Ein Traum der Welt: Wutanfall, gesungen

Nr. 22 –

Annette Hug flucht auf der Demenzabteilung

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«Schimpfwörter sind Glücksache» heisst bei Mani Matter der Untertitel zu einem Lied. Es ist ein Glücksbringer, wenn auch nur für einen Augenblick.

Auf die Dauer brauchts Drogen, um meine Verwandte im Pflegeheim aus der düsteren Versenkung zu holen. Manchmal mischt sich Angst vor allem, was unverständlich ist, mit heilloser Wut. Auch Pflegende, mit denen sie seit Jahren gut auskommt, erscheinen ihr dann wildfremd. Mit Betonung auf «wild». Wenn ich ankomme, kanns sein, dass sie mich wegschickt. Dann bleibt mir nur, eine Runde auf der Station zu drehen und einen besseren Moment abzuwarten.

Gut wirds, wenn sich in einer Tirade aus unverständlichen Lauten ein Wort ausmachen lässt. In einem Knacklaut steckt «Keks» – «Ich geh dir auf den Keks?» – «Genau!» – «Auf den Geist?» – «Auf den Sack!» – «Auf den Senkel!» Die Reihung im Wechsel bringt sie zum Lachen.

Das ist der Moment für Mani Matter: «E Löu, e blöde Siech, e Glünggi un e Sürmel». Zur sanften Melodie klingt auch ein eingeworfenes «Scheibenkleister!» nett. Wie ein Wunder kommt das lange Wort intakt über die Lippen. «Dr Glünggi het zum Löu gseit, är syg e blöde Siech», «So n Kack!», «Dä isch sofort zum Sürmel, was ja o nid jede miech», «Abfahren!», «Affentheater!», «Alles scheisse!»

Jetzt lacht sie lauter, und so wird deutlich, woher das Wort «Kraftausdruck» stammt: Da ist Energie drin, und irgendwann machts einfach Spass, noch einen draufzusetzen. Dann ist auch gleich klar, wie sich «Tag» und «Abend» verbinden: «Noch ist nicht aller Tage Abend!» «So ist es!» Schon spricht sie wieder unverständlich vor sich hin, aber ruhiger, und es reicht, zu nicken, ihr die Hand zu halten und im richtigen Moment zu fragen: «Gibts denn so was?» Da sind die Worte für die Antwort schon da: «So was gibts.»

Gegen Angstzustände und helle Aufregung, also Schlaflosigkeit, habe ich selbst schon das Medikament Temesta verwendet. Es kann leicht zur Droge werden, weil sich Angst wundersam in Wohlsein auflöst. So habe ich mir ein strenges Regime auferlegt: Nicht mehr als zwei Nächte hintereinander, nicht mehr als eine Packung pro Jahr. Dann kamen die Lieferengpässe. Offenbar werden auch die Substanzen für Temesta in Asien gefertigt und bleiben öfter irgendwo stecken. Im Moment wäre in meiner Apotheke eine Packung vorhanden, aber ich habe umgestellt. Xanax ist eher Arznei als Droge, es macht einfach nur dumpf. Der schöne Moment, in dem sich die Angst auflöst, bleibt aus.

Jetzt führt die Weltlage dazu, dass die Gründe für Angstzustände zunehmen, aber mögliche Ursachen für Lieferengpässe auch. Zum Glück ist das Antidepressivum, das meine Verwandte seit neustem erhält, ausreichend vorhanden. Manchmal ist sie richtig gut gelaunt, fast aufgedreht, und überraschenderweise spricht sie auch wieder viel klarer.

Gerne denke ich an den Psychoanalytiker und Schriftsteller Paul Parin zurück, der einmal gefordert hat, Drogen für die letzte Lebensphase freizugeben. Phasen der Verzweiflung möchte ich einmal bekifft durchqueren. Damit nicht alles, was seltsam und unvorhergesehen ist, Schreck und Abwehr auslöst.

«Wer bist denn du?», fragt meine Verwandte, blickt aber interessiert. «Ich bin Annette.» – «Ah, die Tochter deiner Mutter!» Wie schön, dass eine Pflegerin laut mitlacht.

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich. Lieder von Mani Matter singt sie nur im Notfall.