Maria Montessori: Eugenisch motivierte Verführerin
Zwischen pseudoreligiösem Kitsch und biologistischen Züchtungsvorstellungen: Die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter findet in den Schriften Maria Montessoris pädagogisch wie sozial hochproblematisches Gedankengut.
Irgendwo ist ein Kind verborgen. Ein verkanntes Kind. Dieses Kind «gilt es ausfindig zu machen, und dazu bedarf es einer Begeisterung und Opferwilligkeit ähnlich jener, mit der die Goldsucher in die fernsten Länder vordringen», schrieb die italienische Ärztin und Biologin Maria Montessori 1938 in ihrem Opus magnum «Kinder sind anders». Dabei ging es ihr «um nichts Geringeres als um die Auffindung eines für den moralischen Fortschritt der Menschheit unerlässlichen Elements».
Die Pädagogin Sabine Seichter erkennt in dieser Mission Montessoris eine Art «Optimierungsreligion», ausgehend von der Überzeugung, dass der Mensch planbar, machbar, ja genetisch herstellbar sei. In ihrer umfassenden Analyse von Montessoris Schriften geht sie deren «Traum vom perfekten Kind» als einem Messias der Menschheit, einer fleischgewordenen Vervollkommnung und Perfektionierung auf den Grund. Dabei wird deutlich: Montessoris Mission ist eugenisch motiviert und mit viel religiösem Pathos angereichert.
Seichters Buch «Montessoris langer Schatten» enttarnt die Ärztin und Biologin als eine schlaue «Menschen(ver-)führerin», die um die immense Kraft ihrer emotionalen Wortwahl weiss. Selbst in universitären Vorlesungen verzichtet sie auf einen wissenschaftlichen Sprachduktus, reichert ihre Ausführungen stattdessen freimütig mit biblischen Erlösungsmetaphern an. «Die Wunder des 20. Jahrhunderts müssen der Pädagogik überlassen werden!», verkündet sie Philosophiestudent:innen an der Universität Rom. «Sie wird die Schwachen retten, den Stummen die Sprache schenken, die Gekrümmten aufrichten und die Gelähmten zum Gehen bringen, den Schwachsinnigen geistige Fähigkeiten vermitteln und das kindliche Herz der moralisch Gestörten anrühren müssen.»
Dahinter steht der Leitgedanke, die Menschheit vor Zerfall und Entartung zu schützen. Wer von der «gesellschaftlichen Norm» abweicht, gilt Montessori als «Schädling der Gesellschaft», der bekämpft, ja entfernt werden muss. Sie setzt sich für eine Aufwertung biologischer Reproduktion zugunsten einer «Höherbildung der Rasse» ein, wie Seichter zeigt, «angefangen bei einer neuen Sensibilität für Sexualhygiene, der Notwendigkeit einer staatlichen Fortpflanzungskontrolle im Umkreis eines neuen Frauen- und Mutterbildes bis hin zu dem Gedanken einer wissenschaftlich-technischen Gleichsetzung von Agrikultur und Homokultur, Ackerbau und Menschenzüchtung».
Idealisiert und romantisiert
Für den Zürcher Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach sind diese Erkenntnisse zu Maria Montessori kein Novum: «Die Nähe zum Faschismus, zum Nationalsozialismus und zur Rassentheorie findet sich auch in anderen reformpädagogischen Bemühungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.» Ansätze, die in der Erziehungswissenschaft schon seit Jahrzehnten kritisch beleuchtet werden. Was Montessori betrifft, betont Reichenbach die theoretisch explosive Mischung aus Biologie und Religion. Aber es gelte zu unterscheiden zwischen ihrem Denken und Wirken und der gegenwärtigen Montessori-Pädagogik.
Allein in der deutschen und rätoromanischen Schweiz wird sie an 68 von der Assoziation Montessori lizenzierten Schulen angewendet. «Soweit ich dies beurteilen kann, sind die Leute, die dort unterrichten, pädagogisch sehr engagiert», sagt Reichenbach. «Dennoch glaube ich nicht, dass sie Montessoris Schriften und Theorien selber gut kennen und kritisch betrachten können. Das ist nämlich gerade keine Voraussetzung, um Montessori zu sakralisieren oder aber zu dämonisieren.» In ästhetischer Hinsicht seien viele Passagen in Montessoris Schriften schlimmer Kitsch. «Aber diese sowohl pädagogisch als auch politisch problematische Ästhetik wirkt gewissermassen identitätsstiftend und gibt dem Lehrpersonal offenbar das Gefühl, selbst auf der richtigen Seite zu stehen.»
