Digitalisierung: «KI? Erst mal ein super Werbebegriff»

Nr. 13 –

Politikwissenschaftlerin Katika Kühnreich ist misstrauisch gegenüber Versprechen von «denkenden Maschinen». Der Schaden, den künstliche Intelligenz anrichte, übertreffe ihren Nutzen bei weitem, sagt sie.

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Katika Kühnreich an einem Vortrag
«Die Stunden, die wir auf Social Media verbringen, bekommen wir nie wieder zurück»:  Katika Kühnreich. Foto: Jan Michalko, re:publica

Gleich dreimal trat sie dieses Jahr schon in der Schweiz auf: zweimal an der Berner Aktivist:innentagung «Tour de Lorraine», einmal am Winterkongress der Digitalen Gesellschaft. Die Berliner Politikwissenschaftlerin und Sinologin Katika Kühnreich stellt Grundsatzfragen zur digitalen Entwicklung. Etwa «Wie wollen wir leben? Und hilft uns KI dabei?»

Kühnreich spricht anschaulich, lakonisch und mit einer klar antifaschistischen Haltung. Ihr Privatleben, etwa Alter und Familienverhältnisse, hält sie konsequent aus der Öffentlichkeit – lässt jedoch durchblicken, dass sie auf Spenden angewiesen ist, um ihre meist schlecht oder gar nicht bezahlte Aufklärungsarbeit weiterzuführen.

WOZ: Katika Kühnreich, Sie kritisieren die Versprechen rund um KI.

Katika Kühnreich: Ja. Wenn wir über künstliche Intelligenz reden, müssten wir zuerst definieren, was Intelligenz ist. Und das wird nicht gemacht. «Künstliche Intelligenz» ist erst mal einfach ein super Werbebegriff. Er wurde schon in den Fünfzigern entwickelt, um Forschungsgelder zu bekommen – verbunden mit dem Glauben, in der Zukunft könnten denkende Maschinen alle Probleme lösen. Es hört sich glamourös an, und so fragen Leute manchmal gar nicht, was man darunter versteht – und merken nicht, dass ihnen Geld aus der Tasche gezogen wird.

WOZ: KI ist in der Gesellschaft angekommen. Viele Leute fragen jetzt Chat GPT, statt zu googeln. Oder brauchen KI-Tools für die Schule.

Katika Kühnreich: Aber das ist ja keine Intelligenz …

WOZ: Es ist ja auch ein Hype.

Katika Kühnreich: Ja, und wir brauchen unglaublich viel Energie dafür, ohne dass wir es merken. Wir müssen die Energie ja nicht in Form von Holzscheiten in die Wohnung tragen. Sonst wäre KI morgen tot. Der deutsch-US-amerikanische Forscher Joseph Weizenbaum hat schon in den Sechzigern einen Chatbot entwickelt, der unter anderem Psychotherapie simuliert hat. Es hat ihn aufgeschreckt, dass die Leute der Maschine sofort vertraut und ihr menschliche Eigenschaften zugeschrieben haben.

WOZ: Man nimmt die Maschine als Person wahr?

Katika Kühnreich: Oft als noch etwas Besseres, denn die Person siehst du ja vielleicht mal wieder und traust ihr nicht ganz. Was, wenn deine beste Freundin zur selben Therapeutin geht? Bei der Maschine sehen wir dieses Risiko nicht.

WOZ: Gibt es nicht doch viele Argumente für den Nutzen von KI? Zum Beispiel: Die Krebsfrüherkennung wird besser.

Katika Kühnreich: Und wie viele Leute bekommen Krebs, weil sie mit toxischen Stoffen arbeiten müssen? Wir haben total ungesunde Leben. Wir könnten ja auch dort ansetzen. Nur noch drei Tage die Woche zu arbeiten, würde helfen.

WOZ: Sie glauben also, dass das Negative an KI überwiegt?

Katika Kühnreich: Ja. Mir kommt die aktuelle Entwicklung vor, wie wenn man einem Hund einen Ast ins Wasser wirft: Wir überlegen gar nicht, wo wir landen, wir springen einfach hinterher. Wer es nicht tut, gilt als komische Hinterwäldlerin, die sich wahrscheinlich nicht mal die Zähne putzt … Mir sagten immer wieder Leute, ich sei digital nicht zu erreichen, weil ich nicht auf Social Media war. Als gäbe es keine E-Mails …

WOZ: Haben Sie dem Druck nachgegeben?

