Literatur: Sündenböcke ihrer Lust

Nr. 39 –

In ihrem Buch «Vor aller Augen» erweckt Martina Clavadetscher Frauen zum Leben, die in der Kunstgeschichte auf Leinwand gebannt wurden. Sie dampft Genies ein und bringt Abgründe zum Vorschein.

Gemälde von Édouard Manet: Victorine Meurent
«Olympia»: Victorine Meurent (gemalt von Édouard Manet) ist eine der neunzehn Frauen, denen Martina Clavadetscher eine Stimme gibt. © Musée d’Orsay, Paris

Dieser Blick sei die Spitze der Anzüglichkeit. Wie der einer Prostituierten. Eine Venus zwar, aber eine, der man abends auf den Trottoirs in Montmartre begegne. Die nackte Haut sei zu blass geraten, sagten die einen, ein anderer fand die Fleischtöne zu schmutzig. Und auf Baudelaire wirkte die Frau auf dem Bild schlicht wollüstig wie eine Katze. Damals, als der kleine, stämmige Herr mit dem Bart sie auf der Strasse ansprach und sie malen wollte wie die «Venus von Urbino» seines grossen Vorbilds Tizian, fand Victorine Meurent das noch eine gute Idee. Aber jetzt, da das Gemälde im Salon de Paris von 1865 an der Wand hing, verloren die Männer komplett die Fassung. Und als Meurent deren Avancen zurückweist, wird sie mit Beleidigungen eingedeckt.

Martina Clavadetscher hat die Geschichte von Meurent in ihrem neuen Buch, «Vor aller Augen», aufgeschrieben. In neunzehn Kurzgeschichten, von denen einige ineinandergreifen, lässt die Autorin auf der Basis historischer Fakten Frauen in der Ich-Form erzählen, die auf Porträts aus dem Kanon der Kunstgeschichte von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert zu sehen sind. Victorine Meurent stand nicht nur Modell, sie war selbst Künstlerin und genoss in Paris während ihres Lebens zeitweise grosse Beachtung. Doch fast alle ihre Werke gelten als verschollen, über ihre Biografie ist wenig bekannt – während der bärtige Herr, der sie damals als «Olympia» auf der Leinwand inszenierte, heute als einer der wichtigsten Maler des 19. Jahrhunderts gilt: Édouard Manet.

Zerrissene Wesen

Fast alle Gemälde, die im Buch vorkommen, wurden von Männern gemalt. Die riesige Bedeutung, die diesen im Verlauf der Kunstgeschichte zugeschrieben wurde, spielt in den meisten Erzählungen der Frauen noch kaum eine Rolle. Clavadetschers Erzählerinnen haben Mitleid, wenn sie die Verlorenheit dieser Männer beobachten, geniessen deren Begehren, helfen ihnen, den Alltag zu meistern, fürchten sich vor deren psychischer Labilität und Gewalt, lassen sich fürs Modellstehen bezahlen, fühlen sich ausgenutzt und beraubt, manchmal aktiv verdrängt. So auch im Fall von Manet, der, als er bereits tödlich an Syphilis erkrankt war, Meurent in Kunstkreisen noch schlechtmachte, weil er auf ihren Erfolg eifersüchtig war.

Martina Clavadetscher
Martina Clavadetscher Foto: Ingo Höhn

Die Geschichte rund um «Olympia» ist als Dialog zwischen Meurent und Laure, einer Schwarzen Hausangestellten, erzählt, die auf dem Gemälde bekleidet und mit einem Blumenstrauss in der Hand hinter der nackten Liegenden steht. Die beiden Frauen plaudern über die banalen Umstände, die sie in Manets Atelier geführt haben, finden ein paar wohlwollende Worte für den Maler, machen sich aber auch über ihn lustig. Wie überhaupt über die Männer, die mit ihrem eigenen Begehren überfordert sind, wie Laure beobachtet: «Die Männer wollen sich doch aufregen. Das wollen sie immer, diese armen Kerle. Es sind zerrissene Wesen. Im ewigen Kampf gegen sich selbst. Suchen stets einen Sündenbock für ihre Lust.»

Die Männer, die die weiblichen Körper ihrem erotisierenden Blick aussetzen, ihre eigenen Begierden aber gleichzeitig verachten und im Namen der Moral zu unterdrücken versuchen, ziehen sich als zentrales Motiv durchs Buch. Davon erzählt exemplarisch die Geschichte von Gustave Courbets «L’Origine du monde» (1866); das Gemälde zeigt einen nackten weiblichen Unterleib, die Beine vor den Betrachter:innen gespreizt, der Kopf von einem Laken verdeckt. Der osmanische Diplomat Halil Şerif Pascha, der die Frauen nicht nur gern in seinem Bett hatte, sondern auch nackt an seinen Wänden, hatte das Bild in Auftrag gegeben. Es wurde sofort skandalisiert und durfte nicht öffentlich gezeigt werden; der Sammler enthüllte es jeweils feierlich als Höhepunkt von Gesellschaftsabenden bei sich zu Hause. Erst 1988 wurde es erstmals öffentlich ausgestellt.

