Ein Traum der Welt: Walzer in Moll
Annette Hug ist Fan einer kleinen Band
Auf der Demenzstation waren noch nicht alle Stellen besetzt, die Personalsuche lief auf Hochtouren. Dann begann auch noch ein Umbau. Ein Teil der Station musste abgesperrt werden, Badezimmer werden jetzt erneuert, der kleinere Aufenthaltsraum steht momentan nicht zur Verfügung. Wer hätte gedacht, dass das ein Glücksfall ist. Das alte, leicht scheppernde Klavier ist nämlich in den Speiseraum verlegt worden, wo jetzt eigentlich alles stattfindet. Die treusten Angehörigen, zu denen ich nicht gehöre, haben irgendwo geübt: Klavier, Blockflöte, Gesang. Wenn sie jetzt aufspielen, singen alle mit, auch ohne Worte. Einmal erhob sich ein Paar zu einem langsamen Tänzchen.
Meine Verwandte singt am liebsten das Lied von der Lorelei: «Ich weiss nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin.» Wobei sie auch gern kleine Zwischenbemerkungen dichtet: «Was soll es bedeuten, dass wir alle doof werden.»
Es ist erwünscht, dass man sich zwischendurch ans Klavier setzt. Wobei wir uns unter Angehörigen und mit den Pflegenden fragen, wann etwas Leises zur Beruhigung angesagt ist, wann Aufmunterung guttut: ein Dreivierteltakt. Mein Klavierspiel kommt nur unverhofft gut an. Jeder Anflug von Eitelkeit, der Wunsch, zu beeindrucken, ist kontraproduktiv. Er provoziert mit Sicherheit eine Bewohnerin, lauthals gegen das Geklimper zu protestieren. Die Musik muss sich in die allgemeine Stimmung einfügen. Im Murmeln, in lautem Ein- und Ausatmen, in Zwischenrufen und einsamen Streitmonologen wird sie spürbar, sie ist auch mit dem Baulärm und dem Geklapper aus der Teeküche verbunden.
In Genf habe ich eine ähnliche Gefühlswolke erlebt, in einer Kleinkindergruppe. Sie heisst «Éveil musical». Das «musikalische Erwachen» findet in Anwesenheit von erwachsenen Bezugspersonen statt, eine Freundin der Mutter darf sich mit reinsetzen. So habe ich beobachtet, wie schnell Kleinkinder begreifen, dass allgemeiner Lärm lustig ist. Aber viel interessanter ist sein Abbruch. Streckt eine die Trommelschlägel in die Luft, machen das alle nach, schon ist Ruhe. Wenn das nicht klappt, greift die Musiklehrerin zu einer Röhre, in der Sand oder etwas Ähnliches hin und her fliesst. Das macht ein leises, aber interessantes Geräusch. Alle wollen auch, jede:r bekommt ein Rohr. Dem knisternden Rauschen hören sie eine Weile zu.
Und so ein Gefühl für den richtigen Moment, für die Möglichkeit zum Stimmungsumschwung, braucht es auch im Speiseraum der Demenzabteilung. Nimmt Traurigkeit überhand, aber noch nicht Wut, dann ist der Moment günstig für jenen Walzer in cis-Moll, den Frédéric Chopin der Baronin Charlotte de Rothschild gewidmet hat. Heute kommt er in koreanischen TV-Serien zuverlässig zum Einsatz, wenn eine gepflegte Bordellszene aus der Kolonialzeit zu untermalen ist.
Gestern hatte ich die Noten vergebens dabei. Ich erlebte mit, wie sich Demenz in einem Schub verschlimmern kann. Nein, das sei kein Hirnschlag, auch keine Streifung, sagte die diensthabende Pflegefachfrau. Man nenne das «Intermezzo». Das hat meiner Verwandten die Wörter zerhackt. Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren, wenn niemand mehr versteht, was sie sagt. Vielleicht sei das nur temporär. Ja, vielleicht, das war schon einmal so, und es ist dann wieder besser geworden.
Annette Hug ist Autorin und Angehörige.