Theaterspektakel: Mit einem Quodlibet ziehen sie ins Duell

Nr. 35 –

Im Zürcher Sogar-Theater erzählen und singen zwei Frauen auf Arabisch, Ukrainisch und Deutsch von der Willkür des Schweizer Asylsystems. Ein Probenbesuch vor der Premiere von «Fünf Uhr morgens».

Yulianna Khomenko und Lubna Abou Kheir mit Regisseurin Ursina Greuel im Sogar-Theater
Yulianna Khomenko und Lubna Abou Kheir bei den Proben im Sogar-Theater. Hinten in der Mitte Regisseurin Ursina Greuel.

Langsam schreiten die beiden Frauen aufeinander zu, die eine singt auf Arabisch, die andere auf Ukrainisch. Sie schauen einander kampfbereit in die Augen, bis sie sich nah gegenüberstehen und schliesslich verstummen. «Lubna, deine Aggression ist gut», unterbricht Regisseurin Ursina Greuel, die auf der Tribüne im kleinen Sogar-Theater sitzt und den beiden Schauspielerinnen konzentriert zuschaut. «Yulianna, kannst du auch böse sein?» Yulianna Khomenko lacht kurz auf und nickt. «Die Aggression in dieser Szene muss grösser sein, schon am Anfang», erklärt Greuel.

Dann beginnen sie nochmals von vorne: Yulianna Khomenko setzt sich mit dem Rücken zu Lubna Abou Kheir an den kleinen Holztisch am rechten Bühnenrand, Abou Kheir bleibt am linken Bühnenrand stehen. «Heimat kann vieles sein», beginnt Khomenko ihren kurzen Monolog auf Deutsch, in den Abou Kheir leise arabisch singend einsetzt. Sie wird lauter, stört Khomenko, bis diese ukrainisch zu singen beginnt und dann aufsteht. Die beiden gehen aufeinander zu und duellieren sich, ein Quodlibet singend. Diesmal legt Khomenko mehr Aggression in ihren Auftritt, in Stimme, Körperhaltung und Blick – doch Greuel ist noch nicht zufrieden mit der Szene. Es folgt ein weiterer Durchgang.

Bürokratische Schikanen

Die drei Frauen proben gemeinsam «Fünf Uhr morgens», eine Koproduktion des Sogar-Theaters mit dem Zürcher Theaterspektakel (vgl. «Geld für Militär statt für Kultur» im Anschluss an diesen Text). Geschrieben hat es die Autorin und Schauspielerin Lubna Abou Kheir. Antrieb für ihr Schreiben war ein grosses Ungerechtigkeitsgefühl: Sie ist vor acht Jahren aus Syrien in die Schweiz geflüchtet. In Damaskus hatte sie dramatisches Schreiben am Higher Institute of Dramatic Arts studiert und als Sekretärin für die Uno-Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) gearbeitet. Hier in der Schweiz musste sie sich als Geflüchtete mit den bürokratischen Schikanen des Schweizer Asylsystems samt seinen vielen Statuskategorien herumschlagen: «Es gibt B, C, Ci, G, L, F – und N für Drittstaatenangehörige. Das bin ich. Syrien ist ein Drittstaat», heisst es im Stück, das eine Schnellbleiche über den Irrgarten der Willkür ist, durch den die betroffenen Menschen gehen müssen. Status B: «Sie haben das Recht auf Reisedokumente […]. Man muss arbeiten», Status F: «Sie dürfen nicht in Ihre Heimat reisen […]. Sie dürfen arbeiten», Status N: «Man muss warten und darf nicht arbeiten», Schutzstatus S: «Sie müssen keinen Asylantrag stellen. Sie dürfen arbeiten und reisen».

Selbst für Menschen, die aus dem gleichen Grund ihre Heimat verlassen, nämlich weil sie an Leib und Leben bedroht sind, gelten je nach Herkunft ganz unterschiedliche Bedingungen. Wie gravierend diese Unterschiede sind, wurde Abou Kheir schmerzhaft vor Augen geführt, als der Bundesrat im März 2022, kurz nach Russlands Angriff auf die Ukraine, den Schutzstatus S aktivierte, den bis heute ausschliesslich Geflüchtete aus der Ukraine erhalten.

