenn ich mich recht erinnere. Das V entfremdet und auch vermarktet. Die Zeichen waren bei Gretler im Fluss.
Auch ich erinnere mich an ein rotes Päckchen Marlboro-Zigaretten, das wie Abfall wirkte, bis deutlich wurde, dass im ganzen Raum Dokumente und Objekte auflagen, die etwas mit Tabak zu tun hatten. Gretler erzählte die Geschichte eines Streiks in Frankreich, bei dem Arbeiter:innen auf eigene Faust die Zigarettenproduktion weiterführten, um Geld für die Streikkasse hereinzuholen. Sie änderten das Logo, solidarisches Rauchen war gefragt. Das waren kurze, glückliche Blitzlichter: wenn sich avancierte Grafik mit einem Moment der Freiheit traf. Wenn politische Befreiung und künstlerischer Eklat zusammenfielen.
Roland Gretler wurde 1937 geboren und wuchs in der Ostschweiz auf. Er war Fotograf und junger Kommunist, wurde aus der Partei der Arbeit (PdA) ausgeschlossen, war in der 68er-Bewegung aktiv und begann früh, ein eigenes Archiv aufzubauen.
Die Streikzigaretten finde ich über den Katalog des Sozialarchivs nicht. Hat er davon vielleicht nur erzählt? Führten die ausgestellten Dokumente in einer Art Suchspiel auf jene Geschichte hin? So wie Nelson Mandela immer präsent war, ohne dass ein Bild von ihm gehangen hätte. Meine Notizen zu jenem Besuch 2007 rufen mir in Erinnerung, was es mit Roland Gretlers Art, Zeitungsartikel auszuschneiden, auf sich hatte. Er tat es mit behutsamsten Bewegungen seiner klobigen Hand und erzählte dabei, dass Mandela im Knast keine Schere und kein Messer haben durfte, aber viele Zeitungen las. Also habe er die Technik perfektioniert, auf dem Bett mit den Fingernägeln einen Falz so nachzufahren, dass sich das Papier dann ohne störende Zäckchen ausreissen liess.
«Zeit haben für das Echte» steht auf einem Plakat aus dem Jahr 1980, das einmal eine Werbung für Marlboro-Zigaretten war. Die Künstler A. Jost und H. P. Zingg haben es mit einer Stempelkarte hinterlegt, so wird der Spruch zum Hohn auf den Alltag von Arbeitslosen. Ein weiteres Digitalisat des Sozialarchivs zeigt eine Zigarettenpackung mit der Friedenstaube von Pablo Picasso und der kyrillischen Aufschrift «Zweiter Weltfriedenskongress». Eine Gruppe von Jugendlichen steht rauchend vor der Papierfabrik Perlen, im Luzernischen. Roland Gretler hätte dazu eine Geschichte erzählen können. Jetzt erinnert mich mein Begleiter von 2007 an Rolands Krebserkrankung. In der Ausstellung der Zigarettensujets habe er damals auch die Angst gelesen, es könnte zu Ende gehen.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und freut sich sehr, dass jetzt über die Website des Sozialarchivs Zürich 15 000 Bilder aus Gretlers Panoptikum der Sozialgeschichte einfach zugänglich sind.