Internet: Hardcore im Höllenloch
Zeitgeschichte des Webs, in Kurz- und Langdistanz: Neue Bücher von Zoë Schiffer und Andrian Kreye schildern, was die private Verfügungsgewalt über die digitale Infrastruktur alles anrichtet.
Den Zustand des Netzes brachte der Techworker und Publizist Ben Tarnoff 2022 in nur einem Satz auf den Punkt. «Das Internet ist kaputt», hiess es in einer von Tarnoff damals veröffentlichten Streitschrift, «weil das Internet ein Business ist.»
Dabei war das Web nicht schon immer eine Gelddruckmaschine für Investor:innen. Im Gegenteil, sein Siegeszug verdankt sich staatlicher Initiative: Am Ursprung der weltweiten Computervernetzung stand das Arpanet, ein vom US-Militär getragenes Projekt, das ohne Regierungsfinanzierung und die Kooperation von Forschungseinrichtungen undenkbar gewesen wäre. Dass öffentliche Institutionen zu träge sein sollen, Innovationen voranzutreiben, und es daher visionärer Geschäftsleute bedarf, ist ein Mythos.
Trotzdem sind heute grosse Teile der digitalen Infrastruktur in Konzernhand. Wer daran zweifelt, dass das ein Problem sein könnte, sollte zu Zoë Schiffers Buch «Extremely Hardcore» greifen. Der kürzlich veröffentlichte Enthüllungsband führt dorthin, wo sich die Missstände der digitalen Welt in fast schon satirisch anmutender Überzeichnung zeigen: Die Autorin referiert auf der Basis vieler interner Quellen, was genau geschah, als der rechtsextreme Milliardär Elon Musk Twitter übernahm, um den Kurznachrichtendienst in ein – inzwischen unter dem Namen «X» firmierendes – Höllenloch umzubauen. Womöglich zeigt sich nirgends in so grellen Farben wie hier, was die oligarchische Verfügungsgewalt über die digitale Infrastruktur konkret bedeutet.
Unter Ultrareichen
Schiffer ist Techjournalistin, sie begleitete in ihren Artikeln den Twitter-Deal gleichsam schon in Echtzeit. Ihre Recherchen entfalten in der Gesamtschau aber noch einmal neue Wucht. Für die Autorin erklärt vor allem die Hybris des Multiunternehmers Musk, warum er sich 2022 an den Kauf von Twitter machte: Immerhin handelt es sich um jemanden, der mit seinem Raumfahrtunternehmen die Menschheit ins All zu verpflanzen beabsichtigt und der sich, weil er auch E-Auto-Fabrikant ist, für den Architekten der planetaren Energiewende hält. Analog wolle sich Musk nun mit Twitter daranmachen, «die Demokratie zu retten und die Redefreiheit auf dem digitalen Marktplatz wiederherzustellen», schreibt die Journalistin.
Schon wie er die 44 Milliarden Dollar für den Kauf zusammenkratzte, führt anschaulich vor, was für Gepflogenheiten in den Zirkeln Ultravermögender herrschen. «Interesse, beim Twitter-Deal dabei zu sein?», schrieb er an Larry Ellison, Gründer des Softwareunternehmens Oracle. «Ja, natürlich», antwortete dieser und bot eine Milliarde an, worauf Musk ein Investment in mindestens doppelter Höhe empfahl. Wenn gerne über abgehobene Eliten geklagt wird, die in ihrer ganz eigenen Welt leben: Hier kann man sie in Aktion bestaunen.
Leidtragende der Übernahme waren erst einmal die bei Twitter Angestellten. Einmal forderte sie ihr neuer Chef auf, fünfzig Seiten selbst programmierten Code auszudrucken, um damit bei ihm vorstellig zu werden. Von geplanten Massenentlassungen erfuhren sie aus den Medien. Die Kündigung kam dann per Mail mit der Betreffzeile: «Deine Rolle bei Twitter». Für knapp die Hälfte der Mitarbeiter:innen war eine solche nicht mehr vorgesehen.
Manche bekamen die Willkürherrschaft besonders zu spüren. Einen seiner Programmierer, der wegen einer Muskelerkrankung im Rollstuhl sitzt, bezichtigte Musk, faul zu sein. Dann feuerte er einen Analysten, nachdem dieser ihm das abnehmende Interesse an seinen Tweets schlicht mit den Konjunkturen der öffentlichen Aufmerksamkeit erklärt hatte. Vielsagend auch, wie sich ein französischer Softwareingenieur äussert, der seinen Job unter Musk verloren hat: Er habe nie viel von Gewerkschaften gehalten. Heute jedoch wisse er, wie wichtig es sei, sich kollektiv zu organisieren.
