Ein Traum der Welt: Neue Routen

Nr. 26 –

Annette Hug liest alte Zeichen

Die Nachrichten werden düsterer, Grundfesten wanken. Aber zwei kleine chinesische Zeichen verschaffen mir einen kurzen Begeisterungsboost: 麻逸 wird «ma-yi» ausgesprochen und bezeichnet in chinesischen Annalen das Gebiet um die Bucht von Manila, vielleicht auch mehrere Orte auf Luzon und auf der Insel Mindoro. 麻 ist heute vor allem als Wort für eine spezielle Art von Schärfe bekannt, für das Krausen auf der Zunge, wenn ein Gericht viel Szechuanpfeffer enthält. Es dient aber auch als Sammelbegriff für Hanf, Flachs, Jute, Sisal. (大麻, «grosser Hanf», wäre Marihuana.) Die zweite Silbe – 逸 – kann Entspannung, Wohlleben oder Flucht bedeuten. Wobei die Bedeutung dieser Zeichen nicht überbewertet werden darf, vielleicht sind sie nur die lautliche Nachbildung eines Tagalog-Worts, das man schön, aber wahrscheinlich inkorrekt, auf «may nilad» zurückgeführt hat: da, wo die weissen Blüten des Nilad blühen.

Der Name Ma-yi, der lange vor der Ankunft der Spanier in Manila im Jahr 1570 in Dokumenten überliefert ist, öffnet einen Raum, fast schon ein Paralleluniversum. Er macht deutlich, wie eng der europäische Blick auf Südostasien lange war. Zu Beginn ihrer Studie über die Geschichte der Sultanate im Süden der Philippinen resümiert Elsa Clavé, wie viel in der Forschung der vergangenen dreissig Jahre passiert ist. Als ich 1992 bis 1994 in Manila studierte, beruhte die Geschichtsschreibung der Philippinen fast ausschliesslich auf spanischen Quellen, also auf Beobachtungen der Konquistadoren. Dass es auch chinesische Quellen geben könnte, war bekannt, aber jene Texte waren nicht viel mehr als Phantome. Das hat sich komplett verändert. Heute sind sie im Original online zugänglich.

Die chinesischen Reiseberichte über die «barbarischen Inseln» und das «Ausfahren bei gutem Wind» beginnen in der Song-Dynastie (11. Jahrhundert) und machen deutlich, dass der Archipel gar nicht immer am Rand lag. Er war viel enger mit anderen asiatischen Regionen verbunden, als in den neunziger Jahren vermittelt wurde. Zur Zeit der Mongolenstürme – zum Beispiel, als Kublai Khan bis ins heutige Vietnam vordrang – verlegten Händler aus den südchinesischen Städten ihre Hauptrouten: Sie fuhren quer durch die philippinischen Inseln, luden auf Sulu, einem Sultanat, Waren um, segelten nach Java weiter und von dort durch die Strasse von Malakka nach Indien. Das müsste ich jetzt zeichnen können oder einen Globus drehen, neue Linien ziehen und damit vor allem eines aufzeigen: Diese Region war immer viel komplizierter, als sich die spanischen Kolonialherren das vorstellten. Sie verstanden nicht, wie sehr sie selber beobachtet und auch manipuliert wurden. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man Quellen in arabischer und türkischer Sprache beizieht.

Das Gefühl, bisher einen viel zu engen Horizont gehabt zu haben, ist ein Lichtblick. Wenn jetzt nämlich alles, was wir wissen, darauf hindeutet, dass sich die politischen Machtträger:innen vor lauter Kriegen nicht zusammenraufen können, um die richtigen Weichen gegen die Klimaerhitzung zu stellen, dann ist es gut zu wissen, dass ich wahrscheinlich zu wenig weiss. Vielleicht eröffnen sich mit Geschichten und Komplikationen, die bisher nicht in den Blick kamen, auch Möglichkeiten, dass es doch noch anders kommen könnte.

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich.