Irène Schweizer (1941–2024): Swingen, rocken, driven – und immer «Pussy Riot» bleiben
In Schaffhausen begann sie als Autodidaktin, später spielte Irène Schweizer in aller Welt. Die Jazzpianistin afrikanisierte ihr Instrument und wurde zur Jahrhundertmusikerin.
Als «kompromisslose Avantgardistin», als «wilde Frau» ist Irène Schweizer gerne gesehen worden – und einige der nun erschienenen Nachrufe, etwa in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», reduzieren das umfangreiche Werk der Pianistin auf die aktivistische, aber kurze Phase ihres Lebens. Dabei zeigt selbst ihre frühe Soloplatte aus der Freejazzphase der siebziger Jahre mit dem immer wieder zitierten Titel «Wilde Señoritas» ein immens breites Spektrum. Und je älter Irène Schweizer wurde, desto näher rückte ihr Spiel an die Jazztradition.
Irène Schweizer lässt sich nicht einordnen. Sie war, kurz gesagt, eine Jazzpianistin. Und weil – wie ihr Musikerkollege Alexander von Schlippenbach einst sagte – gilt: «All Jazz is free», eben auch eine Freejazzpianistin.
Bei diesem Nachruf geht es mir wie dem «Zeit»-Redaktor Ulrich Stock, als er einen Text zu ihrem 75. Geburtstag verfassen wollte: «Kann ich, der ich diese grandiose Pianistin über 35 Jahre hinweg zigmal im Konzert erlebt habe, überhaupt noch ein kleines Porträt über sie schreiben? Oder muss das jetzt die grösste Würdigung werden mit aller lähmenden Wucht?» Ulrich Stock, verzweifelt: «Irène, hilf!» Er fand damals Beistand – in der Musik von Irène Schweizer: «Irène hilft, indem sie einfach weiterspielt. Wie eh und je sitzt sie ernst, oft geradezu streng vor der Tastatur des Flügels, wenn sie ihre Miniaturen entwirft. Es sind Stücke von wenigen Minuten, die im Jazz wurzeln, viele Stile touchieren und in jeder Sekunde ihr Eigenes sind. Intuition, Zufall und Komplexität balanciert sie aus mit Rhythmus, Wärme und Witz.»
Das führt mitten in die Musik: Mitten in Irène Schweizers Brillanz und ihren künstlerischen Eigensinn. Es ist diese Musik, die überdauert. «Wie wunderbar ist die Musik, die sie uns geschenkt hat», schreibt eine Freundin Irène Schweizers, die Zürcher Malerin Rosina Kuhn, nachdem sie von ihrem Tod erfahren hat. Und der New Yorker Schlagzeuger Andrew Cyrille, eine der Legenden des amerikanischen Jazz, schreibt, dass er sich immer an die vielen Konzerte erinnern werde, die sie zusammen im Lauf der Jahre gemeinsam gespielt hätten. Während mehr als sechzig Jahren prägte Irène Schweizer die aufregenden Entwicklungen des Jazz – dieser grossen Musik der Moderne. Irène Schweizer aus Schaffhausen und Zürich ist die europäische Jahrhundert-Jazzmusikerin.
Zigaretten für «Fräulein Schweizer»
Ein langer Weg führte dahin, oft ein harter auf dem kargen Holzboden der Schweizer Kultur. In ihrer Jugend hört sie Swing. Im Restaurant Landhaus, das Irène Schweizers Eltern führen, beginnt das Mädchen, mit Musikern zu jammen. Sie lernt autodidaktisch. Mit vierzehn ist sie am Schlagzeug bei den Crazy Stokers, den «verrückten Einheizern». Mit den Modern Jazz Preachers erhält die junge Pianistin 1960 eine Einladung ans Amateur Jazz Festival Zürich: die Männer in Anzug und Krawatte, die Pianistin in Rock und Bluse. «Fräulein Schweizer» gewinnt den Spezialpreis als beste weibliche Teilnehmerin. Eine bekannte Anekdote: Der Preis war eine Schachtel Zigaretten, ein Päckchen Kaugummi und ein Herrenhemd. Das waren die frühen sechziger Jahre.
Die junge Frau geht als Au-pair nach London. Im Ronnie Scott’s Club entdeckt sie den internationalen Jazz. Was für eine Inspiration! Zurück in der Schweiz jobbt sie als Sekretärin. Im Zürcher Café Africana lernt sie die südafrikanischen Exilmusiker um Dudu Pukwana, Louis Moholo, Makaya Ntshoko, Johnny Dyani und Dollar Brand kennen, die einen Monk- und bluesgetränkten Township-Jazz spielen. Viele Jahre später schreibt Ulrich Stock: «Irène Schweizer hat das europäische Instrument afrikanisiert.»
