Machtwechsel im Senegal: Die Hoffnung, die aus den Gefängnissen kam
Überraschend gelang der Oppositionspartei Pastef in diesem Frühjahr auf demokratischem Weg die Machtübernahme im Senegal. Sie verspricht Ähnliches wie die Militärjuntas in den benachbarten Sahelstaaten und will trotzdem alles ganz anders machen.
Durch das nächtliche Dakar rollt ein olivgrüner Kleinbus. Er wird langsamer, kommt mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Auf den Rückbänken sind junge Männer in weissen Hemden zu erkennen; einer starrt zu Boden, ein anderer blickt mit geweiteten Augen um sich. Vor dem Bus erhebt sich das Gefängnis «Cent Mètres», wie es die Bewohner:innen der senegalesischen Hauptstadt nennen: «Hundert Meter». So hoch wirken dessen Mauern, deren Spitzen mit Stacheldraht bestückt sind. «Die tun mir leid», sagt Ndongo Diop, während er auf die Männer im Gefangenentransporter blickt. «Auf der anderen Seite, da ist die Hölle.»
Über Nacht an der Macht
Diop steht ein paar Meter neben dem Gefängniseingang. Er hat einen kahl geschorenen Kopf, ein Gebetsmal auf der Stirn, und er trägt eine anthrazitfarbene Brille. «Drinnen ist Platz für 300 Insassen», sagt er, «jetzt sind da mehr als 3000 eingesperrt.» Die Lebensbedingungen seien fatal. Diop weiss genau, wovon er spricht: Bis vor kurzem sass er selbst im Cent Mètres.
Die Vorwürfe gegen ihn reichten vom Aufruf zum Aufstand bis hin zu Todesdrohungen gegen Justizbehörden. Diop aber sagt, dass er im Oktober 2022 einzig deshalb im Gefängnis gelandet sei, weil er der Partei Pastef angehöre. Das Kürzel steht für «Afrikanische Patrioten des Senegal für Arbeit, Ethik und Brüderlichkeit». Amnesty International zufolge waren zeitweise über tausend ihrer Mitglieder im Gefängnis. Die stärkste oppositionelle Kraft im Senegal: einfach weggesperrt.
Dann aber geschah im Senegal, womit nach den jüngsten Erfahrungen in der Sahelregion kaum jemand gerechnet hatte: Es kam zu einem fundamentalen Machtwechsel – ohne Putsch. Am 18. März 2024 kam Ndongo Diop frei, genau wie Hunderte weitere Pastef-Leute in kurzer Zeit. Und am 24. März, nur Tage nach ihrer Entlassung, übernahmen sie das Land. Der neue Präsident, der Premierminister sowie etliche Minister:innen waren bis vor wenigen Monaten noch hinter Gittern.
Auch Diop gelangte direkt in eine Position, in der er die Zukunft des Landes mitgestalten kann: als Mitglied einer Arbeitsgruppe, die eine Justizreform auf den Weg bringen soll. Es gebe zu wenige Richter:innen, sagt er; Menschen verbrächten Monate ohne Urteil im Gefängnis und würden dafür nicht mal entschädigt. Auch deshalb sei das Cent Mètres derart überfüllt. Er verschränkt seine Finger ineinander: «So haben wir geschlafen.» Fuss an Kopf und Kopf an Fuss, eng gedrängt auf dem Gefängnisboden. In seinem Trakt hätten sich 250 Insassen eine Dusche und eine Toilette teilen müssen. «Das werden wir jetzt natürlich alles ändern», verspricht er.
Ndongo Diop kam 1994 zur Welt. Schon in jungen Jahren drängte es ihn, in der senegalesischen Politik ein Wörtchen mitzureden. Als Teenager ging er auf Proteste, und er war einer der Ersten im Land, die die sozialen Medien nutzten, um Einfluss zu gewinnen. Schnell entwickelte er sich im Netz zu einer bekannten regierungskritischen Stimme.
2012 war das Jahr, in dem Diop achtzehn wurde – und in dem der in Frankreich ausgebildete, langjährige Regierungspolitiker Macky Sall die Wahl zum senegalesischen Präsidenten gewann. Er pflegte gute Kontakte zu europäischen Regierungen, positionierte sich als verlässlicher Partner. Doch unter seiner Regentschaft lahmte die Wirtschaft. Vor allem die Jugend litt unter den Folgen. Heute sind drei von vier Senegales:innen jünger als 35, viele haben kaum Aussichten auf einen regulären Job. Zudem grassierte unter Sall die Korruption. So brachte er, der schon bei seinem Amtsantritt über 50 Jahre alt war, während seiner Präsidentschaft grosse Teile der jungen Generation gegen sich und die ihn umgebende Machtelite auf, auch weil er immer brachialer gegen seine Gegner:innen vorging.
Der Frust im Sahel
Je politischer Diop wurde, desto stärker traf die Repression auch ihn. 49 Mal sei er festgenommen worden, erzählt er. Für Menschen wie ihn, die sich gegen Sall gestellt hätten, sei es bald noch schwerer geworden, einen Job zu finden. Weil ihn niemand mehr habe einstellen wollen, habe er sich im Hafen von Dakar in der Containerlogistik als Selbstständiger betätigt, erzählt Diop.
Nachdem er 2022 ein Video auf Youtube gestellt hatte, in dem er den senegalesischen Sicherheitskräften vorwarf, gegen demonstrierende Senegales:innen falsche Beweise zu fabrizieren, wurde Diop zum letzten Mal festgenommen. Die Justiz warf ihm unter anderem vor, zur Gewalt aufgerufen zu haben. «Meine Frau erfuhr über das Internet von meiner Verhaftung», erzählt er. «Sie war im siebten Monat schwanger. Wir sollten Zwillinge bekommen.» Als sie von der Festnahme gehört habe, sei sie ohnmächtig geworden und gestürzt. «Sie hatte eine Fehlgeburt», sagt Diop.
Es sind Erfahrungen wie jene Diops, die in mehreren Staaten der Sahelzone dazu geführt haben, dass vor allem junge Menschen anfingen, die politischen Systeme abzulehnen. Auch in Mali, Burkina Faso und im Niger sahen sie sich mit Regierungen konfrontiert, die ihren Verpflichtungen gegenüber den Bürger:innen nicht nachkamen und zusehends ihre Legitimität verspielten. Bewaffnete Gruppen rekrutierten erfolgreich perspektivlose junge Menschen. Auch deshalb eskalierte die Gewalt im Zentrum der Sahelzone. Ein beträchtlicher Teil der Menschen war bereit, Militärs zu unterstützen, die ihre Präsidenten stürzten – und die versprachen, alles anders zu machen (vgl. «Die Macht der Militärs»).
Auch im Senegal hätten viele Menschen einen Militärcoup unterstützt, ist Diop überzeugt. Doch hier, am westlichsten Zipfel der Sahelzone, entstand stattdessen eine Alternative.
Das Einlenken des Präsidenten
Es waren frustrierte Staatsbedienstete, die sich 2014 zur Gründung von Pastef zusammenfanden. Sie scharten sich um Ousmane Sonko, einen damals gerade vierzig Jahre alten Steuerbeamten. Als Pastef-Vorsitzender prangerte Sonko die Korruption der Sall-Regierung an, veröffentliche gar ein Buch mit dem Titel «Öl und Gas im Senegal. Die Geschichte einer Enteignung». Darüber hinaus propagierte der junge Politiker Denkschulen, denen sich seither auch die Putschisten in Mali, Burkina Faso und im Niger verschrieben haben: Antikolonialismus und Panafrikanismus – die Überzeugung also, dass einstige Kolonialmächte mit der Hilfe korrupter afrikanischer Eliten ihre alten Besitztümer noch immer kontrollieren und dass sich Afrikaner:innen nur in einer grossen gemeinsamen Anstrengung davon befreien können. Es sind Thesen, die vor allem die Jugend im Sahel begeistern. Auch Diop stieg sofort bei Pastef ein. Das Motto der Partei: «Aufopferung für das Vaterland».
Nach seinen ersten Enthüllungen wurde Parteipräsident Sonko aus dem Staatsdienst entlassen und wiederholt festgenommen. Im Juni 2023 wurde er schliesslich zu zwei Jahren Haft verurteilt: Die Justiz warf ihm die «sexuelle Verführung» einer Minderjährigen vor. Sonkos Anhänger:innen erkannten darin ein politisches Komplott, strömten auf die Strassen, wo die Sicherheitskräfte brutal zurückschlugen. In den Tagen rund um den Schuldspruch starben Amnesty International zufolge 23 Menschen.
Dass die Regierung immer offensiver versuchte, Pastef auszuschalten, rettete das Lager von Präsident Sall allerdings nicht. Eher im Gegenteil: Sall durfte nach zwei Amtszeiten bei den für Februar 2024 angesetzten Wahlen nicht mehr selber antreten, und der von ihm unterstützte Kandidat, Amadou Ba, schwächelte in der entscheidenden Wahlkampfphase – woraufhin der Präsident wenige Wochen vor dem Urnengang überraschend verkündete, dass die Wahl auf unbestimmte Zeit verschoben würde.
