Ein Traum der Welt: Absurdes Theater?
Annette Hug unterhält sich auf einem Sofa
«Stinkbude», sagt meine Verwandte überraschend deutlich. Wir sitzen auf einem Sofa im Aufenthaltsraum der Demenzstation. Die meisten Worte bleiben in einem unverständlichen Stottern hängen. Der Sinn einer Aussage ist in den Augen zu lesen. Sich anfassen wird wichtiger: umarmen, Hände halten, stupsen.
Alles wird immer schwieriger, aber gewisse Dinge werden leichter. Besitz ist nicht mehr so wichtig. Vorbei ist der Kampf um die Hoheit über den Kleiderschrank. Die Mitarbeiter:innen des Hausdienstes müssen sich nicht mehr verteidigen. (Ein Hoch auf die Spielfreudigen, die sich anfangs als Angestellte eines Hotels ausgaben und täglich einen neuen Service anpriesen. Gratis.) Dass die Kleidungsstücke auf einem Wagen mit Plastikbecken verschwinden, ist nicht mehr wichtig. Vorbei der Kampf gegen den täglichen Diebstahl und die Behauptung, der Wagen fahre zur zentralen Wäscherei. Wers glaubt, wird selig, und wers nicht glaubt, auch. Nicht einmal das eigene Zimmer will meine Verwandte mehr abschliessen. Ist das ihr Zimmer?
Und wenn noch ein Bewohner zu uns aufs Sofa sitzen will, erhebt sie keine Einwände mehr. Eng zusammengedrängt sitzen wir da, die Hände und Arme gehen durcheinander. Wir mummeln uns ein und lassen die Welt draussen Welt sein. Bis doch eine Erinnerung an eigenen Schmuck auftaucht. Da waren doch Armspangen. Jemand drückt mein Handgelenk, warum sind sie da nicht, die goldenen Reifen? Wo sind die hin?
Am Nebentisch freut sich eine Mitbewohnerin an ihrem eigenen Geplauder, sie steigert sich in ein mädchenhaftes Kichern. Das ist wie Eugène Ionesco: absurdes Theater. Also hatten wir in der Schule doch fürs Leben gelernt. «Die kahle Sängerin» hiess das Stück in einfachstem Französisch, im Mai 1950 uraufgeführt. Zwei Ehepaare haben sich gar nichts zu sagen, erzählen Geschichten ohne Pointe, bis sich ihre Sätze am Schluss befreien. Nichts muss mehr Sinn ergeben, Hauptsache, «Bazar» beginnt wie «Balzac», einer sagt Vokale auf, die andere Konsonanten. Auf das Wort «Papst» lässt sich gut brabbeln.
Wenn ich mich recht erinnere, hätten wir damals lernen sollen, dass die bürgerliche Nachkriegsgesellschaft leer und orientierungslos war. Eine Anklage hätte das Stück sein sollen, und Ionesco sei überrascht gewesen, wenn nicht entsetzt, vom Erfolg des Stücks als Komödie. Man lachte sich kaputt.
Wir lachen auch manchmal in der «Stinkbude». Unterhalten uns auch ohne den Handörgeler, der zur Fasnacht unten in der Cafeteria aufspielt. «Nein, geschunkelt habe ich schon, das muss ich nicht mehr», flüstert meine Verwandte langsam. Bitte keine lärmige Unterhaltung. Ein Sofa ist genug und das Kichern der Mitbewohnerin am Nebentisch. Da gehen Botschaften durch den Raum, manchmal reimt sich das Wort der einen auf ein Wort der anderen.
Mir bleibt keine Anklage von Ionesco, keine Tragik der Sprache, sondern das beruhigende Gefühl, dass die Bedeutung von Worten nicht alles ist. Im Notfall geht es auch ohne. Eine Satzmelodie antwortet auf eine andere, zwischen Seufzern entstehen Resonanzen und vermitteln das Gefühl: Wir sind nicht allein.
Gefährlich wird es draussen, wenn sich in einem Gespräch, das ernst gemeint ist, die Worte leeren und ich am liebsten sagen würde: «Wollen wir nicht einfach mummeln?»
Annette Hug ist Autorin und verfolgt auf einer Pflegestation, wie die Grippewelle den rasenden Personalwechsel beschleunigt.