Willkommen – aber nicht alle

«Als der Krieg gegen die Ukraine ausbrach, haben sich das politische Verhalten sowie die Diskussion in den Medien hier gegenüber Geflüchteten völlig verändert», sagt Abou Kheir in der Probenpause an der Bar des Sogar-Theaters. «Plötzlich hiess es überall, die ukrainischen Flüchtlinge kämen an erster Stelle.» Tatsächlich bekam man für eine Weile in der Schweiz eine Ahnung davon, wie gelebte Solidarität mit Geflüchteten aussehen könnte: Unzählige Privatpersonen boten freie Zimmer in ihren Wohnungen an, Kleider wurden gesammelt, Möbel verschenkt, gratis Kinderhütedienst- und Deutschkursangebote geschaffen – sogar die SVP fand es selbstverständlich, dass «die Schweiz schnell und unbürokratisch hilft». Das alles galt jedoch nur für Ukrainer:innen, weil, wie man immer wieder hörte, sie aus «demselben Kulturkreis» kämen wie die Schweizer:innen. Während die einen also mit Hilfsbereitschaft und Empathie unbürokratisch empfangen wurden, kämpften die anderen weiterhin mit behördlichen Schikanen und Ablehnung aus der Bevölkerung.

«Ich hatte grosses Mitgefühl für die Menschen aus der Ukraine, die wie ich vor einem Krieg flüchten mussten», sagt Abou Kheir. «Doch dann zu sehen, wie sie hier bevorzugt behandelt wurden, war extrem schmerzhaft. Und es ist schlicht diskriminierend: Die blonden und hellhäutigen Flüchtlinge aus Europa sind hier willkommen, die anderen nicht.» Das habe sie wütend gemacht – und diese Wut wollte sie, die schon länger als Autorin tätig ist, in einem Text kanalisieren.

Sie gelangte mit ihrer Idee an Ursina Greuel. Mit ihr hatte sie bereits in den Stücken «Die Legende von Amine & Amanda» (2021) und «Mensch, du hast Recht!» (2023) als Schauspielerin zusammengearbeitet. Greuel unterstützte Abou Kheirs Vorhaben, allerdings unter zwei Bedingungen: Erstens sollte die ukrainische Position auch auf der Bühne vertreten sein und zweitens von einer Musikerin. Denn neben dem Klang der drei Sprachen – Arabisch, Ukrainisch und Deutsch –, zwischen denen das Stück hin und her wechselt, sollten Lieder und Melodien eine gewichtige Rolle einnehmen. «Ich war beim Schreiben völlig in meiner eigenen Blase und wäre nie auf die Idee gekommen, dass eine Ukrainerin neben mir auf der Bühne stehen könnte», sagt Abou Kheir, aber sie habe den Vorschlag toll gefunden.

Und so kam Yulianna Khomenko ins Spiel. Eine gemeinsame Bekannte stellte den Kontakt her, und Khomenko antwortete noch am selben Tag auf Greuels Mail. «Das habe ich in der Schweiz gelernt: Hier musst du sofort reagieren», sagt sie. Die Musikerin hat in der Ukraine klassische Geige und Komposition studiert und Musiktheater gemacht, sie reiste als Strassenmusikerin durch Europa und fühlt sich auch im Jazz und, wie sie selber sagt, im «Hudigääggeler» heimisch.

In die Schweiz kam sie bereits vor dem Krieg, weil sie hier studieren wollte – damals durchlief sie den ganzen Parcours der Schweizer Bürokratie: Aufenthaltsbewilligung beantragen, auf Entscheide warten, Absagen entgegennehmen, Entscheide anfechten, erneut Antrag stellen … Mit dem Ausbruch des Krieges hat sich ihr Aufenthaltsstatus nicht verändert: Sie hat selber keinen S-Status, steht im Stück aber stellvertretend für ukrainische Geflüchtete. Der immense bürokratische Aufwand sei noch immer verwirrend, sagt sie, und das Warten auf Bewilligungen – wie auf jene, die sie brauche, um ihr Studium weiterführen zu können – emotional sehr belastend.

