Branko Milanović: «Wenn sich Ökonomen politisch einmischen, dann ist das gut»
Der frühere Chefökonom bei der Weltbank erläutert, warum Adam Smiths Werk oft falsch interpretiert wird – und wie ideologische Gründe die Erforschung von Klassengegensätzen verhinderten.

WOZ: Branko Milanović, Ihr neues Buch, «Visionen der Ungleichheit», ist ein Ritt durch die Geschichte Ihrer Disziplin: Sie porträtieren darin etwa François Quesnay, einen der Begründer der Ökonomie, Adam Smith oder auch Karl Marx. Warum dieser Blick zurück?
Branko Milanović: Ich bin an diesen Autoren schon lange interessiert. Mein Forschungsschwerpunkt liegt ja im Bereich Ungleichheit, und irgendwann ist mir aufgefallen, dass niemand bisher besagte Autoren unter diesem Blickwinkel untersucht hat. Im Fall von Marx bedeutet das, dass ich im Buch gerade nicht seine Werttheorie oder den Warenfetischismus untersuche, sondern den Fokus darauf lege, wie er die Einkommensungleichheit betrachtete und deren weitere Entwicklung im Kapitalismus einschätzte. Das war die Grundidee. Beim Schreiben wurde mir dann klar, wie sehr diese Autoren unter den Bedingungen ihrer je eigenen Zeit Ungleichheit unterschiedlich erörterten – woraus auch folgt, dass das, was wir heute tun, nicht eine Art «absolute» Untersuchung von Ungleichheit ist, sondern ebenso eine Erforschung von Ungleichheit in unserem spezifischen Kontext.
Der Wirtschaftswissenschaftler
Der international renommierte Ökonom Branko Milanović forscht insbesondere zu Fragen der Einkommensverteilung und der Ungleichheit. Geboren wurde er 1953 in Belgrad, wo er seine Dissertation noch vor dem Zerfall Jugoslawiens abschloss. Er war fast zwanzig Jahre Chefökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank, seit 2014 ist er Visiting Presidential Professor an der City University of New York.
Milanović veröffentlichte breit rezipierte Bücher, darunter «Die ungleiche Welt. Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht» (2016) sowie «Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht» (2020). Ende September ist «Visionen der Ungleichheit. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart» auf Deutsch erschienen (Suhrkamp, Berlin 2024, 443 Seiten, 50 Franken).
Viele Ökonom:innen würden es vermutlich als eher überflüssig betrachten, heute noch Adam Smiths Schriften durchzuarbeiten. Ist Ihr Buch auch ein Statement gegen diese Geschichtsvergessenheit?
Ja, ist es. Es stimmt, dass viele Ökonomen die Ideengeschichte nicht studieren. An den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten in den USA wurde diese praktisch von den Lehrplänen eliminiert, Smith oder Marx werden eher in der Philosophie thematisiert als in der Ökonomie. In Europa ist es ähnlich, wenn auch vielleicht nicht ganz so dramatisch.
Wie erklärt sich dieses historische Desinteresse?
Es gibt dafür vermutlich zwei Gründe. Der erste ist der Irrglaube, dass Ökonomie keine Sozialwissenschaft sei und deswegen Zugang zu einem übergeordneten Wissen verschaffe, das das, was man früher gedacht hat, irrelevant macht. Einen Beleg dafür, dass das falsch ist, haben wir eben erst gesehen: Als vergangene Woche der Nobelpreis für Wirtschaft verkündet wurde, hat das sofort eine enorme Debatte provoziert – und zwar genau deswegen, weil Ökonomie eine Sozialwissenschaft ist, in der es Vertreter sehr verschiedener Traditionen gibt. Und so gab es auch sofort kontroverse Diskussionen über die Thesen der diesjährigen Preisträger Daron Acemoğlu, Simon Johnson und James A. Robinson.

Diese Kontroversen sind also gar nichts Ungewöhnliches?
Nein, das ist jedes Mal so, wenn ein bedeutender Preis verliehen wird. Das zeigt deutlich, dass wir in unserer Wissenschaft zwar Fortschritte erzielen – wobei nicht einmal das unumstritten ist –, aber die behandelten Fragestellungen und Probleme damit nicht endgültig gelöst sind. Es ist auch unwahrscheinlich, dass sie das irgendwann einmal sein werden. Das ist in anderen Sozialwissenschaften auch so, etwa in der Politologie, in der die Frage, welches politische System das beste ist, trotz einer Jahrtausende währenden Tradition noch immer diskutiert wird, einfach weil es sich dabei um Probleme handelt, die keine Lösung haben.
