Flüchtlingspolitik: In Brissago entschied sich ihr Schicksal

Nr. 24 –

Erstmals werden im Tessin Stolpersteine eingeweiht. Sie gedenken der Familie Gruenberger, die 1943 in die Schweiz fliehen wollte.

Fotomontage: Fotos von Edith Szimkovics Gruenberger und Egone Gruenberger mit einem amtlichen Dokument
Edith Szimkovics Gruenberger durfte in der Schweiz bleiben, weil sie schwanger war, ihr Mann Egone Gruenberger wurde ausgeschafft. Fotos: Schweizerisches Bundesarchiv, Signatur E4264

Der 17. Dezember 1943 hätte einer der besten Tage ihres Lebens werden sollen: Die Reise von Mailand nach Cannobio am Lago Maggiore war geschafft. Sechs Kilometer weiter nördlich befand sich die Grenze zur Schweiz – um Mitternacht machten sie sich zu Fuss auf den Weg dorthin.

Es ist schwer vorstellbar, wie die Flüchtenden diesen Weg in jener finsteren, mondlosen Winternacht schaffen konnten. Die Grenze verläuft hier durch eine felsige Schlucht voller Gesteinsblöcke. Die Gruppe bestand aus Edith Szimkovics Gruenberger, ihrem Ehemann Egone, der Schwiegermutter Adele Horitzki Gruenberger, dem Schwager Erico Gruenberger und der Schwiegertante Regina Horitzki. Im Bundesarchiv ist ein Einvernahmeprotokoll erhalten: «Ort und Zeit des Grenzübertritts: Madonna di Ponte (Brissago) 17. 12. 1943 0730 illegal», ist da vermerkt. Heute ist die Stelle von dornigem Gestrüpp überwuchert, steil und weglos; obwohl der verrostete Grenzzaun umgestürzt ist, gibt es kein Weiterkommen.

Enteignet und erniedrigt

Die Geschichte der Familie Gruenberger beschreibt eines von vielen Tausenden Schicksalen, die sich während des Zweiten Weltkriegs an der Schweizer Grenze abspielten. Am Freitag werden in Brissago vier Stolpersteine eingeweiht: in den Strassenbelag eingelassene Mahnmale, im Gedenken an das Drama der Gruenbergers.

Voraussetzung dafür waren die Nachforschungen der beiden Historiker Raphael Rues und Adriano Bazzocco sowie des Militärhistorikers Marino Viganò zu Fluchtgeschichten an der italienisch-schweizerischen Grenze. Rues’ Buch «Respinti. Il dramma della famiglia ebrea Gruenberger in fuga (1943–1945)» fasst sie zusammen. Auch dieser Text beruht auf ihren Recherchen.

Edith Gruenbergers Vater Sigismondo hatte ein Tuchwarengeschäft in Fiume, dem heutigen Rijeka in Kroatien, besessen. Seit 1915 gehörte die Stadt zu Italien. Eine Woche nach den Novemberpogromen von 1938 in Deutschland hatte der italienische Diktator Benito Mussolini ein Rassengesetz erlassen, das teilweise sogar weiter ging als jenes in Deutschland; für die Betroffenen bedeutete es Entrechtung, Erniedrigungen, Schul- und Berufsverbote sowie Vertreibungen.

Sigismondo Gruenberger durfte sein Geschäft nicht weiterführen, die Tochter Edith musste die Schule verlassen. Und als tschechoslowakischer Staatsbürger und Jude wurde Sigismondo ab 1940 in verschiedenen italienischen Internierungslagern gefangen gehalten. «Als sich die Situation für die Juden immer gefährlicher gestaltete», heisst es im bereits erwähnten Einvernahmeprotokoll, habe die Familie ihr Vorratslager, Radio und Möbel verkauft und so ihre Flucht in die Schweiz finanziert.

