Eskalation im Nahen Osten: Unerträgliche Ungewissheit

Nr. 26 –

Die israelische Armee hat offenbar Pläne für eine Offensive im Libanon gefasst. In Beirut geht der Alltag weiter. Doch wie lange noch?

Nach den schlechten Nachrichten der vergangenen Woche war Ayman Nahle überzeugt, dass der grosse Krieg kurz bevorstehe. Am Wochenende blieb er zu Hause. Drehte die Musik auf und betrank sich mit Arak, dem traditionellen libanesischen Schnaps. «Und dann passierte nichts», sagt er.

Jetzt ist Dienstag. Nahle sitzt in einem der roten Kinositze des Dokumentationszentrums Umam. Vor ihm flimmern stumm Schwarzweissbilder über zwei Leinwände. Links Aufnahmen aus der Luft, Felder, eine Küste, die winzigen Häuser von Beirut, dann wieder Felder. Rechts der Alltag am Boden: Fussgänger:innen drängen sich an der Strandpromenade, Autos stauen sich. Es sind Szenen aus dem Libanon von Anfang der siebziger Jahre, jener Zeit, die gerne als «golden» bezeichnet wird. Bevor 1975 der Bürgerkrieg ausbrach.

«Im Grunde ist es wie heute», sagt Nahle, der die Ausstellung mit Film- und Tonaufnahmen, Plakaten und Dokumenten aus dem Archiv konzipiert hat. Der Alltag in Beirut geht scheinbar unbehelligt weiter, tagsüber stauen sich die Autos auf den Strassen, nachts drängen die Menschen in die Bars. An die Unsicherheit, ob der Krieg auch Beirut erreichen könnte, haben sie sich hier längst gewöhnt.

Verheerendes Szenario

Einen Tag nach dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober begann die schiitische Hisbollah-Miliz, Raketen in Richtung Süden abzufeuern. Damals war die Unsicherheit gross, die Angst, auch die Hisbollah könnte einen grösseren Angriff auf Israel starten. Der 7. Oktober fegte die alten Spielregeln zwischen den Gegnern in der Region hinweg, die neuen waren allerdings noch nicht klar.

Statt eines Grossangriffs blieb es bei täglich nach Nordisrael geschossenen Raketen, während die israelische Armee den Südlibanon bombardierte. Die Folgen sind dennoch einschneidend: 1700 Häuser wurden im Libanon durch Luftangriffe zerstört, insgesamt 150 000 Menschen auf beiden Seiten der Grenze sind vor den Angriffen geflohen. «Es ist ein Krieg, der langsam alles auffrisst», sagt Nahle. Doch obwohl die Intensität der Angriffe über die Monate zugenommen hat, folgen sie noch immer der kontrollierten Logik von Schlägen und Gegenschlägen – ohne dass eine der beiden Parteien bisher eine grössere Eskalation riskiert hätte.

Obwohl der Alltag weitergeht, ist die Nervosität in diesen Tagen in Beirut so gross wie seit langem nicht mehr. Vergangene Woche verkündete die israelische Armee, sie habe Pläne für eine Militäroperation im Libanon genehmigt. Kurz zuvor war der US-amerikanische Unterhändler Amos Hochstein nach Beirut gereist, um die Hisbollah über ihre lokalen Verbündeten zu Verhandlungen über die Situation an der libanesisch-israelischen Grenze zu bewegen. Ohne Erfolg. Bei den Luftbildern auf der linken Leinwand im Umam denkt man in diesem Moment auch unweigerlich an die israelischen Militärflugzeuge, die seit Monaten immer wieder über Beirut dröhnen.