Der Gang ins Freie erfolgt organisch; die Pianistin löst sich von rhythmischen und harmonischen Vorgaben. Im Pierre Favre Quartett spielt sie mit dem Londoner Saxofonisten Evan Parker einen europäischen Freejazz. Sie tritt mit dem deutschen Saxofonisten und Akkordeonisten Rüdiger Carl und dem südafrikanischen Schlagzeuger Louis Moholo auf. Nun ist sie häufiger in Berlin zu hören als in der Schweiz und gehört zum stilbildenden Kern der europäischen Freejazzavantgarde. Sie nimmt beim Berliner Kollektiv Free Music Production ihre ersten Soloplatten, «Wilde Señoritas» und «Hexensabbat», auf und lebt jetzt als Berufsmusikerin.
Direkte Intervention
Ein erneuter Sprung ins Freie: Irène Schweizer tritt in Frauenbands auf. Konzerte mit der Feminist Improvising Group mit den britischen Musikerinnen Lindsay Cooper, Sally Potter und Maggie Nicols provozieren die Jazzwelt. Das Trio Les Diaboliques mit Maggie Nicols und der französischen Bassistin Joëlle Léandre ist eine der ersten über Jahre auftretenden, frei improvisierenden Frauenbands der Welt. Sie verändern den Jazz sowohl musikalisch als auch mit ihrer Bühnenperformance: mit Action, Witz, direkter Intervention. Irène Schweizer bekennt sich als lesbisch und engagiert sich für Gleichberechtigung. Sie hat sich gefunden und ihren persönlichen Musikstil entwickelt.
Jetzt beginnt die grosse Erfolgsgeschichte: Konzerte in Chicago, New York, London, Berlin, Wien, Amsterdam. In der Schweiz spielt sie regelmässig am Jazzfestival Willisau, am Festival Schaffhausen und in der Roten Fabrik in Zürich. Auftritte im Duo mit den bedeutendsten Jazzschlagzeugern der Welt: Andrew Cyrille, Hamid Drake, Pierre Favre, Han Bennink, Günter Sommer, Joey Baron. Sie tourt mit jüngeren Musikerinnen und Musikern, mit der Saxofonistin Co Streiff, später mit Omri Ziegele und Jürg Wickihalder. Beim Label Intakt Records entstehen an die vierzig Einspielungen.
Als Solopianistin erobert Irène Schweizer mehrere Jahre nach den Konzerten in Berlin, Willisau, New York und Chicago auch die grossen Häuser der Schweiz. 2005 bringt sie ihre Kultur und ihre Leute mit ins Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL). Sechs Jahre später setzt sie in Zürich, ausgerechnet am Sechseläutenmontag, an dem in Zürich die Frauen ihren Männern zu Ross Blumen zuwerfen, in der ausverkauften Tonhalle mit einem Solokonzert ein Statement einer weltläufigen, emanzipierten Musik als Gegenposition zum traditionell verknorzten Zürich. Die CD des Livemitschnitts trägt den Titel «To Whom It May Concern – Piano Solo Tonhalle Zürich». Irène Schweizer ist auf dem Gipfel des Erfolgs.
Was prägte ihr Werk, was machte ihre Ausstrahlung aus? Ihr improvisatorisches Können im Spannungsfeld von Spontaneität und Formfindung. Ihr rhythmusorientiertes Spiel, das aus der grossen Tradition des afrikanisch-amerikanischen Jazz schöpfte. Ihre Geschmackssicherheit. Ihre Freiheit: So konnte sie auf der Bühne swingen, rocken, driven, zarte Balladen spielen und ins Mikrofon rufen: «I’m Pussy Riot!»
Ihre Musik spiegelt die Brüche all dieser Jahre. Sie gestaltete die ästhetischen Innovationen musikalisch auf ihre Weise und integrierte sie in ihren Lebensweg. Die gesellschaftlich brennenden Fragen des Geschlechts und der Hautfarbe verwandelte sie in Musik. In einem Film von Gitta Gsell, der Irène Schweizer porträtiert, bedankt sich der Schlagzeuger Louis Moholo, der sie nach der Flucht vor der Apartheid in Südafrika in Zürich kennenlernte und mit ihr regelmässig auftrat, in einer ergreifenden Szene während einer gemeinsamen Tournee in seinem Heimatland mit den Worten: «Es ist für mich eine Erfüllung, dass Irène hier in Südafrika mit mir spielt. Sie hat uns unterstützt im Kampf um die Befreiung von der Apartheid.» Er reicht ihr die Hand und sagt: «Thank you, Irène.»