Und was ist der zweite Grund für das fehlende historische Interesse vieler Ökonom:innen?
Der zweite Grund ist ein rein pragmatischer: Die Leute arbeiten sich deswegen nur an der neusten Forschung ab, weil sie Aufsätze schreiben wollen, die auch veröffentlicht werden. Und sie benötigen Publikationen, um eine Stelle zu bekommen. Wenn man dagegen ein Buch über Smith schreibt, würde das kaum die eigenen Jobaussichten verbessern, selbst wenn es ein exzellentes Buch ist.
Apropos Adam Smith: Es wird immer wieder bemängelt, dass dieser oft verkürzt als Quasimarktradikaler rezipiert würde, weil man seine Moralphilosophie ignoriere. In Ihrer Deutung ist nun aber gerade der Smith von «Wohlstand der Nationen» gewissermassen der «linke» Smith, während Sie den Moralphilosophen Smith, der die Bedeutung des Mitgefühls für andere betont, kritisch sehen. Könnten Sie das etwas ausführen?
Tatsächlich hegen manche die Illusion, dass Smiths Werk «Theorie der ethischen Gefühle», das er vor «Wohlstand der Nationen» schrieb, eine Art «linkes» Buch sei, weil es das menschliche Mitgefühl zum Gegenstand hat. Dieses bildet laut Smith den Mechanismus, durch den Leute in organischen Gemeinschaften etwa durch Freundschaft oder familiäre Bande miteinander verknüpft sind. Dort ist ihm zufolge das Eigeninteresse nicht so stark ausgeprägt, da ein gemeinschaftlicher Geist dominiert. In «Wohlstand der Nationen» dagegen spielen solche gemeinschaftlichen Banden keine Rolle, vielmehr ist das Buch «auf dem Granit des Eigennutzes errichtet», wie es der Ökonom George Stigler einmal formuliert hat. Deswegen glauben viele Leute, dass die «Theorie der ethischen Gefühle» irgendwie netter sei und mehr den Wert zwischenmenschlicher Beziehungen würdige.
Aber das ist ein Irrglaube?
Ich habe das tatsächlich auch lange gedacht. In der «Theorie der ethischen Gefühle» macht Smith die Reichen lächerlich, indem er etwa sagt, sie seien träge und würden ihr Geld für Unsinniges verschwenden. Zugleich aber betont er, dass die Armen trotz ihrer Armut nicht als von Gott verlassen zu betrachten seien. Es gibt eine berühmte Stelle, an der Smith behauptet, dass der Bettler, der sich auf der Strasse sonnt, mehr Sicherheit geniesse als ein König – denn der Bettler müsse ja nicht befürchten, angegriffen und beraubt zu werden, einfach weil er nichts besitzt. In meiner Lesart will uns die «Theorie der ethischen Gefühle» damit aber sagen: Ja, es gibt Arm und Reich, aber das heisst nicht, dass Gott böse ist und sich nicht um die Armen kümmert. Vielmehr würden die Armen andere Vorteile geniessen, weil sie vielleicht weniger arbeiten müssten und die Sonne geniessen könnten. Das Buch rechtfertigt damit eine ungerechte Ordnung, indem es behauptet, Gott würde letztendlich für jedermanns Wohlergehen sorgen.
Und «Wohlstand der Nationen»?
Dort spielt Gott praktisch keine Rolle mehr. Zugleich urteilt Smith hier sehr hart über die Kapitalisten, denn er fragt danach, wie diese ihren Reichtum erworben haben. Wenn man sich Smiths Antworten darauf anschaut – er thematisiert die Errichtung von Monopolen, die Ausbeutung von Kolonien oder auch blanken Raub –, dann denkt man plötzlich: Wow, das ist ja fast dasselbe, was Marx über die ursprüngliche Akkumulation sagt! Smith macht sich hier nicht mehr bloss lustig über die Reichen, sondern hinterfragt tatsächlich ihren Reichtum.
Auffällig ist, dass die Ökonomen, die Sie porträtieren, immer auch politische Ziele verfolgten: David Ricardo stritt gegen die Zölle auf Getreideimporte, Marx wollte dem revolutionären Proletariat eine Theorie des Kapitalismus bereitstellen, während Vilfredo Pareto ein überzeugter Antisozialist war. Würden Sie sagen, dass das bei heutigen Ökonomen noch immer so ist? Manche meinen ja, dass Wissenschaft neutral sein und sich aus der Politik raushalten sollte.