Tausende Senegales:innen protestierten gegen die Wahlverschiebung, die der Verfassungsrat für ungültig erklärte. Selbst Salls europäische Partner machten Druck: Die Angst davor, dass sich der Präsident widerrechtlich eine dritte Amtszeit verschaffen und im Senegal ein weiterer Putsch folgen könnte, war gross. Vielleicht fürchtete Sall das bald auch selbst. Wenig später lenkte er jedenfalls ein. Eilig setzte er einen neuen Wahltermin an und führte ein Amnestiegesetz ein, das den politischen Gefangenen des Senegal die Freiheit zusicherte.
Versuch der Versöhnung
Vor den Toren Dakars liegt das CICAD, ein internationales Konferenzzentrum. In einem der Säle hängt ein Kronleuchter, der aussieht wie glühende Bienenwaben, auf dem Boden dicke Teppiche. Ndongo Diop sitzt da, unter Hunderten anderen. Es ist ein Tag Ende Mai, und mit dem «Nationalen Dialog» soll der erste Schritt auf dem Weg zur Justizreform gemacht werden. Neben Diop sind weitere ehemalige Häftlinge anwesend, Vertreter:innen der Zivilgesellschaft, ja sogar Mitglieder der früheren Sall-Regierung. Diop blickt zur Bühne.
«Seine Exzellenz, der Präsident der Republik, hat sich zu uns gesellt, um eine Eröffnungsrede zu halten», sagt ein Moderator, bevor ein junger Mann in einem grauen traditionellen Gewand auf die Bühne tritt. Ndongo Diop und die anderen Gäste klatschen fast zwei Minuten lang, während sich Bassirou Diomaye Faye, der neue Präsident des Senegal, bei den Anwesenden bedankt. «In Zeiten des Friedens miteinander zu reden und dabei die Menschlichkeit zu teilen, die in jedem von uns steckt – daran bemisst sich die Grösse der Nation», sagt Faye. Pastef-Chef Sonko, der nun Premierminister ist, hat ihn einst als Kandidat aufgebaut. Für seinen Wahlkampf hatte Faye nach seiner Haftentlassung im Frühling bloss zehn Tage Zeit. Er gewann bekanntlich trotzdem. «Recht wird im Namen des Volkes gesprochen, daher ist es relevant, dass das Volk ein Wort mitzureden hat», referiert der 44-Jährige nun auf der Bühne. Seine Stimme klingt jung, die Worte etwas zu geschliffen.
Nach Fayes Rede, in der Mittagspause, steht Diop am Rand einer Treppe. Er trägt einen kleinen schwarzen Rucksack, ist bereit für die nächste Arbeitssitzung. Während des «Nationalen Dialogs» sammeln die Teilnehmer:innen Vorschläge für ein besseres Rechtssystem, die sie dem Präsidenten vorlegen wollen. Als eine «Rede der Versöhnung» beschreibt er Fayes Auftritt: der Versöhnung mit der alten Elite, aber vor allem mit den staatlichen Institutionen, mit der Demokratie und der Justiz. Faye wolle nicht alles zertrümmern, sagt Diop.
Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen der Agenda der Putschisten in Mali, Burkina Faso und im Niger und der Ausrichtung von Pastef. Die Partei stellt sich gegen westliche Ausbeutung und Bevormundung, übt grundsätzliche Kritik an den politischen Systemen, die sich in Afrika nach dem Ende des europäischen Kolonialismus herausgebildet haben. Aber in entscheidenden Punkten geht Pastef einen eigenen Weg – einen versöhnlicheren.
Die Putschisten im Niger wollen ihren gestürzten Präsidenten wegen Hochverrat vor Gericht stellen. Sie haben bereits französische Soldaten, Diplomatinnen und Unternehmer aus dem Land gejagt, mit Europa und den USA gebrochen. Sie haben auch ihren Austritt aus der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) erklärt, die sie als westlich kontrolliert verschmähen. Der Niger hat sich mit den anderen Putschstaaten Burkina Faso und Mali zu einer Konföderation zusammengeschlossen, der Allianz der Sahelstaaten (AES). Zusammen wollen sie eine gemeinsame Währung und eine Freihandelszone schaffen. Zudem verfestigen die Militärs ihre Macht. Wahlen wird es dort in absehbarer Zeit nicht geben.