Katika Kühnreich: Ich bin jetzt auf Mastodon, weil dort interessante Themen diskutiert werden und es nicht kommerziell ist. Aber ich bin nicht sehr aktiv. So viel Lebenszeit mag ich da nicht reinstecken. Die Stunden, die wir auf Social Media verbringen, bekommen wir nie wieder zurück.

WOZ: Halten Sie individuelle Verweigerung für eine politische Strategie?

Katika Kühnreich: Ich glaube, dass individueller, nichtorganisierter Boykott nie besonders politisch ist. Wenn du gerne Fleisch essen würdest und es aus Umweltschutzgründen nicht tust: Elon Musk haut diese Energiemenge innerhalb von zwei Sekunden weg. Manchmal wird das mit diesen individuellen Strategien schon fast religiös: Dann streitet man sich endlos darüber, ob man Hühnereier oder Palmöl essen darf. Statt zu überlegen, was gerade mit der Gesellschaft passiert. Aber organisierten Boykott halte ich durchaus für sinnvoll.

WOZ: «Bewegungen brauchen Wurzeln», haben Sie in einem Vortrag gesagt. Wie können diese Wurzeln aussehen?

Katika Kühnreich: Das wird tatsächlich schwieriger, weil viele analoge Orte verschwinden. Früher hat man sich ja mit der Nachbarschaft in der Bäckerei getroffen. Oder in der DDR vor dem Laden, in der Warteschlange. Diese Orte gibt es immer weniger. Aber sie sind wichtig – auch weil man so erfährt, dass es der Nachbarin gerade nicht so gut geht und man sie unterstützen könnte. Wenn du krank bist und jemanden brauchst, der dir eine Suppe kocht, bringts nicht so viel, wenn du total tolle Leute in Australien kennst.

WOZ: Sie gehören zu den Ersten im deutschsprachigen Raum, die sich mit dem Sozialkreditsystem beschäftigt haben, mit dem China seine Bürger:innen bewertet.

Katika Kühnreich: Ja, durch Recherchen für meine Magistraarbeit, 2014. Ich habe mich mit Aufstandsbekämpfungstheorien beschäftigt, mit der Frage, wie man militärisch besetzte Gebiete hält. Erobern ist oft einfach; ein Gebiet zu halten, ist viel schwieriger. Es geht darum, in die Köpfe und Herzen der Menschen zu kommen, etwa indem man Schulen baut, Brunnen bohrt – oder Journalist:innen und religiöse Führer:innen beeinflusst. Ich habe untersucht, ob man den Rückgriff auf den Konfuzianismus in China als eine solche Strategie bezeichnen könnte. Dabei bin ich auf die Planung des Sozialkreditsystems gestossen – den bisher erschreckendsten Versuch, Macht durch Daten durchzusetzen. China hat das System zu Beginn gamifiziert – also Spielelemente integriert, Belohnungen, Levels, Punkte. So wurden Leute reingezogen.

WOZ: Wofür gibts zum Beispiel Punkte?

Katika Kühnreich: Das ist total unterschiedlich, es gibt viele regionale Systeme, für Individuen und für Firmen. Das Ganze wird als Gerechtigkeit verkauft: Du bekommst, was dir gebührt. Bist du nett und hilfst der Nachbarin beim Einkaufen, gibts Punkte. Fährst du zu schnell oder gehst bei Rot über die Strasse, kriegst du Abzüge.

WOZ: Ist das Sozialkreditsystem heute flächendeckend eingeführt?

Katika Kühnreich: Es ist nicht mehr mein Hauptforschungsgebiet, da ich gemerkt habe, dass die Leute sehr gern Kritisches über China hören, aber nicht über Deutschland oder die Schweiz. Ich hatte Vortragsanfragen, in denen es hiess: «Sie dürfen nur über China reden.» Das mache ich nicht. Es sind ja die gleichen Technologien in unseren Social Media. Wenn es um China geht, heisst es: «O Gott, das ist Teil einer Datendiktatur.» Bei uns ist es Teil unserer Bequemlichkeit und macht unser Leben angenehmer. Die Geräte sind die gleichen, und die Apps sind ähnlich gestrickt.