Auch Sabine Seichter betont diese emotionale Vereinnahmung. Im Mittelpunkt des «Montessorianismus» stehe eine gemeinsame Glaubensbekundung zu Montessoris Idealen der kindlichen Entwicklung, die wie ein omnipotentes Allheilmittel für alle möglichen Gebrechen der Zeit anmuten. Eine nüchterne, kritische Auseinandersetzung mit ihren Ideen zählt nicht dazu. Im Gegenteil: Das naturalistisch-eugenische Denken der Meisterin wird tabuisiert, ihr gesamtes Denken beschönigend in die freiheitsliebende Tradition der europäischen Aufklärung gestellt. Montessori wird idealisiert und romantisiert. Seichter, selbst Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft in Salzburg, erkennt darin eine pseudobiografische, verkitschte, als solche aber besonders breiten- und medienwirksame Heldinnenverehrung.
Was ihr Buch demgegenüber leistet, ist eine längst überfällige theoriehistorische Kontextualisierung von Montessoris Werk; eine quellenbasierte Auseinandersetzung, wie sie die populäre Montessori-Ratgeberliteratur ebenso wie viele vermeintlich erziehungswissenschaftliche Publikationen lange Zeit vermissen liessen. Seichter öffnet ein kulturelles Panorama: von der Pädagogik um 1900 über Maria Montessori als exemplarische Denkerin ihrer Zeit hin zu einem weitschweifenden Blick auf aktuelle Entwicklungen mit Bezug zu Montessoris «Höherbildung» und der genetischen Optimierung des Menschen.
Dem Matthäus-Effekt entgegentreten
Auch heute noch, rund ein Jahrhundert später, sind viele vom Label «Montessori» fasziniert. Damit einher geht letztlich die – wenn auch stillschweigende – Akzeptanz ihres bio- und sozialtechnologischen Gedankengebäudes zur Schaffung des perfekten Kindes. Montessori selbst war keine Pädagogin. Sie denkt das Kind nicht als Individuum, sondern als Auswuchs eines vorgegebenen Bauplans, der sich homogen zu entwickeln hat. «Wer von Vielfalt und Inklusion träumt, sollte sich besser nicht auf Montessori berufen», resümiert Sabine Seichter gegen Ende ihres Buchs. Was Montessori dagegen beherrscht, ist die Klaviatur neoliberalen Erziehens: Körperökonomie, Selbsttechnologie, Leistungsvermessung, Vergleichbarkeit, Normierung und Optimierung. Eine Goldsuche halt.
In der Diskussion um die Montessori-Pädagogik stellen sich nicht zuletzt Fragen nach der Rolle von Privatschulen, nach Bildungsprivilegien und Chancengerechtigkeit. Margrit Stamm, emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften, findet klare Worte: «Was den Schulerfolg betrifft, wird der Gap zwischen Kindern aus benachteiligten Milieus und jenen aus gut situierten Familien von Jahr zu Jahr grösser.» Die Forschung spricht hier vom sogenannten Matthäus-Effekt: «Wer hat, dem wird gegeben.» Wer daheim von Eltern mit akademischer Ausbildung in den Schlaf gewiegt wird, umgeben von Büchern, Spielzeug und liebevollen Mitmenschen, bringt diesen «Heimvorteil» auch in die Schule mit. Wer jedoch nicht auf solch wertvollem Kulturkapital gebettet liegt, bleibt aussen vor. «Seit Jahren zeigt die Bildungsforschung, dass die Schere bereits ab Kindergarten je nach kulturell-familiärem Hintergrund weiter aufgeht», sagt Margrit Stamm. «Wir brauchen einen neuen, positiveren Blick auf benachteiligte Kinder; Kinder, die aller Wahrscheinlichkeit nach kaum eine Montessori-Schule besuchen.»
Um dieser sozialen Segregation entgegenzuwirken – um also die weit auseinanderklaffende Schere in der Verteilung von Bildungschancen wieder zu schliessen –, scheint es unabdingbar, die öffentliche Schule zu stärken. Sabine Seichters Buch zu Maria Montessori liefert zumindest gute Argumente dafür, Privatschulen mit ihren je eigenen pädagogischen «Philosophien» weder blindlings hochzujubeln noch zu verteufeln, aber kritisch zu hinterfragen. Dadurch wird die öffentliche Schule nicht automatisch besser. Aber auch nicht schlechter.
