Sachbuch: Mythos Boheme

Nr. 28 –

Buchcover von «Freiheit, Rausch und schwarze Katzen. Eine Geschichte der Boheme»
Andreas Schwab: «Freiheit, Rausch und schwarze Katzen. Eine Geschichte der Boheme». Sachbuch. Verlag C. H. Beck. München 2024. 298 Seiten. 42 Franken.

Lebensweltlich standen dem Bürgertum im 19. Jahrhundert zwei soziale Gruppen konträr gegenüber: das Proletariat und die Boheme. Ersteres wollte kämpferisch und im Kollektiv die bürgerliche Ordnung vom Kopf auf die Füsse stellen, Zweitere lehnte hedonistisch und radikalindividualistisch jeden Ordnungsgedanken ab.

Dem lebensweltlichen «Anarchismus» der Boheme um die Jahrhundertwende hat der Historiker Andreas Schwab ein Buch gewidmet. Er behandelt damit einen historischen Gegenstand, der künstlerisch schon hundertfach verarbeitet wurde, von Klischees überfrachtet ist und zum Mythos gemacht wurde. In gewisser Weise redet Schwab diesem Mythos in seinem Buch das Wort. Zugleich aber macht er ihn am historischen Material konkret, etwa wenn er künstlerische Eskapaden im Berliner Lokal «Das schwarze Ferkel» oder die Cabaretwelten im Pariser Quartier Montmartre ausleuchtet.

Solche Passagen unterbricht der Historiker immer wieder mit nüchternen und kritischen Hinweisen: Die die Boheme auszeichnende Prekarität ihrer Lebensumstände sei, so Schwab, dem Umstand geschuldet gewesen, dass der Adel als Mäzen ausgedient gehabt habe und sich Kulturschaffende auf einem umkämpften Markt zur Erwerbsarbeit hätten verpflichten müssen. Und auch wenn sich die Bohemiens barsch gegen die bürgerlichen Werte stellten, reproduzierten sie tradierte Geschlechterverhältnisse: Frauen wurden als Musen anerkannt; sobald sie aber eigene künstlerische Ambitionen entwickelten, stiessen sie oft auf Gleichgültigkeit oder Widerstand.

Am überzeugendsten ist Schwabs Buch dort, wo es an längst vergessene Werke erinnert: Wer schon kennt noch die eigensinnigen Kinderbücher Paula Dehmels oder die luziden Gemälde zur Industrialisierung von François Bonhommé? Mit dieser Personen- und Werkfixierung geht aber auch etwas Oberflächlichkeit einher, und die angedachte thematische Systematisierung wird oft von Anekdotischem unterlaufen. Vielleicht aber ist es gerade das, was den Bohememythos in Schwabs Buch so plastisch werden lässt.