Bildungshürden: «Zu viele von den Falschen schaffen es an die Universität»
Herkunft zensiert: Wer in eine der unteren Schichten hineingeboren wird, bleibt bildungsmässig dort gefangen. Warum das so ist, erforscht die mittlerweile emeritierte Pädagogikprofessorin Margrit Stamm. In der Schweiz schaffen es nicht viel mehr Arbeiterkinder an die Uni als vor einem halben Jahrhundert.
WOZ: Frau Stamm, sagt die Herkunft etwas über die Begabung aus? Oder anders gefragt: Sind Menschen, die aus den unteren sozialen Schichten stammen, dümmer als solche aus der Mittel- oder Oberschicht?
Margrit Stamm: Das ist die simple Erklärung. Die Maturaquote von Kindern aus gut situierten Familien zeigt, dass inzwischen 85 von 100 dieser Kinder eine Matura machen. Diese Quote ist gestiegen. Hingegen ist die Quote der Arbeiterkinder, und dazu zählen heute auch Kinder aus Migrantenfamilien, im Vergleich zu den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts kaum gestiegen.
In der Schweiz stört dieser Umstand kaum jemanden, es wird mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Das ist der eigentliche Skandal. Es wird dann unterstellt, dass diese Kinder halt dümmer seien – als ob die Auslese objektiv wäre. Das ist sie natürlich nicht.
Was weiss die Forschung darüber?
Alle Längsschnittstudien mit einem Forschungsdesign der empirischen Forschung zur Untersuchung sozialer und individueller Wandlungsprozesse zeigen, dass die Familie das alles durchdringende Kriterium ist. Die Herkunft zensiert. Gut situierte und gut ausgebildete Eltern wehren sich für ihre Kinder, sie machen wenn nötig Rekurse oder schicken ihren Nachwuchs auf Privatschulen, wenn es an den öffentlichen Schulen nicht klappt. So kommen auch Leute an die Universität, die dort eigentlich nichts zu suchen hätten. Die Eliten reproduzieren sich selbst, inzwischen bis hinunter zu frühkindlichen Förderungsmassnahmen.
Und wie verhält es sich mit Eltern aus ökonomisch schwachen oder bildungsfernen Schichten?
Aufgrund ihres Bildungshintergrundes oder wegen mangelnder Sprachkenntnisse bei Migranten sind diese Eltern oft nicht in der Lage, ihre Kinder adäquat zu unterstützen. Dabei verlangt die Schule die Mitarbeit der Eltern, etwa bei Hausaufgaben. Darum scheitern viele von ihnen bereits beim Übergang von der Primarstufe zur Sekundarstufe I. Dort findet eine Selektion statt, die alles andere als objektiv ist. Vor allem in jenen Kantonen, wo die Eltern bei der Empfehlung ein Wort mitreden können.
Ein weiteres hemmendes Element für diese Kinder sind auch die Berufsberatungen. Sie sind nicht auf Arbeiterkinder eingestellt. Ihre Eltern durchschauen das Bildungssystem nicht, wissen also nicht Bescheid. Und dann doppeln die Berufsberatungen oftmals nach: «Wissen Sie, ihr Kind ist in einer Berufslehre auch gut aufgehoben.» Die Berufsberatung ist also ein weiteres Nadelöhr. Für intellektuell begabte, wissensdurstige Kinder ist das eine Katastrophe.
In der Schweiz wird gerne vor der Akademisierung gewarnt. Aber wenn ich es mal plakativ sagen darf: Es gehen zu viele von den Falschen an die Universität.
Aber die Schweiz verfügt über ein sehr durchlässiges Bildungssystem. Wer eine Lehre macht, kann via Berufsmatura und Fachhochschule sogar an die Universität wechseln.
Richtig, die Schweiz hat strukturell wohl eines der durchlässigsten und besten Bildungssysteme der Welt. Faktisch funktioniert die Durchlässigkeit für Kinder aus den unteren Schichten nach unten und für Kinder aus gut situierten Familien nach oben. Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die es bis zur Matura oder zur Berufsmatura schaffen, ergreifen seltener ein Fachhochschul- oder Universitätsstudium. Es ist die nächste grosse Hürde. Das belegen alle Erhebungen. Es braucht eben mehr als Schulwissen. Sogenannte Soft Skills sind wichtig, also das Wissen darum, wie man so etwas anstellt.
Die Forschung kennt offensichtlich einige Gründe, weswegen es eben nicht zwingend zur Auslese der Besten, sondern zu einer Auslese nach sozialen Kriterien kommt. Fliessen diese Erkenntnisse nicht in die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer ein?
