Kolonialismus und Neofaschismus: Verdrängt, verschwiegen, verharmlost
Francesca Melandris opulenter Familien- und Gesellschaftsroman «Alle, ausser mir» erzählt vom moralischen und politischen Zerfall im Italien der letzten Jahrzehnte.
Die 46-jährige linksliberale Lehrerin Ilaria Profeti staunt nicht schlecht, als sie eines Nachmittags im Jahr 2010 vor ihrer Wohnungstür einen schlanken, jungen Schwarzen vorfindet, der sie nach ihrem Namen fragt und daraufhin keck behauptet, sie sei seine Tante. Sein Pass weist ihn als Shimeta Ietmgeta Attilio Profeti aus Äthiopien aus, und Ilarias Spurensuche, die nach diesem Paukenschlag einsetzt, wird weitere Geheimnisse über ihre Familie und die italienische Gesellschaft aufdecken. Geschickt spannt die Autorin Francesca Melandri in ihrem neuen Roman «Alle, ausser mir» den Bogen von der faschistischen Epoche Italiens mit ihren unheilvollen Kolonialkriegen in Afrika bis zu den heutigen Fluchtbewegungen übers Mittelmeer: Shimetas Vater Ietmgeta Profeti – der der Derg-Diktatur in Äthiopien unter Mengistu Haile Mariam zum Opfer fiel – ist der erstgeborene Sohn des Protagonisten des Romans, des 95-jährigen, längst dementen Attilio Profeti.
Dieser Attila, wie sie ihn nennen, ist der Prototyp des agilen Anpassers, schlauen Profiteurs der jeweiligen Verhältnisse. Ilaria – selbst dezidierte Gegnerin von Premierminister Silvio Berlusconi – weiss wenig von der Vergangenheit ihres Vaters als angeblicher Partisan. Allmählich dringt sie zur unappetitlichen Wahrheit vor: Attilio folgt 1935 zwanzigjährig dem Diktator Benito Mussolini freiwillig auf dessen brutalen Eroberungsfeldzug gegen das Kaiserreich Abessinien. In Addis Abeba schwängert er eine Einheimische, was ihn nicht daran hindert, dem obskuren Rassenforscher Lidio Cipriani als Assistent zur Hand zu gehen. Attilio wird Zeuge der mörderischen Senfgasangriffe von Mussolinis Truppen und der grauenhaften Massaker an der Zivilbevölkerung Abessiniens.
Ein zu kleiner Fisch
Erst sechzig Jahre später sollte Italien jenen Giftgaseinsatz öffentlich zugeben, keiner der dafür verantwortlichen Kriegsverbrecher würde länger als ein paar Monate in Haft verbringen. Im Jahr 2012, in dem das Buch mit dem Tod des 97-jährigen Attilio endet, wird in der Nähe von Rom sogar ein aus staatlichen Mitteln finanziertes Denkmal für den Schlächter von Abessinien, General Rodolfo Graziani, eingeweiht.
Nach der Vertreibung der italienischen Truppen durch die Alliierten kehrt Attilio ohne seinen Sohn und dessen Mutter nach Rom zurück und verschweigt alles, was er gesehen und getan hat. Im Nachkriegsitalien gelingt ihm eine zwielichtige Karriere als diensteifriger Akteur in Vetternwirtschaft und Korruption. Er sieht sich als Glückskind, das sich neunjährig schwor: Alle müssen sterben, «alle, ausser mir». Als 1994 im Rahmen der «Mani pulite», einer umfassenden Untersuchung zu Korruption und Amtsmissbrauch in Italien, vieles auffliegt, ist der wendige Schlaumeier fast enttäuscht, dass er – als «zu kleiner Fisch» eingestuft – nicht belangt wird.
Epische Erzählqualität
Ilarias zunächst von privater Neugier, bald jedoch von politischer Empörung getriebenen Recherchen ergeben im Roman einerseits ein facettenreiches Panorama italienischer Kolonial- und Kriegsgeschichte, andererseits ein plastisches Porträt des Landes und seines politischen und moralischen Niedergangs in den letzten Jahrzehnten. Klug vermischt Melandri historische Fakten mit einer fiktiven Familiengeschichte. Ihr Roman überzeugt mit einer Fülle prägnant gefasster Figuren und wechselnden Perspektiven. Die Autorin erzählt griffig, nüchtern, ungeschminkt, oft sarkastisch, stets faktengefüttert.