Ich bin absolut nicht dagegen, dass sich Ökonomen an politischen Debatten beteiligen, gerade weil die Wirtschaftswissenschaften ja wie gesagt eine Sozialwissenschaft sind. Sollen sie denn stattdessen Aufsätze schreiben, die dann zehn andere Ökonomen lesen, und das war es dann? Glücklicherweise aber haben wir Leute wie Joseph Stiglitz, Paul Krugman, Angus Deaton oder Thomas Piketty, die sich in die öffentliche Debatte einmischen. Ich denke, dass das eine gute Sache ist – und dass es auch ein Beitrag meines Buches ist, zu zeigen, dass alle grossen Vertreter des Fachs an solchen Auseinandersetzungen beteiligt waren.
Besonders brisant an Ihrem Buch dürfte sein, dass Sie argumentieren, dass die Ungleichheitsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg im Osten wie im Westen in der Bedeutungslosigkeit verschwand – und zwar vor allem aus politischen Gründen. Könnten Sie das etwas skizzieren?
In den ehemals sozialistischen Ländern – sowohl im Marktsozialismus in Jugoslawien als auch in den Planwirtschaften in der Sowjetunion und anderswo in Osteuropa – standen die Ökonomen vor dem Problem, dass die kapitalistische Klasse bis auf vielleicht einige kleine Überbleibsel nicht mehr existierte. Die Produktion war ja nationalisiert worden. Folglich war die typische klassentheoretisch gestützte Analyse nicht mehr möglich, da die üblichen Zutaten für Ungleichheit nicht mehr vorlagen. Technisch betrachtet, waren alle im staatlichen Sektor beschäftigt. Das war für die Ungleichheitsforschung ein objektives Problem: Wie sollte man eine wissenschaftliche Disziplin, die man über zwei Jahrhunderte praktiziert hatte, unter vollständig neuen Bedingungen fortführen? Dazu kam natürlich politischer Druck, sich nicht zu intensiv mit Ungleichheit zu beschäftigen oder Daten dazu zu veröffentlichen, weil man nicht wollte, dass reale Ungleichheiten nachgewiesen wurden.
Im Westen sah es damals aber nicht wesentlich besser aus …
In den USA argumentierte man tatsächlich ebenfalls, dass es keine Klassen mehr gebe, weil alle gleich seien. Dort hätte man es als eher wenig opportun empfunden, bloss zu sagen: Okay, wir mögen eine Klassengesellschaft sein, aber wir sind immerhin reicher als ihr im Osten. Stattdessen behauptete man, gleichfalls die Klassengegensätze überwunden zu haben. Man bestritt zwar nicht, dass es Unterschiede in den Besitzverhältnissen gab, betonte aber, dass trotzdem jeder reich werden könne, sodass diese Unterschiede nicht wirklich eine Rolle spielen sollten. Es handle sich lediglich um unterschiedliche Produktionsfaktoren: Der eine verfügt eben über Kapital, der andere über seine Arbeitskraft. Das war eindeutig ein Versuch, die Bedeutung des Kapitals herunterzuspielen. Dazu kam, dass rechte Financiers von Forschungsprojekten es nicht gern sahen, wenn die Rolle des Kapitals thematisiert wurde. Dabei war und ist es nach wie vor ein fundamentaler Unterschied, ob man ein Einkommen erzielt, das auf der eigenen Arbeit basiert, oder eben eines, das auf Kapitaleigentum beruht.
Waren die theoretischen Entwicklungen dieser Zeit auch der Grund dafür, dass in der öffentlichen Debatte noch vor zwanzig Jahren nur selten von Klassen die Rede war – und selbst der Begriff «Kapitalismus» ausser Mode kam?
Ja, das war ein Effekt dessen, was ich als «cold war economics» bezeichnen würde. Allerdings ging es gerade Westeuropa nach 1945 wirtschaftlich auch sehr gut, die Einkommen stiegen, die Ungleichheit sank, und die soziale Mobilität wuchs. Das waren objektive Entwicklungen, die die Dringlichkeit sozialer Probleme verringerten. Zugleich ist aber auch wahr, dass politisch versucht wurde, die Bedeutung von Klassen herunterzuspielen. Wobei es umgekehrt ja auch die linken Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre gab, die natürlich sehr wohl von Klassen sprachen.