Die Frage, ob sich dieser Konflikt zu einem vollumfänglichen Krieg ausweiten könnte, diskutieren Expert:innen seit Monaten. Vieles spricht dagegen: Zum einen wäre ein solches Szenario verheerend – vor allem für den Libanon, aber auch für Israel, das sich mit der Hisbollah heute einer Gegnerin gegenübersieht, die sehr viel stärker ist als noch beim letzten Krieg vor zwanzig Jahren. Zum andern würde eine regionale Eskalation bei einem umfassenden Krieg zwischen den beiden Parteien nochmals wahrscheinlicher – die Hisbollah wie auch Israel haben mit dem Iran und den USA jeweils Unterstützer im Rücken, die nicht zulassen würden, dass ihre Verbündeten existenziell bedroht werden.

Doch so paradox es angesichts dieser Ausgangslage scheint, halten viele Expert:innen einen grösseren Krieg inzwischen für fast unausweichlich. «Es sieht so aus, als ob die Zeit der Politik für Israel und den Libanon endet und die Zeit für den Krieg bald kommt», schreibt der Analyst Firas Maksad im «Time Magazine». In Israel wurden seit vergangenem Oktober 60 000 Menschen aus dem Norden evakuiert und in anderen Landesteilen untergebracht. Die Regierung fordert, dass sich die schiitische Miliz mehrere Kilometer hinter die Grenze zurückzieht. Für die Bewohner:innen im Norden Israels ist nach dem 7. Oktober die Vorstellung, in Reichweite einer feindlichen Miliz zu leben, inakzeptabel.

Im Machtzentrum der Hisbollah

Die Hisbollah wiederum zeigt sich zwar für Verhandlungen offen, beharrt jedoch darauf, diese erst führen zu wollen, wenn der Krieg in Gaza mit einem dauerhaften Waffenstillstand ende. Eine Sackgasse, denn auch die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas stecken fest. Dem Drängen von US-Unterhändler Hochstein auf eine Lösung erteilte die Miliz eine Abfuhr. Stattdessen veröffentlichte sie eine Drohnenaufnahme, auf der unter anderem der Hafen von Haifa zu sehen ist. Abschreckung – um zu zeigen, dass die Hisbollah im Falle eines israelischen Angriffs zurückschlagen würde.

Wie nervös die Stimmung in Beirut seither ist, wurde am Montag bei einer eilig einberufenen Pressetour am Flughafen klar. Umringt von Dutzenden Kameraleuten und Journalist:innen, schritt der Transportminister durch den Cargobereich und beantwortete wieder und wieder die Frage, ob im Flughafen Waffen der Hisbollah lagern würden: «Auf gar keinen Fall.» Am Tag zuvor hatte ein Artikel in der britischen Zeitung «The Telegraph», ohne Autor:innenzeile und unter Berufung auf eine anonyme Quelle, genau dies behauptet. Bei den libanesischen Amtsträger:innen löste der Text offensichtlich Panik aus.

Die Nervosität zeigt sich auch an Details im Alltag. Etwa im Halabi Bookshop, wo Buchändler Karim Halabi erzählt, wie die Zahl der Kund:innen parallel zu den Nachrichten fluktuiere. Oder wenn Ahmad Chhouri, der an einer Sprachschule arbeitet, die Reparatur seines Autos nach einem kleineren Unfall erst mal auf die lange Bank schiebt – denn vielleicht braucht er das Geld dringender für anderes, sollte der Krieg tatsächlich Beirut erreichen. Dennoch beruhigt Chhouri seine Mitbewohnerin, die inzwischen vor diesem Szenario Angst hat, und sagt, es werde schon kein Krieg ausbrechen.

«Das Einzige, worüber die Leute Gewissheit haben, ist die Unsicherheit», sagt der Autor Sami Hermez, der vor ein paar Jahren ein Buch über den Umgang der Libanes:innen mit der ständigen Möglichkeit eines Krieges geschrieben hat. Das Paradoxe sei, sagt Hermez, dass viele sagen würden, sie rechneten nicht mit einer Eskalation. Buchhändler Halabi etwa analysiert im Gespräch erst lange, warum eine Eskalation unwahrscheinlich sei. Am Schluss sagt er aber noch: «Wenn ich permanent Angst vor dem Krieg hätte, könnte ich mit meinem Leben nicht weitermachen.»