Herrliche Demontagen

Doch die eigentliche Zumutung sieht Constance Quéniaux, deren Körper auf dem Gemälde zu sehen ist, in der banalen, aber gewichtigen Tatsache, die dessen Titel – «Der Ursprung der Welt» – benennt: «Wie lachhaft! Wenn man bedenkt, dass alle, die diesen Anblick verbieten wollen, einem solchen Schoss entsprungen sind.» Oft sind diese Werke dann doch zu vielschichtig, um einfach Ausdruck männlichen Begehrens zu sein. Umso anstössiger sind die Details, die sich diesem entziehen.

Viele von Clavadetschers Geschichten sind herrliche Demontagen des männlichen Künstlergenies. Tevahine, die auf Paul Gauguins «Vahine no te tiare (Frau mit Blume)» zu sehen ist, erzählt, wie der bleiche, kränkliche Europäer auf Tahiti herumirrt und mit seinem voyeuristischen Blick «jenes verlorene Reich» ausmachen will, das die Kolonialmacht verdrängte. Hendrickje Stoffels, die häufig Rembrandt Modell stand und diesen als geschickte Unternehmerin vor dem Ruin bewahrte, beschreibt den Maler als düsteren Taugenichts, der nichts konnte ausser «malen und saufen und vögeln». Viele der Texte sind von einem liebevollen bis süffisanten Humor belebt, in anderen klaffen dunkle Abgründe; etwa wenn Lina Fehrmann erzählt, wie sie als zehnjähriges Aktmodell einen Sommer mit Ernst Ludwig Kirchner und seiner Künstlergruppe verbrachte.

Nicht nur sind die Schicksale der Frauen ganz unterschiedlich, Clavadetscher gibt ihnen auch verschiedene Arten, zu sprechen und zu denken; oft reichen der Autorin wenige Seiten, um einen Charakter greifbar zu machen. Margherita Luti, die heimliche Geliebte von Raffael, erzählt selbstbewusst und hingebungsvoll, Valentine Godé-Darel voller Trauer, dass Ferdinand Hodler nicht einmal an ihrem Sterbebett etwas Nähe zulassen kann, und Walburga Neuzil, von Egon Schiele als «Auf dem Rücken liegende Frau» gemalt, spricht voller Verbitterung über den Ausbeuter, den sie eigentlich geliebt habe.

Oft bleibt nicht viel Raum für das Begehren der Frauen. Doch Clavadetscher erzählt auch davon, wie sich dieses Wege in die Welt zu bahnen sucht. Eindrücklich tut sie das in der Geschichte von Dagny Juel, deren literarische Texte heute wieder gelesen werden und die als Edvard Munchs «Madonna» in die Kunstgeschichte einging. Juel war fasziniert von den Schatten, die sie ständig umgaben, und war zu wild für die norwegische Provinz. Also ging sie zu Munch nach Berlin, wo sie sich in den «teuflischen Polen», den Schriftsteller Stanisław Przybyszewski, verliebte, mit dem sie in einen stimulierenden dunklen Sog aus Poesie, Alkohol und Sex eintauchte. Als sie dem Mann zur Bedrohung wird, er sie abzuschirmen und zu schlagen beginnt, erlischt auch ihr literarischer Furor. Juel notiert die Zeilen: «Mich fortzuzaubern zur Versammlung ewigen Vergessens, in festlichem Tanz um das alte Feuer.» Zum Schluss wird sie von einem Liebhaber erschossen.

Maschinenfantasien

Schon in «Die Erfindung des Ungehorsams», dem Roman, mit dem Clavadetscher letztes Jahr den Schweizer Buchpreis gewann, trat eine historische Frauenfigur mit quasi monströsem Begehren auf: Ada Lovelace. Die Mathematikerin lebte im 19. Jahrhundert und hat ein frühes Computerprogramm verfasst. Als ihre gebieterische Mutter befürchtet, das Mädchen könnte die körperliche Lust entdecken, versucht sie, diese mit noch mehr angeordneter Bildung in Schach zu halten. Worauf Ada ihr Begehren, das sie das «Ungeheuerliche» nennt, in der Mathematik entfesselt. Sie denkt die von Charles Babbage entwickelten Rechenmaschine weiter und steigert sich in Fantasien von Maschinen hinein, die sprechen und Musik komponieren – womit sie die göttliche Ordnung ritzt.

In «Vor aller Augen» nun legt Clavadetscher einige dieser Ungeheuerlichen frei, bevor sie in der Kunstgeschichte zum Bild erstarrten und ihre Jäger zu Helden wurden.

Buchcover von «Vor aller Augen»

Martina Clavadetscher: «Vor aller Augen». Unionsverlag. Zürich 2022. 240 Seiten. 34 Franken.