Für sie ist klar, dass sich Abou Kheirs Wut im Stück nicht gegen sie als Ukrainerin richtet, sondern gegen ein ungerechtes System: «Dass es innerhalb des Asylsystems eine Kategorisierung gibt, erinnert an das Kastensystem in Indien», kritisiert sie. Diese Ungerechtigkeit illustriert das Stück mit dem Märchen von «Goldmarie und Pechmarie», das von zwei Schwestern handelt: die eine schön, gut und tüchtig, die andere hässlich, bös und faul. In den leicht veränderten Bruchstücken aus dem Märchen, die die beiden Schauspielerinnen auf der Bühne wiedergeben, sind das keine Tatsachen, sondern Zuschreibungen von aussen. «Die Schwestern mussten den gleichen Weg gehen», heisst es in Abou Kheirs Version, «und der einen wurden die Türen geöffnet, und der anderen wurden sie vor der Nase zugeschlagen.»

Von Gegnerinnen zu Verbündeten

Beim siebten Durchgang des Singduells unterbricht Abou Kheir das Spiel und sagt: ­«Meine Beziehung zu ihr ist mir nicht ganz klar. Wann soll ich kämpfen? Wann soll ich sie hassen?» Worauf Khomenko antwortet: «Immer wieder.»

Beim neunten Durchgang schliesslich ist Greuel zufrieden: Nachdem sich Abou Kheir und Khomenko singend duelliert haben, bleiben sie kurz stehen und schauen einander schweigend und kampfbereit an. Dann kippt die Stimmung: Plötzlich beginnen beide erlöst zu lachen und stimmen wieder je ein Lied in ihrer Sprache an. Fröhlich und gemeinsam erklingen die Melodien nun: Aus Gegnerinnen sind Verbündete geworden. «Super!», ruft Greuel erfreut. Und dann wird auch schon die nächste Szene geprobt.

«Fünf Uhr morgens – Ein Stück zwischen drei Sprachen» in: Zürich, Sogar Theater, Sa, 31. August 2024, 17 Uhr (ausverkauft); Do, 5. September 2024, 19 Uhr. Weitere Aufführungen bis 26. September 2024, Daten siehe www.sogar.ch.

Die Deza und das Theaterspektakel: Geld für Militär statt für Kultur

Das diesjährige Zürcher Theaterspektakel, das noch bis zum 1. September dauert, zeigt während achtzehn Tagen über 240 Vorführungen. Darunter sind viele hochkarätige internationale (Ko-)Produktionen wie das Theaterstück «Mothers. A Song for Wartime» der polnischen Regisseurin Marta Górnicka, die Installation «Return to Sender» vom Nest Collective aus Nairobi oder die Tanzproduktion «Hatched Ensemble» der südafrikanischen Künstlerin Mamela Nyamza.

Stücke wie diese geben dem hiesigen Publikum nicht nur Einblick in das aktuelle internationale Kulturschaffen, sondern bieten auch eine erweiterte Perspektive auf eine globalisierte Welt und die Verstrickungen der Schweiz darin. Diese internationalen Produktionen sind nun gefährdet: Grund sind Sparmassnahmen bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Weil das Militärbudget um vier Milliarden Franken erhöht werden soll, will der Bundesrat zwei Milliarden Franken bei der Entwicklungszusammenarbeit sparen. Das trifft auch die Förderung strategischer Deza-Partnerschaften mit Kulturakteur:innen in der Schweiz: Statt bisher 3,7 Millionen Franken soll es ab nächstem Jahr nur noch 2 Millionen Franken geben. Betroffen sind unter anderem das Filmfestival Locarno, das Festival Culturescapes, der Filmverleih Trigon-Film und eben auch das Zürcher Theaterspektakel.

Laut einem Factsheet der betroffenen Institutionen entfallen etwa beim Theaterspektakel rund zwanzig Prozent des Gesamtbudgets auf Produktionen aus dem Globalen Süden und Osten. Etwa die Hälfte dieser Produktionen konnte dank der Unterstützung der Deza realisiert werden. Die Streichung der Deza-Gelder bedeutet nicht einfach, dass künftig weniger solche Produktionen entstehen: Für die betroffenen Künstler:innen ist sie existenzbedrohend. Viele können ihre Projekte nur dank solcher Kofinanzierungen realisieren und ausserhalb ihrer Länder einem grösseren Publikum präsentieren. Das Parlament wird in der Herbstsession über die Sparmassnahmen bei der Deza entscheiden.