Kost und Logis: Bechern am Bielersee
Ruth Wysseier über saisonale Rituale
Nun fallen sie wieder in Horden über unsere Gegend her. Sie kommen in Cars oder im Zug, von Biel nach Ligerz hat es nur noch Stehplätze. Dass sie das Auto daheim lassen, ist vernünftig, schliesslich wollen sie ordentlich bechern am Bielersee, auch wenn sie vorgeben, eine regionale kulinarische Spezialität sei der Anlass ihrer Reise.
Dem spitzen Dialekt nach kommt die Seniorengruppe, die die zweite Klasse okkupiert, von Romanshorn oder St. Margrethen her, die Frauen erörtern unbeschwert und unappetitlich detailversessen alle möglichen Krankheiten. Auf der Heimfahrt werden dann die weinselig euphorisierten Männer den Ton angeben und sich wohlig an alten militärischen und beruflichen Anekdoten wärmen.
Es ist Treberwurstzeit. Im Januar und Februar wird in den Brennereien aus dem Traubentrester der Marc destilliert, abends werden in den Brennhäfen Saucissons gekocht und in den Carnotzets serviert. Dazu gibts Kartoffelsalat, Jungwein und Schnaps à discrétion, Kaffee aus dem Landfrauenhydranten, und fertig ist die TouristInnenattraktion.
Das ist natürlich zu kurz gegriffen. Je nach Gastgeberbetrieb gibt es feinere oder gröbere Würste; die einen flambieren sie am Tisch, andere bieten noch Meringue an. Doch geht es gar nicht so sehr um eine Wurst, sondern um einen Bissen Authentizität, Landschaft und Ambiente. Das zieht nicht nur Pensionierte an, sondern auch die Zürcher Werbeszene oder eine Gruppe coole Girls aus Biel. Sie freuen sich über die launigen Sprüche der Winzerin, und viele kommen jedes Jahr wieder.
Saisonale Esserei hat eben was. Aus Nostalgie und Trotz die frühen Spargeln im Laden ignorieren und nach langem Warten die frisch geernteten aus dem grossen Moos essen im Landgasthof in Kerzers, wo an jedem anderen Tisch ebenfalls Spargeln serviert werden. Sich das erste Vermicelles mit einer Herbstwanderung verdienen, für die Forelle blau nach Theusseret an den Doubs fahren und fürs Fondue beim ersten Schnee in die Métairie auf der Jurahöhe.
Bei uns ist auch der Truthahn Anlass für ein jährliches Familienessen, die Schwägerin mit kanadischem Migrationshintergrund hat ihn in der saisonalen Bestenliste verankert. Die Nachbarin bringt während der Traubenlese Strübli. Das fettige, mit Zucker überstreute Gebäck wird frittiert und warm gegessen, es schmeckt nach Kindheit, passt zum Suuser und neutralisiert vielleicht auch dessen abführende Wirkung, wer weiss, schliesslich kannten die Alten sich aus mit solchen Zusammenhängen.
Auch bei der lokalen Spezialität Pfärit gibt es eine Hidden Agenda. Pfärit heissen die Felchen an Zwiebel-Safran-Schweize, die es während der Laichzeit gibt. Der Fischer streicht den Weibchen die Eier ab, die sind goldgelb und schmecken so gut wie Belugakaviar, und die kräftige Sauce überdeckt den etwas strengeren Fischgeschmack der schwangeren Felchen. Und der andere Grund für ein Pfäritessen: Es passt ausgezeichnet zu einem Weissweingelage.
Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee. Sie serviert keine Treberwürste und schreibt auch nie Werbetexte.