Bei aller kritischen Distanz und ätzenden Demontage denunziert Melandri ihre Figuren nicht, sondern zeigt ihre Widersprüche auf. So kann sich die moralisch grundsätzlich standfeste Ilaria nicht von ihrem Jugendfreund und heimlichen Geliebten Piero Casati lösen, der für Berlusconis Partei Forza Italia im Parlament sitzt und das System von Nepotismus und mehr oder weniger kaschierter Korruption skrupellos mitträgt.
Ausgezeichnet beherrscht die gelernte Drehbuchautorin Melandri Dramaturgie und Komposition: Ihr Roman arbeitet mit sorgfältig gewählten Schauplätzen und Zeitfenstern, mit Tempowechseln und vielen stilistischen Varianten. Unübertrefflich etwa, wenn Shimetas Ankunft in Rom genau mit einem der peinlichsten Operettenmomente von Berlusconis Regentschaft zusammenfällt: als dieser den ein Jahr später gestürzten libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi mit grössten Ehren empfängt und hofiert. Geschickt auch die Wahl des Esquilin-Quartiers in Rom als Schauplatz, wo sich die wachsende Verlotterung der Hauptstadt exakt verfolgen lässt. Beklemmend dann die Beschreibung von Shimetas Flucht aus Äthiopien über libysche Lager, der Überfahrt zum Stiefel bis ins Niemandsland irgendwo am Stadtrand von Rom. Entwickelt Melandri hier detailgenaue epische Erzählqualitäten, konzentriert sie handkehrum im Zeitraffer auf wenigen Seiten, wie die italienische Behörden das Asylgesuch des Geflüchteten schnöde abschmettern.
Zwielichtige Elterngeneration
Neben exakt historisch verortetem Geschehen – der italienischen Kriegsverbrechen etwa oder der Kontinuität italienischer Verstrickung in die nachfolgenden Regimes in Äthiopien – enthält der Roman viele kleine Episoden und Porträts, Rückblicke und Momentaufnahmen. So etwa den Blick auf den Opportunismus und die zwielichtige Rolle der Elterngeneration: Ilarias Grossvater Ernani, Bahnhofsvorstand in der Romagna, schaut stumm weg, als die Schwarzhemden während der Machtergreifung seinen Kollegen und Bahngewerkschafter zu Tode prügeln. Doch dann gibt es auch eine knappe, erschütternde Szene, in der der alte Ernani im Herbst 1943 ungeachtet der Gefahr Deportierte mit Wasser versorgt, die stundenlang dürstend in einem Güterzug auf seinem Bahnhof verharren.
So verknüpft Melandri immer wieder individuelle Schicksale mit der Zeitgeschichte. Dabei erinnert ihr Buch an den schlummernden Klassenkampf. «Der Rassismus», sagt ein Anwalt und Freund Ilarias einmal, «ist die wirksamste Art, den Kampf gegen die Ungleichheiten zu unterbinden – den Klassenkampf, so nannte man das früher. Er dient dazu, die Vorletzten gegen die Letzten aufzuhetzen, denen sie sich überlegen fühlen, damit sie sich nicht zusammen gegen die Ersten auflehnen.»
Melandris Roman ist eine fabelhafte Ergänzung zum grandiosen Familien- und Stadtepos «Meine geniale Freundin» von Elena Ferrante. Fokussiert die Neapolitanerin auf die Zeit zwischen den fünfziger und den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, stehen bei Melandri zunächst die dreissiger und vierziger, dann die achtziger, neunziger und nuller Jahre im Zentrum. Gemeinsam zeichnen die beiden Bücher das erschreckende Bild einer Epoche des moralischen und politischen Zerfalls in Italien.
Francesca Melandri: Alle, ausser mir. Roman. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2018. 604 Seiten. 40 Franken