An der Grenze befahlen die Schweizer Wachen der Familie, sofort umzukehren. In einem Brief an die Tessiner Historikerin Renata Broggini schrieb Edith Gruenberger später, die Wachen hätten ihnen mitgeteilt, dass die Schweiz keine Flüchtlinge mehr aufnehme. «Es ist unnötig, den Grad der körperlichen und moralischen Schwächung von uns allen zu beschreiben. Der Moment war ‹tragisch›, wir waren am Boden zerstört. Es ist schwer zu beschreiben, aber es war das Ende», erinnerte sich Gruenberger. Sie war zu diesem Zeitpunkt frisch verheiratet und schwanger. «Mein Mann bettelte für die beiden alten Damen, meine Mutter und meine Tante, und für mich», so Gruenberger. «Es gab kein Entgegenkommen, erst nach vielem Drängen durfte ich bleiben, weil ich schwanger war.»

Edith Gruenberger wurde in der Schweiz aufgenommen – Egone, Adele, Erico und Regina aber wurden alle zurückgeschafft. Im jüdischen Dokumentationszentrum CDEC in Mailand findet sich ein Brief von Egone: «Wir wurden auf ein Boot verladen und an das gegenüberliegende Ufer des Lago Maggiore nach Dirinella gebracht», heisst es darin. «Gegen 12 Uhr mittags kamen wir an, um 15 Uhr gingen wir in Begleitung eines Wächters zur Grenze, die wir gegen 16 Uhr überquerten.»

Flucht aus dem Güterwagen

Weil die Frauen äusserst müde waren, ging die Gruppe nicht auf dem Bergweg, sondern entlang der Provinzstrasse in Richtung Pino, wo sie den Zug nach Mailand nehmen wollte. Am Bahnhof aber seien sie auf «zwei Deutsche» getroffen, die sie dazu aufgefordert hätten, sie zu ihrem Kommandoposten in Pino zu begleiten, hielt Egone Gruenberger fest. «Sie fragten uns, ob wir Juden seien, und wir sagten: Ja.»

Zuerst sei die Schwiegermutter befragt worden, dann Schwager Erico. Durch die geschlossene Tür seien Geräusche von Schlägen zu hören gewesen. Danach wurde Egone nackt ausgezogen und geschlagen. In Etappen ging es anschliessend weiter ins Gefängnis von Varese und von dort ins Gefängnis San Vittore in Mailand. 540 Jüdinnen und Juden waren dort zu diesem Zeitpunkt eingesperrt – Frauen, Alte und Kinder.

Am 30. Januar 1944 wurden die Gruenbergers am Mailänder Zentralbahnhof von SS-Soldaten in einen Zug gesteckt. Auf jenem Gleis 21, das heute eine Gedenkstätte ist: Mit jeweils 65 Gefangenen pro Güterwagen fuhr der Zug Nummer 6 an jenem Tag los in Richtung Norden. Die Destination: Auschwitz.

Morgens um halb fünf, als der Zug gerade etwas langsamer fuhr, gelang Egone die Flucht: Zusammen mit Ennio und Odoardo Segre, die beide im jüdischen antifaschistischen Untergrund aktiv waren, zwängte er sich durch ein enges Loch im Güterwagen. Egone war am Knie verletzt, Ennio hatte sich ein Bein gebrochen; zu dritt schleppten sie sich fort, bis sie einen hilfsbereiten Pfarrer fanden. Er vermittelte den drei Flüchtenden Unterschlupf bei einer Bauernfamilie.

Egone wagte anschliessend die Fahrt nach Verona und Mailand, wo er sich eine Unterkunft, falsche Ausweise und frische Kleider besorgte. Er überstand zwei weitere Verhöre, schaffte es nach Masera bei Domodossola, marschierte zusammen mit zwei Partisanen vierzehn Stunden lang durch den Tiefschnee bis ins Onsernonetal. Dort gelangte er auf schweizerisches Staatsgebiet, und er fand zu seiner Frau Edith. Sein Kind jedoch sah er nie: Es war tot zur Welt gekommen.

Adele, Erico und Regina blieben auf dem Zug nach Auschwitz. Von den 605 Menschen, die dieser transportierte, überlebten nur 20. Alle anderen wurden ermordet.

Knapp ein halbes Jahr vor der Flucht der Gruenbergers, im Juli 1943, waren die Alliierten in Sizilien gelandet; die deutsche Wehrmacht hatte daraufhin Nord- und Mittelitalien besetzt und am 9. September einen Vasallenstaat unter Mussolini ausgerufen. An der bis dahin relativ ruhigen Grenze zur Schweiz änderte sich die Lage dadurch fundamental. Massenhaft flohen italienische Soldaten, Deserteure, geflüchtete alliierte Kriegsgefangene, politisch Verfolgte – wie auch Jüdinnen und Juden in die Schweiz. Zehntausende suchten Schutz im Tessin.

