Kost und Logis: Eine Frage der Perspektive

Nr. 36 –

Ruth Wysseier über Menschen und andere Tiere

Es soll ja Menschen geben, die auf den Tisch klettern, wenn sie ein Mäuschen sehen. Ganz anders unsere Katze: Sie macht einen blitzschnellen Satz auf ihre Beute und trägt das kleine Tier dann ins Haus, wo sie es ausgiebig foltert. Das ist nichts für sensible Gemüter. Als unser neunjähriger Feriengast neulich beim Frühstück das ängstliche Fiepen hörte, brach er in lautes Schluchzen aus; ich selbst verzeihe meiner Killerkatze fast alles.

Für Nagetiere hat der Mensch sonst wenig übrig. Doch es gibt Ausnahmen, etwa im Gedicht «To a Mouse» des schottischen Dichters Robert Burns. Es handelt von einem Bauern, der beim Pflügen ein Mäusenest zerstört. Er ist voller Mitgefühl und fühlt eine tiefe Verbundenheit mit dem Tier. Und im Disney-Film «Ratatouille» verzaubert die sympathische Ratte Rémy, die gerne ein berühmter Koch werden möchte, das Publikum.

Mit Vögeln verhält es sich anders: Alle lieben sie, doch die einen verehren, die anderen verzehren sie. In Italien geht die Vogelliebe durch den Magen, «Polenta uccelli» gilt als Delikatesse. Im Mittelmeerraum werden jährlich geschätzte 25 Millionen Singvögel getötet und gegessen. Schwer vorstellbar bei uns, wo sie nun auch vom Speiseplan der Katzen verschwinden sollen. Die Katze unserer Nachbarn trägt neuerdings einen leuchtfarbenen dicken Stoffkragen, damit die Vögel sie bemerken, wenn sie ihnen auflauert. Fies für die Katz, gut für die Vögel: Sie soll seither keinen mehr heimgebracht haben.

Mich nerven missionarische Vogelfans. Einige fordern im Namen ihrer «gefiederten Freunde» medienwirksam Hausarrest oder ein Moratorium für Katzen – und finden auch beim Verein Klimaschutz Schweiz Gehör. Obsessive Vogelschützer:innen machen nicht einmal bei gefrässigen Räubern eine Ausnahme, das zeigt ihre Fürsprache für die invasiven Kormorane, die seit einigen Jahren in Hundertschaften im Neuenburger- und Bielersee Treibjagden und regelrechte Massaker veranstalten und die Fischbestände bedrohlich dezimieren.

Von «geschuppten Freunden» spricht niemand – es kommt halt immer auf die Perspektive an, und zu Fischen haben wir mehr Distanz als zu anderen Tieren. Das sieht man auch daran, dass viele Vegetarier:innen zwar kein Fleisch, aber doch gelegentlich Fisch essen. Diese schreien nicht, wenn ihnen die Angel das Maul aufreisst, sie bauen keine niedlichen Nester, singen uns nichts vor, lassen sich nicht streicheln. Mein Lieblingsfisch – auf dem Teller – ist der Felchen, und es bekümmert mich, dass Fachleute das baldige Ende der Felchen in Schweizer Seen prophezeien.

Doch warum sind Katzen mit Abstand die beliebtesten Haustiere in der Schweiz? Ganz einfach: weil sie schnurren können. Man braucht sie nur ein wenig zu kraulen hinter den Ohren, und schon reagieren sie mit diesem wohligen Schnurren, das man hören und fühlen kann. Welch grossartige Belohnung sie uns geben für das bisschen Futter und die gelegentliche Kadaverbeseitigung.

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee. Sie sagt Ja zur Biodiversitätsinitiative, Ja zu Katzen und vor allem Ja zu einer «kinderlosen Katzenfrau» – demnächst im Weissen Haus.