Ein Traum der Welt: Lingua franca
Annette Hug zwischen Inseln und Tönen
Eskayan heisst eine Sprache auf der philippinischen Insel Bohol, die man als Geheimsprache bezeichnen könnte. Sie war Teil des lokalen Widerstands gegen die amerikanische Kolonisierung zwischen 1902 und 1946. Ein charismatischer Anführer berief sich auf Schrifttafeln, die er angeblich in einer Höhle gefunden hatte. Heute sprechen rund 550 Menschen diese Sprache und benutzen deren Schrift für rituelle Zwecke. Sie ist einmalig unsystematisch. Einige Anleihen aus dem Spanischen sind gezielt verwirrend: «Tri» heisst nicht etwa drei, sondern zwei.
Seit den siebziger Jahren gibt diese Sprache auf den Philippinen zu Spekulationen Anlass. Für mich ist sie zum Paradebeispiel einer Form von Widerstand gegen Fremdherrschaft geworden: Nicht übersetzt werden kann ein Schutz sein. Frei nach dem Jazzpianisten Thelonius Monk: «Wir werden etwas schaffen, das sie nicht stehlen können, weil sie es nicht verstehen.»
Zur gleichen Zeit, als der lokale Anführer Mariano Datahan auf Bohol eine Kunstsprache zum Kern einer unabhängigen Gemeinschaft machte, entschieden sich Intellektuelle auf den Inseln Java und Sumatra für einen anderen Weg des Widerstands: Im Kampf für die Unabhängigkeit des künftigen Indonesien von den Niederlanden wählten sie eine möglichst einfache, verbindende Sprache. Keine der rund 700 Regionalsprachen sollte sich über die anderen legen. Das Indonesische wurde erfolgreich auf der Basis einer Hafensprache entwickelt. Ein einfaches Malaiisch hatte sich durch Händler:innen während Jahrhunderten auf den Archipelen Südostasiens verbreitet. Man lernte es schnell und kam weit damit.
Das halten sich philippinische Verfechter:innen der Nationalsprache Filipino wehmütig vor Augen. Ihr «Philippinisch» beruht auf der Sprache der Hauptstadt Manila, Tagalog, und wird in vielen Provinzen abgelehnt.
Wie die malaiische Hafensprache war das Baustellenitalienisch eine verbindende Sprache von unten. Niemand hatte sie verordnet. Jahrelang war es in Zürich praktischer, zuerst ein bisschen Italienisch zu lernen, als einen teuren Deutschkurs zu belegen.
Auf der Demenzabteilung, wo ich jetzt wieder zu Besuch bin, sind mehrere Frauen italienischer Muttersprache eingezogen, und auch beim Personal hat Italienisch gegenüber osteuropäischen Sprachen zugelegt. Damit kriegen die CDs mit deutschen Schlagern Konkurrenz. In einem ruhigen Moment nach dem Mittagessen sind Al Bano & Romina Power zu hören, Toto Cutugno und so weiter. Dann steigt auch in Deutschschweizer Hirnen unverhofft eine Vokabel auf: «Volare!» Anders als bei Schweizer Volksliedern singen dann auch Frauen aus dem Hausdienst mit. Eine Pflegerin erzählt: Als sie vor Jahren aus Portugal in die Schweiz gekommen sei, hätten ihr diese Lieder geholfen, etwas Italienisch zu lernen.
Dann gibt es auch eine Sprache, die ohne Worte auskommt. Sie besteht aus Knack- und Schnalzlauten, wird von intensiven Blicken begleitet und füllt die Lücke, wenn alle Worte irgendwo zwischen Hirn und Mund zerbrechen. Wenn sich Laute zu einem rhythmischen Dialog fügen, lacht meine Verwandte, oder sie kichert verschwörerisch. «Sprecht ihr wieder eure Geheimsprache», kommentiert ein Pfleger. Wir lächeln, und manchmal ist mir zum Heulen.
Annette Hug ist zurück auf der Demenzabteilung, gedanklich weiterhin in Übersetzungsprojekten aus dem Philippinischen.