Wir kennen einige Gründe, aber wir wissen noch nicht genug. Wir planen für nächstes Jahr das Forschungsprojekt «Arbeiterkinder an die Uni». Doch bereits die aktuellen Forschungen, die in die Ausbildung einfliessen, würden einiges bewirken. Aber die berufliche Sozialisierung der Lehrerinnen und Lehrer findet in den Schulen selbst statt.
Es gibt die sogenannte Wissensverwendungsforschung. Diese untersucht, wie der Begriff sagt, ob und wie neue Erkenntnisse in der Praxis verwendet werden. Wir Forscherinnen und Forscher bereiten Erkenntnisse verständlich auf und stellen sie der Lehrerschaft zur Verfügung und geben Empfehlungen ab. Wir erwarten, dass diese umgesetzt werden. Leider ist das in der Regel nicht der Fall. Die Wissensverwendungsforschung zeigt, dass die Erkenntnisse oft gar nicht erst umgesetzt oder falsch umgesetzt werden. Doch es gibt Schulen, die sie aufnehmen. Das erkenne ich persönlich an Anfragen und Einladungen, die ich erhalte. Es hängt fast alles von der Haltung der Lehrerinnen und Lehrer ab. Man kann eine Struktur ändern, man kann ein Masterstudium einrichten, aber Haltungen lassen sich nur schwer ändern.
Können Sie ein Beispiel geben?
Reicht ein Primarlehrer seine Klasse weiter, dann gibt er in der Regel auch seine Beurteilung der Kinder an die übernehmende Klassenlehrerin weiter. Dann heisst es beispielsweise: «Dieses Kind ist schwierig, du weisst schon, aus dieser Familie.» Das Bild, das sich der Lehrer von einem Kind gemacht hat, wird so zementiert. Es folgt dem Muster der selbsterfüllenden Prophezeiung. Die Durchlässigkeit an Informationen, die heute in den Schulen üblich ist, erweist sich hier als problematisch. Sogenannt schwierige Kinder werden etikettiert und haben eine Zwei auf dem Rücken. Selbst wenn ein solches Kind den Knopf aufmachen und Gas geben sollte – aber seine Eltern können ihm nicht helfen –, heisst es in der Schule schnell einmal: «Schau, das ist doch etwas zu schwierig für dich.»
Von solch zementierten Haltungen von Lehrpersonen erzählt fast jedes Arbeiterkind, das es später doch geschafft und seine Träume verwirklicht hat. Sie sagen dann: «Niemand hat an mich geglaubt.» Hier müsste die Schule ansetzen.
Was wäre denn ein erfolgversprechender Ansatz?
Der Verein Arbeiterkind.de in Deutschland stellt Kindern aus einfachen Verhältnissen Mentorinnen oder Mentoren zur Seite. Sie begleiten die Kinder ehrenamtlich bei ihrer Schulkarriere und fördern sie. So können Kinder, die sonst auf der Strecke blieben, ihr Potenzial wirklich nutzen und entfalten. Das funktioniert und ist kostengünstig.
Es gibt aber Arbeiterkinder, die es trotz aller Widrigkeiten zu höherer Bildung bringen und die sozialen Hürden überwanden.
Bildungserfolge, die allein aus dem Subjekt kommen, sind selten. Das zeigen viele Studien. Untersucht man aber die Abweichungen, dann sieht man, dass solche individuellen Wege sehr wohl möglich sind. Es sind Lebenswege, die man immer wieder findet. Es sind fast immer Menschen, die über ganz besondere persönliche Merkmale verfügen.
Was sind das für Merkmale?
Es sind eine hohe Frustrationstoleranz, eine enorme Selbstmotivation, eine auffällige Neugier, Wissensdurst und das Selbstvertrauen: «Ich schaffe das!» Und in fast allen Fällen hatten diese Kinder einen Mentor oder eine Mentorin.
Das müssen nicht unbedingt die Eltern sein.
Nein. Das kann ein Imam, ein Pfarrer, eine Trainerin, eine Tante oder ein Onkel sein – in Kombination mit den erwähnten Merkmalen.
Mir hat einer, der einen solchen Weg erfolgreich gegangen ist, gesagt, dass er sich trotz abgeschlossenem Studium in solchen Kreisen immer leicht unwohl fühle. Diese Leute empfänden ihn offenbar als aggressiv, dabei sei er bloss direkt.
Ach, in den heiligen Hallen der Universität bleiben diese Kreise halt mehr oder weniger unter sich. Die feinen Unterschiede spielen eine entscheidende Rolle, wie schon der französische Soziologe Pierre Bourdieu festgestellt hat.