Das Erbe des Schwarzen Jazz
Einige der grossen Konzerte und CD-Aufnahmen von Irène Schweizer zeugen von ihrer Nähe zu Jazzmusikern afrikanisch-amerikanischer Herkunft: Ihre CDs mit George Lewis, Andrew Cyrille, Fred Anderson, Oliver Lake, Reggie Workman, Hamid Drake und natürlich mit den Musical Monsters John Tchicai und Don Cherry schreiben Jazzgeschichte. Nur wenige europäische Musiker:innen bewegen sich musikalisch so tief im Erbe des Schwarzen Jazz wie sie. Der Musiker und Professor an der New Yorker Columbia University George Lewis sagte einmal, man könne Irène Schweizer als «Afro-diasporic musician» bezeichnen oder, mit Blick auf die europäische Kolonialgeschichte, als «a post-European».
Es ist die Musik grosser Musiker:innen – und Irène Schweizer gehört zu ihnen –, die uns Räume öffnet, Energie spendet, Mut macht und neue Fragen stellt. Gerade jüngere Jazzmusikerinnen wissen die Bedeutung der Pionierinnen zu würdigen, wie die Reaktionen auf ihren Tod zeigen. Die britisch-karibische Sängerin und Performerin Elaine Mitchener schreibt: «Irène hat einen Weg gebahnt und war eine vollendete und innovative Künstlerin und Aktivistin.» Auch die in New York lebende Saxofonistin Ingrid Laubrock würdigt Irène Schweizers Rolle für ihre Generation: «Was für eine tolle und inspirierende Musikerin, die vor allem Frauen viele Türen geöffnet hat.» Und die japanisch-deutsche Pianistin Aki Takase, wenige Jahre jünger als Irène Schweizer, gesteht: «Meine Lieblingspianistin, die ich bewundere und respektiere. Ich vermisse sie sehr.»
Dieser Text basiert auf der Rede Patrik Landolts anlässlich der Verleihung des Kulturpreises des Kantons Zürich an Irène Schweizer 2018. Landolt arbeitete 45 Jahre mit ihr zusammen – als Verleger bei Intakt Records, beim Taktlos- und beim «unerhört!»-Festival. Die Einspielungen, die Irène Schweizer bei Intakt Records aufgenommen hat, sind bis heute als CD oder Downloads erhältlich.
Am 4. November 2024 spielen Irène Schweizers Freund:innen Pierre Favre, Maggie Nicols, Rüdiger Carl, Günter Baby Sommer, Co Streiff, Sarah Chaksad, Sylvie Courvoisier, Katharina Weber, Omri Ziegele, Hamid Drake und La Lupa im Zürcher Volkshaus (ab 19 Uhr).
Erinnerung I : Die Unerschrockene
Zum ersten Mal hörte ich Irène Schweizer mit der Feminist Improvising Group in der Aula Rämibühl in Zürich. Für mich war dieser Abend einzigartig – weniger wegen der eigenwillig schrägen Musik, sondern wegen der Unerschrockenheit dieser fünf Musikerinnen: Neben Irène mit dabei waren Maggie Nicols, Lindsay Cooper, Sally Potter und Georgie Born. Sie improvisierten so unberechenbar wie offen mit den Elementen Musik, Theater, Tanz, Text und Performance. Ihre Weiblichkeit stellten sie mit Witz und Tempo dar – und mittendrin Irène am Piano, ruhig wie ein Fels in der Brandung. Sie bündelte und strukturierte, trieb Energie und Tempo auf die Spitze, liess sich aber mit ihrem ganz eigenen trockenen Humor auch auf all die Möglichkeiten ein, die sich aus dem Moment ergaben.
Irène lud mich wenig später ans Canaille-Festival 1986 ein, und von da an entwickelte sich eine vielfältige Zusammenarbeit. Sie führte mich in die europäische Szene der Freien Musik ein, prägte und förderte mich. Gleichzeitig teilten wir in Zürich lange einen Musikerinnenalltag, mit vielen Sessions und Proben. Irène war stets bereit, sich aufs Velo zu setzen und in der von ihr mit gegründeten Werkstatt für improvisierte Musik (WIM) Ideen auszuprobieren.