Die Ausstellung im Umam-Zentrum war eigentlich viel grösser geplant gewesen. Zwei Jahre hatte Ayman Nahle auf die Eröffnung letzten November hingearbeitet. «Es war alles aufgestellt, wir mussten nur noch das Licht installieren.» Doch dann kam der 7. Oktober, die Eröffnung fand nicht statt. «Angesichts all der Massaker war es einfach nicht die Zeit, um zu feiern.»

Der Hangar des Dokumentationszentrums liegt in einer engen Seitenstrasse im Haret-Hreik-Quartier im Süden Beiruts. Haret Hreik ist das Machtzentrum der Hisbollah, in den Strassen hängen die gelben Flaggen der Miliz und Plakate von Märtyrern. 2006, während des letzten grossen Krieges zwischen Israel und der Hisbollah, als die israelische Luftwaffe nach der Entführung zweier Soldaten durch die Hisbollah heftige Luftangriffe im Libanon flog, wurde in Beirut kein Viertel so oft bombardiert wie dieses. 20 000 Menschen verloren damals ihre Häuser.

Umam, das 2005 von Lokman Slim und seiner Frau Monika Borgmann gegründet wurde, ist das wahrscheinlich grösste öffentlich zugängliche Archiv im Libanon – und das einzige unabhängige Kulturzentrum in Haret Hreik. Slim, der bekannteste Kritiker der Hisbollah, der über Jahre hinweg Morddrohungen erhalten hatte, wurde am 3. Februar 2021 getötet. Seither kämpfen Borgmann und Slims Familie um die Aufklärung des Mordes. Bisher liefen die Ermittlungen allerdings ins Leere. «Ich will ein Verfahren. Ich will Gerechtigkeit», sagte seine Witwe 2023 gegenüber dem ­«Spiegel».

«Wir sind Gefangene von allen»

Zwei Tage nach dem 7. Oktober begann das Umam-Team damit, Dokumente, Bücher, alte Zeitschriften und Filme aus dem Haus in Sicherheit zu bringen und anderswo in Beirut zu lagern. «Das Dach des Hangars ist aus Metall, nicht aus Beton», sagt Kurator Nahle, «Selbst wenn Gebäude in der Nähe bombardiert werden, würde er sofort zerstört.» Seither arbeitet Umam an der Digitalisierung des umfassenden Umam-Archivs. Die aktuelle Ausstellung zeigt neben Film- und Tonaufnahmen auch eine Auswahl von Plakaten und Dokumenten der Sammlung.

Dass Umam auch von den Folgen eines israelischen Bombardements betroffen sein könnte, zeigt die Machtlosigkeit der Menschen im Libanon angesichts der drohenden Eskalation. «Wir sind Geiseln von allen: der Hisbollah, des Iran, von Israel und den USA», sagt Nahle.

In den letzten Monaten hat Nahle ununterbrochen die Nachrichten verfolgt. Er selbst ist in Dahieh, einem Vorort von Beirut, aufgewachsen; seine Familie stammt aus dem Süden des Landes. Das Haus seiner Familie, in einem Dorf ganz in der Nähe der Grenze, wurde vor anderthalb Monaten bei einem israelischen Luftangriff zerstört. «Wirklich traurig bin ich nicht um das Haus, sondern um unsere Olivenbäume», sagt Nahle. Diese seien bei dem Angriff verbrannt. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir diese Saison zum ersten Mal überhaupt Oliven im Laden kaufen müssen.»

In Beirut war es lange einfach zu verdrängen, dass der Krieg im Süden des Landes längst stattfindet. Doch die Ungewissheit, das Gefühl, ausgeliefert zu sein, werde immer unerträglicher, sagt Nahle. «Mittlerweile bin ich an einem Punkt, wo ich ihnen sagen will: ‹Wenn ihr Krieg führen wollt, dann macht das endlich – oder lasst es. Erlöst uns endlich von diesem Dauerstress›».