Katika Kühnreich: Es geht um Überwachung und Verhaltensmanipulation. Gamifizierung heisst immer, dass ich das Verhalten der Nutzenden ändern will, indem ich es ihnen als ein Spiel verkaufe, bei dem sie gerne mitmachen. Die Likes auf Facebook, die Herzen auf Instagram: Davon will man das nächste Mal mehr haben, man gewöhnt sich dran, diese Aufmerksamkeit zu bekommen. Und für die Belohnung ändert man das Verhalten. Ganz einfach.

WOZ: Sollen Linke wegen der Reichweite auf Social-Media-Plattformen bleiben?

Katika Kühnreich: Als Erstes sollte man mal die Allgemeinen Geschäftsbedingungen lesen und überlegen, ob man da mitmachen will – bei Facebook stand zum Beispiel, dass sie psychologische Experimente mit einem machen. Sie haben 2012 an den Nutzer:innen geforscht, wann Leute depressiv werden – da muss man sich schon fragen, ob man da mitspielen will. Mastodon weidet immerhin deine Daten nicht aus. Aber die Frage der Lebenszeit bleibt.

WOZ: Ohne Social Media lässt sich doch kein Wahlkampf mehr gewinnen – der Erfolg der Linken in Deutschland wäre undenkbar gewesen.

Katika Kühnreich: Welche Studie beweist diese These? Es wurde eine Zeit lang behauptet, dass Facebook die Revolutionen im Maghreb ausgelöst habe – was lokale Aktivist:innen sehr anders sahen. Eine sagte: «Die Revolution begann, als sie uns das Internet abstellten und wir alle auf die Strassen gingen.»

WOZ: «Digitalisierung macht es Menschen einfacher, extremistisch zu werden», haben Sie in Bern gesagt. Tendieren Social-Media-Plattformen zwangsläufig nach rechts?

Katika Kühnreich: Es steht im Zusammenhang mit Algorithmen, die extreme Inhalte bevorzugen. Und Rechtsradikale haben einfach sehr viel früher damit angefangen, diese Klaviatur zu nutzen, um in die Köpfe und Herzen der Leute zu kommen.

WOZ: Warum schaffen das Linke nicht?

Katika Kühnreich: Es fällt ihnen schwerer, weil sie gegensätzliche ethische Grundsätze haben. Und sie scheuen sich zu Recht, Inhalte so stark zu vereinfachen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist nun mal das Spezialgebiet der Rechten.

WOZ: Was können wir gegen den Faschismus tun?

Katika Kühnreich: Wir müssen auf allen Ebenen ansetzen. Ich nehme gern die Anti-AKW-Bewegung als Vorbild, zu der ich geforscht habe. Sie war wahnsinnig erfolgreich, weil sie spektrenübergreifend war: Es gab Menschen mit sehr wenig Einkommen, andere mit sehr viel, Alte und Junge, und Frauen waren stark beteiligt. Ich kenne keine andere Bewegung im deutschsprachigen Raum, die so lange so erfolgreich so viel geschafft hat. Die einen haben gegen Atomkraft gebetet, die anderen die Strasse unterhöhlt, auf der der Atomtransport geplant war. Es gab einen gemeinsamen Konsens, man hat sich abgesprochen. Das ist beim Antifaschismus auch wichtig: dass Leute im Geflüchtetenheim genauso gegen Faschismus sind wie in der Kirche, im Kindergarten, im autonomen Zentrum. Es muss klar sein, dass Menschenfeindlichkeit nicht geduldet wird.

WOZ: Dazu braucht es Organisierung …

Katika Kühnreich: Ja. Wenn die AfD in Deutschland weiter gewinnt, müssten wir in jeder Gemeinde einen Ort haben, zu dem ich gehen kann, wenn ich etwas dagegen machen will. Wir dürfen nicht allein zu Hause vereinzelt verzweifeln, wir müssen die Leute persönlich kennenlernen. Das ist nicht einfach, weil Menschen sehr anstrengend sein können – so war es auch in der Anti-AKW-Bewegung. Aber persönliche Kontakte sind trotzdem entscheidend. Im Bereich des Antifaschismus habe ich erlebt, dass es einen Konkurrenzkampf gibt: Die eigene Aktionsform ist die richtige, und alle anderen findet man doof. Der «richtige Widerstand» … Solche Grabenkämpfe können wir uns nicht mehr leisten.