Schiffers Buch ist aber mehr als ein Sittengemälde arbeitsrechtlicher Missstände im Techkapitalismus. Soziale Netzwerke sind mächtige Instrumente. Und politische Motive waren es auch, die Musk als Motivation zum Kauf Twitters anführte: Ihm gehe es um die Gewährleistung von «free speech» – Eckpfeiler des rechtslibertären Glaubensbekenntnisses –, sagte der Milliardär immer wieder. In der Praxis fuhr Twitter unter Musk dann die Moderationstätigkeit in den USA herunter, wovon Rechtsextreme profitierten. Zudem verbreitete der neue Eigentümer selbst munter Fake News. Gleichzeitig belegt Schiffer aber, dass das Unternehmen willfähriger denn je war, sobald Regierungen etwa aus der Türkei oder Indien Zensurwünsche anmeldeten.
Dass ein Konzern dank seiner Marktmacht faktisch auf die politische Entwicklung ganzer Länder einwirken kann, hängt nicht nur an der Personalie Musk. Sein Fall wirft indes offensichtlicher denn je die Frage auf, wie lange es sich Gesellschaften noch leisten wollen, dass Einzelne – legitimiert allein durch ihren Reichtum – über solche Machtmittel verfügen können.
Das nächste grosse Ding
Wenn Schiffer fast aus der unmittelbaren Gegenwart heraus Quellstoff für künftige Techhistoriker:innen liefert, dann ist Andrian Kreyes Buch «Der Geist aus der Maschine» Internetgeschichtsschreibung auf Langdistanz. Der für die «Süddeutsche Zeitung» arbeitende Kulturjournalist, einst Mitbegründer der Zeitschrift «Tempo», verfolgt die Entwicklung des Netzes seit den Achtzigern und hat Leute wie Amazon-Chef Jeff Bezos schon persönlich getroffen. Kreyes Faszination für Technologien ist ungebrochen; erst im Februar vertrat er die mutige These, dass ein neues KI-Handy der Deutschen Telekom, das ohne Apps auskommen soll, die nächste grosse Revolution nach iPhone oder Web 2.0 einläuten werde.
Doch Kreye ist kein naiver Digitalenthusiast. In seinem Buch erinnert er etwa daran, dass künstliche Intelligenz eine Technologie aus den Fünfzigern ist, was den derzeitigen Hype ins rechte Licht rückt: Es handelt sich eben nicht um eine aus dem Nichts über die Menschheit hereingebrochene Erfindung. Ebenso relativiert er den Geniekult um die Bosse aus dem Silicon Valley, indem er die politischen Weichenstellungen in den Neunzigern herausstreicht, die den Siegeszug des Internets möglich machten.
Damals wurde Bill Gates als grosser Zampano herumgereicht, eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielte aber Al Gore. Vom früheren US-Vizepräsidenten stammt das Schlagwort vom «Datenhighway», Gore hatte einst den Ausbau des Arpanets vorangetrieben. Zudem verantwortete er ein Gesetzespaket, das 600 Millionen Dollar für den Aufbau einer digitalen Infrastruktur in den Vereinigten Staaten bereitstellte. Für Kreye belegt das die These der Ökonomin Mariana Mazzucato, dass Staaten – und eben nicht primär Konzerne – «immer schon der Treiber für Innovation und Entwicklung gewesen waren».
Ende der Euphorie
Welche Konsequenzen wiederum die später errungene Marktmacht der US-Plattformen haben kann, schildert Kreye anhand des Falls Myanmar. Dort hatte Facebook 2016 eine App lanciert, mit der man auf das Netzwerk zugreifen konnte, ohne für den Datenverkehr bezahlen zu müssen. Das Unternehmen wurde damit zu einer Art Ersatzinternet im südostasiatischen Land – eine Form des digitalen Kolonialismus –, was das dortige Militär bald zu nutzen wusste, indem es auf Social Media systematisch gegen die muslimische Minderheit der Rohingya Stimmung machte. Facebook reagierte nicht, angeblich soll es nur einen Mitarbeiter gegeben haben, «der der burmesischen Sprache mächtig war und von Dublin aus Inhalte auf Gewaltaufrufe und Hetze überprüfen und notfalls löschen konnte». 2017 begannen dann die Massaker und Vertreibungen.
Es sind solche Geschichten, die einen «Techlash» befeuerten, der Kreye zufolge «die Aufbruchstimmung der digitalen Welt in ihr Gegenteil» verkehrte. Seither sind Forderungen nach der Zerschlagung von «Big Tech» lauter geworden. Für wahrscheinlicher hält es Kreye jedoch, dass das World Wide Web in Kürze in Paralleluniversen kollabieren könnte, kontrolliert von Apple, Google und Co. Oder aber man lernt doch noch aus der Geschichte.
Zoë Schiffer: «Extremely Hardcore. Inside Elon Musk’s Twitter». Random House. New York 2024. 352 Seiten. 42 Franken.
Andrian Kreye: «Der Geist aus der Maschine. Eine superschnelle Menschheitsgeschichte des digitalen Universums». Heyne Verlag. München 2024. 368 Seiten. 37 Franken.