Ein Traum der Welt: Demenz als Geschenk?

Nr. 40 –

Annette Hug weilt in einem friedlichen Kokon

Meine Verwandte auf der Demenzabteilung hat den Krieg vergessen. Sie ist eine andere geworden. Ein Leben lang hat jede Erzählung aus ihrem Leben ins Inferno geführt, in die Flächenbombardierung. Sie war dann wieder dreijährig und fuhr auf dem Gepäckträger eines Fahrrads aus den Flammen. Jetzt sagt sie: «Da war kein Krieg.»

Neue Pfleger:innen, die nicht erlebt haben, wie sie ihre Wäsche und ihre Handtasche gegen «Vertriebene» verteidigte, sagen mir, wie anrührend und sanft sie oft sei. Sie sitzen gern bei ihr. Denn tatsächlich strahlt sie Leute an, die nett sind. Solange man nicht versucht, ihr etwas an- oder auszuziehen, sie zu waschen oder ihr die Zähne zu putzen, lächelt sie selig.

Jener Pfleger in Hongkong hatte vielleicht recht. Er zeigte mir im Januar 2017 seine Arbeit in einem Tageshort für Hochbetagte. Demenz sah er als letztes Geschenk. Voller Bewunderung sprach er von der Generation der Achtzig- bis Neunzigjährigen. Die meisten von ihnen waren nicht in Hongkong geboren, sondern auf dem chinesischen Festland, vor dem Zweiten Weltkrieg. Sie hatten also Krieg, Bürgerkrieg und kommunistische Revolution erlebt. Einige waren vor Katastrophen ins damals britische Hongkong geflüchtet, vor der Hungersnot nach Mao Zedongs «Grossem Sprung nach vorn» oder dem Staatszerfall und den Verfolgungen der Kulturrevolution. Im Januar 2017 sassen sie in jenem Hort und warfen sich farbige Bälle zu. Sie schienen guten Muts. Der Leiter sah die Arbeit für Demenzkranke als Dank an eine Generation, die gepeinigt von Erinnerungen eine neue Existenz für ihre Kinder aufgebaut habe. Sein Ziel sei, das Geschenk des Vergessens auszuschöpfen. «So viel Genuss wie möglich» war seine Devise: gutes Essen, höflicher Umgang, schöne Musik, Anlass zum Lachen, körperliches Wohlsein.

Seither hat die Regierung in Hongkong eine Demokratiebewegung niedergeschlagen, Tausende junger Aktivist:innen mussten das Land verlassen und sind jetzt dabei, sich in England oder Australien neue Existenzen aufzubauen.

Meine Verwandte spricht wieder deutlicher als auch schon und sucht nach Worten für eine Zeit, in die sie abzudriften scheint: «Ich bin lange weg gewesen und habe mich selber nicht mehr gesehen.» Manchmal hat sie von allem genug, aber der Appetit ist nicht vergangen. «Da wird viel hingebaggert», das Eis zum Nachtisch ist ein Fest. Und wenn wir nebeneinander auf dem Sofa chillen, dann perlen die Streitigkeiten im Aufenthaltsraum an uns ab. Einmal mehr müssen sich neue Bewohner:innen aneinander gewöhnen, was nicht einfach ist, wenn die eine denkt, sie sei für die Ordnung auf allen Tischen zuständig, ein anderer auf der Blockflöte «Roti Rösli» spielt und Applaus erwartet. Wenn jemand sein Eis verschenken will, kann das als Beleidigung aufgefasst werden. Von den Diebstählen reden wir nicht. So brutal war das, vor viereinhalb Jahren, als meine Verwandte hier einzog und in zittriger Schrift auf einen Zettel kritzelte: «Warum bin ich in der Klapsmühle gelandet?»

Damals hatte ich Mitleid mit denen, die nur noch auf den Sofas vor sich hindösten. Jetzt scheint mir das ein guter Ort zu sein, aber vielleicht idealisiere ich den Zustand. Meine Verwandte sagt: «Es ist schon viel zu lang fünf. Und weit über hundert Jahre.»

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich.