Ein Traum der Welt: Tessiner Gertel
Annette Hug ist in mehreren Wäldern
Manchmal passt ein Buch perfekt. Beim Spalten von Rundhölzern in einem jurassischen Wald hallen Szenen aus Daniel Maggettis neuem Buch, «Matlosa», nach. Der Autor erzählt von Köhlern in der Region Brescia, die wochenlang im Wald leben, um nach strengen Regeln einen Meiler aufzuschichten, ihn so zu entzünden, dass das Feuer nur mottet und nichts in Flammen aufgeht.
Cecchino gehört zu ihnen, teilt aber die faschistischen Sympathien seiner Dorfgenoss:innen nicht. Deshalb stellt ihn niemand mehr an, und er wandert in den dreissiger Jahren ins Tessin aus. Zurück lässt er eine Tochter und seine junge Ehefrau, die mit einer frommen und eigenwilligen Verwandten einen Haushalt führt. Für sie wird der Nachzug in die Schweiz zum seelischen Desaster. Daniel Maggetti folgt den Spuren, die ihm von seinen italienischen Grosseltern geblieben sind, und ergänzt die Erzählung mit Recherchen über Köhler, faschistische Bergler:innen und katholische Laienschwestern. Das alles in einem wunderbaren Hin und Her zwischen Vorstellungskraft und Respekt vor den Erinnerungslücken.
«Tessiner Gertel» heisst in der Deutschschweiz ein furchtbares und nützliches Werkzeug für die Waldarbeit. Die lange, breite, ganz vorne zu einem Spitz gebogene Klinge kommt dem am nächsten, was international als Machete bekannt ist. Auf den Philippinen heisst sie Bolo Bolo und ist legendär: die erste Waffe der Landarbeiter:innen in Aufständen gegen Hacienderos und Kolonialherren. Das Werkzeug ist gefährlich. Immer nur vom eigenen Körper wegschlagen, wurde mir beim Entasten eingebläut.
Und wenn ich mir vorstelle, wie leicht die Klinge einen Finger abhacken oder in ein Schienbein eindringen könnte, drängen sich wie Blitze Bilder auf, die sich aus Berichten über den Genozid in Ruanda abgelagert haben: Millionen Menschen wurden 1994 innert weniger Wochen mit Macheten erschlagen. Gegen diese Blitze wirken, wie ein Schutzzauber, die eleganten Bewegungen eines jungen Forstwarts, der mir im jurassischen Wald beisteht. Ihm dient der Gertel dazu, seinen Rücken zu schonen. Gespaltene Hölzer scheint er nur leicht anzutippen, die Spitze des Gertels steckt fest, und er nimmt sie hoch, als wären sie federleicht.
Auf Hochdeutsch würde der Gertel «Hippe» heissen, aber das Wort sagt mir gar nichts. Daniel Maggetti verwendet im Buch «Une femme obscure» (2019) den französischen Ausdruck «serpe». Auch diese Erzählung folgt Vorfahr:innen, die knapp an der Verelendung vorbei in Tessiner Bergtälern (oder in den USA) ein Auskommen finden. Maggetti schreibt französisch. Sein ganzes Erwachsenenleben verbringt er schon als Literaturwissenschaftler in dieser Sprache, heute ist er Professor an der Universität Lausanne. In seine Prosa fliessen Wörter aus Tessiner Dialekten ein und das Lombardische der «Matlosa» – was die Zugezogenen bezeichnet, die man nicht zuordnen kann. «Hergelaufene»?
Während im Schweizer Alltag immer öfter Englisch als Verkehrssprache dient, eröffnet die Lektüre von Maggettis Büchern eine andere Richtung: Hinein in die Verästelung verschiedener Sprachen, in ihre Überlagerungen und Resonanzen. Die halten sich nicht an Landes- und schon gar nicht an Kantonsgrenzen. Warum noch keines seiner Bücher in deutscher Übersetzung vorliegt, ist mir schleierhaft.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und empfiehlt das 2023 erschienene Buch «Matlosa» von Daniel Maggetti (Éditions Zoé, Genf).