Irène war eine mutige Frau und eine wagemutige Musikerin. Eigensinnig, aber in einem kreativen Sinn, offen und neugierig sowie bereit, sich in den Dienst einer Idee zu stellen, sei es bei der Förderung der europäischen Musikerinnenszene oder der Gründung kultureller Infrastrukturen wie des Fabrikjazz, des Taktlos- und des «unerhört!»-Festivals oder des Labels Intakt Records.
In ihrer politischen Haltung war sie unbeirrbar, und sie nahm kein Blatt vor den Mund. Als Musikerin fand sie sich mühelos in den offenen Räumen der freien Improvisation zurecht, durchlässig und selbstsicher zugleich. Sie setzte Kontrapunkte, liess auch die melodischen, harmonischen und rhythmischen Ideen, die ihre eigene Entwicklung im Jazz spiegelten, einfliessen. Ihre Präsenz war unglaublich, ihr Spiel prägnant, mit glasklaren Akkorden, rhythmischer Präzision und enormer Dynamik.
Mit ihr zu spielen, war ein Geschenk. Ich fühlte mich stets getragen, die geteilte Energie beflügelte mich, uns, das Publikum. Für diese vielen zeitlosen Momente bleibe ich ihr immer dankbar.
Co Streiff, Saxofonistin
Erinnerung II : Die Mutmacherin
«Ha!», so klingt Irènes kurzes wie prägnantes Lachen, mit einem Ausrufezeichen, in meinen Ohren nach. Ihr Lachen, ihre Statements an den Intakt-Vorstandssitzungen (ihrer verlegerischen Heimat), an denen wir zusammen viele Jahre lang die Musiker:innen vertraten, waren geprägt von dieser akzentuierten Klarheit, die man auch in ihrer Musik so mitreissend erleben kann. (Eine der wahnwitzigsten Solostellen ihres grandiosen Spiels findet sich in «Section 1» von «Theoria» mit dem London Jazz Composers Orchestra: unbedingt nachhören! Was für ein Biss und Fluss!)
Für mich als Schlagzeuger ist natürlich auch ihre Serie mit den grössten Schlagzeugern der improvisierten Musik zu nennen: Pierre Favre, Han Bennink, Baby Sommer, Hamid Drake, Joey Baron, Andrew Cyrille und Louis Moholo – Top-Sparringpartner für die grosse «Schlagzeugerin» an den 88 Tasten, die Irène war. Einmal war es mir auch vergönnt, mit ihr im Duo zu spielen, unvergesslich dieser Abend im alten Jazzclub Moods: Mit dem Stück «Radio Rondo», das Barry Guy für sie komponiert hatte, waren wir beide Gast beim London Jazz Composers Orchestra.
Irène war in der Zürcher Szene sehr präsent; oft kam sie an Konzerte, auch von uns Jüngeren, die noch kaum jemand auf dem Radar hatte. Als ich etwa mit der Pianistin Sylvie Courvoisier im Duo in der WIM Zürich spielte, sassen da plötzlich Irène und Pierre Favre, unsere musikalischen Zieheltern, im Publikum. Was für eine mutmachende Geste!
Als unkorrumpierbare und solidarische Musikerin war sie eine Art «Mutter» für viele unserer Generation, hörte uns zu, spielte mit uns – und das ohne lehrmeisterliche Zeigefingerpädagogik. Vielmehr lebte sie die Improvisation mit akzentuierter Haltung, mutigem Spiel, langem Atem und wunderbarem Schwung (Swing!) einfach vor.
Wie sie sich als Musikerin mit eigener Stimme ein weltweites Publikum erspielte, war für uns ermutigend. Auf die eigene Stimme hören, anderen zuhören, mit Risiko spielen und auch mal laut lachen. Danke, Irène!
Lucas Niggli, Schlagzeuger
Erinnerung III : Der Zwilling
Die Geschichte, die ich mit Irène Schweizer teile, ist eine Geschichte wiederholter Begegnungen. Als ich in den Sechzigern Irène eines Abends in Zürich kennenlernte, war ich gerade der Verantwortliche des Drummer Service beim Beckenhersteller Paiste in Nottwil. Sie suchte einen Job, und ich fragte sie, ob sie nicht meine Sekretärin werden wolle. Sie akzeptierte, und so begannen wir zusammenzuarbeiten. Eines Tages, während der Mittagspause, spielten wir dann einfach in einer Bar zusammen. Grosse Überraschung! Wir spielten sofort wie Zwillinge. Wir sind auch beide am 2. Juni geboren, im Sternzeichen Zwilling. Über Jahre spielten wir dann als Duo überall, und ich würde sagen, dass wir eine eigene musikalische Sprache fanden. Wir haben sie nicht gesucht, aber gefunden.
Pierre Favre, Schlagzeuger