Zwischen Bern und Bellinzona

Über die Grenze vom heutigen Strassenzoll bei Brissago bis hinauf zum Gridone, auf 2187 Metern über Meer, verlief eine der Standardrouten für Flüchtende, Schmuggler und Partisan:innen. Steiles Gelände, anstrengend im Sommer, gefährlich im Winter. Allein im Herbst 1943 wurden an diesem Grenzabschnitt 200 Menschen abgewiesen, davon 50 Jüd:innen. Die Behörden wurden anfänglich überrannt, bald schon liess der Bundesrat die Grenze aber stärker überwachen und die Aufnahmekriterien verschärfen.

Die Tessiner Kantonsregierung intervenierte in Bern gegen die Abweisungspolitik. Allerdings setzte sie sich vorab für Intellektuelle und politisch Verfolgte ein, die dereinst das Nachkriegsitalien aufbauen sollten; das Schicksal der jüdischen Geflüchteten interessierte in Bellinzona weniger. Am 1. Dezember 1943 erging im faschistischen Italien der Befehl, Jüd:innen in Lagerhaft zu nehmen, und der Bundesrat lockerte schliesslich seine Weisungen: Fortan sollten Personen, die an Leib und Leben gefährdet waren oder Verwandte in der Schweiz hatten, Einlass erhalten. Ab Ende 1943 wurden dann alle jüdischen Geflüchteten aufgenommen – sofern sie gegen ihre Rückschaffung protestierten. Zu spät für die Familie Gruenberger.

Gemäss Recherchen des Historikers Bazzocco wurden von 1943 bis zum Kriegsende 1945 im Sektor Locarno, zu dem der betreffende Grenzabschnitt gehört, 447 Jüdinnen und Juden aufgenommen, 118 wurden nach Italien zurückgewiesen.

Akte des Widerstands

Aus jener Zeit sind im Tessin auch Akte der Solidarität dokumentiert: das Sammeln von Hilfsgütern durch das Rote Kreuz und andere Organisationen. Spontane Hilfsaktionen der Zivilgesellschaft. Proteste in Ponte Tresa gegen die lastwagenweise Ausschaffung von Geflüchteten. Oder auch Hilfsaktionen von Grenzbeamten und Zivilpersonen in Brissago. Es waren Akte des zivilen Ungehorsams, festgehalten unter anderem in Büchern der Historiker:innen Renata Broggini und Paolo Storelli.

Da war zum Beispiel der Zeuginnenbericht von Marta Latis, die am 17. September 1943 bei Brissago über die Grenze floh. «Auf dem Berg kam uns ein Schweizer Grenzwächter entgegen», schilderte Latis die Situation, als sie mit etwa zwanzig Personen unterwegs war. «Der Grenzer wiederholte, dass wir nicht in die Schweiz kommen könnten, dann blieb er eine Zeit lang weg», worauf sie mit ihrer Gruppe weitergegangen sei, nach Brissago. «Das ganze Dorf kam uns entgegen, als wären wir Sieger, jubelnd. Papa und Mama waren vorne, wir hinten, und wir konnten nicht aufhören zu weinen, es war verrückt.»

Oder der Tagebucheintrag der Jüdin Lea Ottolenghi, die zu jener Zeit in Brissago interniert war. Sie beschrieb eine Szene, als eine Gruppe von etwa dreissig Frauen und Kindern zur Grenze zurückgebracht wurde. «Es sah aus, als ob sie zum Schlachthof gebracht würden!», schrieb Ottolenghi. An jenem 11. September 1943 gab es jedoch Widerstand gegen die Abschiebung: Arbeiterinnen der Tabakfabrik in Brissago streikten, bis die Geflüchteten in der Schweiz bleiben konnten.

So werden in Brissago an diesem Freitag nicht allein die vier Stolpersteine eingeweiht, die dem Schicksal der Familie Gruenberger gewidmet sind – sondern auch eine Gedenktafel, die an die damalige Bevölkerung Brissagos erinnert, die sich auf die Seite der vielen Flüchtenden stellte.