Sehr viele erfolgreiche Bildungsaufsteiger erzählen diese Geschichte: «Ich habe lernen müssen, in zwei Welten zu leben – in der meiner Eltern, die mich nicht mehr versteht, und in jener der Gebildeten, der ich doch nicht wirklich zugehöre.» Es gibt eben Dinge, an die man bei diesem Thema nicht denkt. Solche Arbeiterkinder stellen fest, dass man in diesem Milieu anders spricht, anders isst und trinkt, dass man beim Mittagessen eben nicht nur gemeinsam speist, sondern auch Konversation betreibt.
Manche schaffen es, diese zwei Welten zu versöhnen, andere brechen mit ihrer Herkunft. Der französische Autor Didier Eribon hat das sehr radikal vollzogen, wie wir es aus seinem eindrücklichen Buch «Heimkehr nach Reims» erfahren. Diese unsichtbare Hürde ist nicht zu unterschätzen: Eine Bildungsaufsteigerin, ein Bildungsaufsteiger muss die Welt der Eltern hinter sich lassen, er oder sie braucht das Glück, einem Mentor zu begegnen – und dann spielt hier und da Geldmangel eine hinderliche Rolle.
Wie wichtig sind Abweichler für eine Gesellschaft?
Zunächst: Die Schule verlangt Anpassung. Wir wissen, dass angepasste Schülerinnen und Schüler aus besseren Milieus besser benotet werden. Sie stören nicht. Wissensdurstige Kinder, die im schlimmsten Fall auch noch zeigen, dass sie tatsächlich viel wissen, und Fragen stellen, nimmt man in der Schule oft als Störenfriede wahr. Die Schule sollte solche Kinder ermuntern und darin bestärken, dass sie ihren Weg gehen und ihre Träume verwirklichen. Sie sollten eben nicht über sich denken, dass sie Abweichler, also quasi nicht normal sind.
Und dann müsste man das Scheitern auf der Suche nach einem Berufsweg positiver bewerten. Im Scheitern können Kinder und Jugendliche wichtige Fähigkeiten entdecken und entwickeln, zum Beispiel Frustrationstoleranz, also Durchhaltevermögen, die Fähigkeit, ein Ziel über lange Zeit im Auge zu behalten. Ein behütetes Kind lernt das nicht.
Studien zu Bildungswegen
- Durchlässigkeit vor allem nach unten, Arbeiterkinder studieren deutlich seltener: Jakob Kost, «Erreichte und verpasste Anschlüsse. Durchlässigkeit in der Sekundarstufe II», Universität Freiburg, 2016, unveröffentlichte Doktorarbeit.
- Arbeitereltern wehren sich nicht gegen ungerechte Benotung: Kai Maaz, Ulrich Trautwein, Franz Baeriswyl, «Herkunft zensiert? Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheit in der Schule», Vodafone Stiftung Deutschland, 2011.
- Wie viel Familien in ihre Kinder investieren: Margrit Stamm und andere, «Früher an die Bildung – erfolgreicher in die Zukunft? Familiäre Aufwachsbedingungen, familienergänzende Betreuung und kindliche Entwicklung», Universität Freiburg, 2012.
- Katja Urbatsch, «Ausgebremst. Warum das Recht auf Bildung nicht für alle gilt», Heyne Verlag, München 2011.
- Weshalb Arbeiterkinder immer noch zu selten studieren: Margrit Stamm, «Arbeiterkinder an die Hochschulen», 2015, www.tinyurl.com/stamm-arbeit.
- Zwei Drittel der Drop-outs schaffen den Wiedereinstieg, ein Drittel sogar sehr erfolgreich: Margrit Stamm, «Schulabbrecher in unserem Bildungssystem», VS Fachverlag, Wiesbaden 2012.
Margrit Stamm
Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm (67) kommt aus einer Arbeiterfamilie im Kanton Aargau. Sie wurde Primarlehrerin und studierte nach einer mehrjährigen Familienpause Erziehungswissenschaften, Pädagogische Psychologie und Soziologie an der Universität Zürich.
Stamm dissertierte zum Thema Hochbegabung und habilitierte später zum Thema «Evaluation und ihre Folgen für die Bildung» (Wissensverwendungsforschung). Anschliessend avancierte sie zur ordentlichen Professorin an der Universität Freiburg.
Von 2013 an baute Stamm das Forschungsinstitut Swiss Education in Bern auf. Sie war Gastprofessorin an diversen Universitäten im In- und Ausland sowie in verschiedenen wissenschaftlichen Beiräten von nationalen und internationalen Organisationen.
Margrit Stamms aktuelle Forschungsschwerpunkte: frühkindliche Bildungs- und Familienforschung, Talententwicklung und Bildungslaufbahnen vom Vorschulalter bis zum späten Erwachsenenalter, Begabungsforschung, abweichendes Verhalten im Jugendalter (Schulabsentismus und Schulabbruch), Berufsbildungsforschung und Migration.