Faye hingegen reiste nach Paris, traf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron – ein klares Statement. Auch Faye will den Einfluss der früheren Kolonialmacht beschränken, die Präsenz französischer Soldat:innen im Senegal steht auf dem Prüfstand, auch der Senegal soll aus der alten Kolonialwährung CFA-Franc aussteigen. Doch Faye setzt nicht auf einen Bruch. Ihm geht es darum, einen verbesserten Deal auszuhandeln – nicht nur mit Frankreich, sondern mit allen westlichen Partnern. «Die Militärs in Mali und den anderen Staaten wollen alles für ihre Bevölkerung, hundert Prozent», sagt Diop. Pastef dagegen wolle einen Weg einschlagen, den auch ausländische Akteur:innen mitgehen könnten.
So steht auf der langen Liste von Projekten von Pastef, dass Energieverträge und das Fischereiabkommen mit der EU neu zu verhandeln seien. Die Partei setzt darauf, mit alten Partnern im Gespräch zu bleiben. Auch die Mitgliedschaft in der Ecowas will Faye nicht beenden. Vielmehr will er, dass sich die Organisation reformiert, und wirbt für den Verbleib der AES-Staaten.
Die höchste Priorität aber hat die Erneuerung des eigenen politischen Systems, und das vielleicht wichtigste Vorhaben bildet dabei die Justizreform. Nicht nur, weil so viele Pastef-Mitglieder erlebt haben, was willkürliche Festnahmen bedeuten. In der gesamten Region fehlt seit den Unabhängigkeitserklärungen 1960 die Rechtsstaatlichkeit, die «accountability», aufseiten der Eliten. Dieser tiefgreifende Makel ist ein Kernelement der politischen Krise in der gesamten Region.
Das Tor von Cent Mètres schiebt sich auf. Der Bus mit den jungen Männern verschwindet im Gefängnis. «Drinnen ist es wirklich die Hölle», sagt Ndongo Diop noch einmal und fügt an: «Pastef trägt nun eine gewaltige Verantwortung.» Ganz Afrika schaue dabei zu, was im Senegal geschehe.
Pastef scheint einen dritten Weg einzuschlagen, irgendwo zwischen dem Kurs der AES und dem «weiter so» der alten politischen Klasse. Er zeigt eine mögliche demokratische Alternative zum Aufstand der Generäle und Offiziere auf. Eine Alternative, die nicht im Verdacht steht, Teil des alten Klüngels zu sein.
Weg mit Schwert und Waage
Anfang Juli legen Diop und die anderen Teilnehmer:innen des «Nationalen Dialogs» ihre Vorschläge für die Justizreform vor: 30 Empfehlungen auf 87 Seiten. Ein Verfassungsgericht soll entstehen, dessen Mitglieder nicht vom Präsidenten ernannt werden. Die Möglichkeiten, Verdächtige in Untersuchungshaft zu stecken, sollen eingeschränkt werden. Eine Priorität bildet auch die Dekolonisierung der Symbole der Justiz: die schwarze Robe, Schwert und Waage – Bilder, die dem französischen Justizsystem entstammen – sollen einheimischen Darstellungen weichen.
Manche Kritiker:innen werfen Pastef Populismus vor; sie sagen, dass es bei all den grossen Gesten und Versprechungen nur eine Frage der Zeit sei, bis sich die Partei selbst entzaubere. Andere hingegen werfen ihr vor, nicht radikal genug vorzugehen, um wirklich etwas verändern zu können. Vor allem die Jugend des Landes ist ungeduldig. Sie erwartet viele grosse Veränderungen, und das schnell.
Ndongo Diop hat Angst vor dem Moment, in dem die Partei die Erwartungen der Senegales:innen nicht erfüllt. Er schaut auf die Mauern von Cent Mètres, auf den Stacheldraht. «Wenn wir nicht umsetzen, was wir versprochen haben, dann ist es vorbei», sagt er. «Wenn wir scheitern, ist alles möglich: mehr Putsche, Terrorregimes, alles.»
Die meisten Menschen in Afrika halten Umfragen zufolge die Demokratie für die beste aller Staatsformen. Die wenigsten glauben aber, in echten Demokratien zu leben. Auch deshalb erhalten Putschisten derzeit vielerorts Zuspruch. Sollte auch Pastef scheitern, so Diops Befürchtung, könnten die Menschen im Senegal und anderswo endgültig den Glauben an Wahlen und an die Demokratie verlieren.
Diese Reportage entstand im Rahmen der Recherchen des Autors für sein Buch «Putsch. Der Aufstand gegen Europas Kolonialismus in Afrika», das im Oktober 2024 im Quadriga-Verlag erscheint.