Trotzdem kam die grosse Wende erst nach der Finanzkrise 2007/08 – auch dank Autor:innen wie dem französischen Ungleichheitsforscher Thomas Piketty, der mit «Das Kapital im 21. Jahrhundert» viel Aufsehen erregte. Allerdings gab es auch schon beispielsweise in den Achtzigern in Grossbritannien unter Margaret Thatcher offensichtlich viel Armut. Wie kann es sein, dass man das wissenschaftlich ignorierte?
Wenn man individuelle Fälle wie Grossbritannien anschaut, findet man schon Literatur dazu. Trotzdem interessierten sich die Wirtschaftswissenschaften im Allgemeinen nur sehr wenig für Fragen der Ungleichheit. Das in vielen Auflagen erschienene Lehrbuch von Paul Samuelson etwa hat 900 Seiten, von denen Samuelson ganze zwei Seiten der Einkommensverteilung widmet. Und auf diesen zwei Seiten thematisiert er diese nur unter dem Gesichtspunkt der Entwicklungsökonomie. Das ist, als würde er sagen wollen: In reichen Ländern untersuchen wir die Einkommensverteilung nicht, Ungleichheit ist für uns kein Thema mehr. Das ist wirklich sehr bezeichnend.
Wie hat sich das durch die Finanzkrise geändert?
Offensichtlich haben viele Leute Einkommensverluste hinnehmen müssen, insbesondere in den USA konnten viele ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen und verloren ihre Häuser. Das verursachte eine Art Schock: Lange glaubte man, die Dinge stünden eigentlich gut, was aber auch daran lag, dass die Leute günstig an Kredite gelangten. Dann aber kam die Krise. Zudem musste man miterleben, dass die dafür Verantwortlichen sie gut überstanden: Niemand verarmte oder musste ins Gefängnis. Stattdessen mussten die Steuerzahler diese Leute auch noch subventionieren, um einen totalen Kollaps zu verhindern.
In diese Zeit fällt auch der Erfolg von Pikettys Buch …
Ja, dann kam dieses Buch auf den Markt, das sich explizit mit Ungleichheit beschäftigte und zum Bestseller wurde. Trotz aller Qualitäten von Pikettys Buch glaube ich aber, dass man sagen muss: Wäre es 1985 geschrieben worden, dann hätte es zwar auch seine Leser gefunden, aber sich sicher nicht millionenfach verkauft. Es kam genau zum richtigen Zeitpunkt und wurde zu einem Gamechanger. Es brachte auch viele junge Studierende zur Ungleichheitsforschung. Davor war dieser Bereich eher unbeliebt, auch weil er, wie man offen sagen muss, mit Themen wie Sozialhilfe und Armut assoziiert wurde. Das schlug sich auch gendermässig nieder: Es waren eher Frauen, die hierzu arbeiteten.
Sie haben auch viel zu China geforscht, dessen Aufstieg wesentlich zur Verringerung der globalen Ungleichheit beitrug. Derzeit heisst es oft, dass sich das Zeitalter der Globalisierung dem Ende zuneige – etwa wenn man an die Strafzölle der USA gegen China denkt. Was halten Sie von dieser Analyse?
Genau diese Frage wird Thema meines nächsten Buches sein. Tatsächlich glaube ich, dass inzwischen eine Ära der Deglobalisierung angebrochen ist. Und ich denke überdies – und das könnte kontrovers sein –, dass dies eine Folge des Aufstiegs Chinas ist. Zum einen wuchs die politische Bedeutung Chinas immer weiter, weil es immer reicher wurde, sich technologisch entwickelte und zudem natürlich ein sehr grosses Land ist. Dadurch wurde es zu einer Herausforderung der globalen Vormachtstellung der USA – und zwar unabhängig davon, ob China diese auch wirklich herausfordern will. Das hat zur Neubewertung der Globalisierung durch die USA geführt, weil diese nämlich erkannten, dass China wesentlich mehr von der Globalisierung profitiert als sie. Zum anderen hatte Chinas Erfolg auch Folgen für die Mittelschichten der reicheren Länder, indem etwa Jobs verloren gingen oder Löhne sanken. Auch das führte dazu, dass erst die USA und nun in deren Gefolge auch Europa globalisierungsskeptischer geworden sind.
Für wie brenzlig halten Sie diese Entwicklung? Es gibt ja die Sorge, es könnte sogar zu einer militärischen Konfrontation kommen, sollte China tatsächlich Taiwan angreifen.
Die gegenwärtige Situation ist schlicht desaströs. Wir haben einen grossen Krieg in Europa, bei dem nicht absehbar ist, wie er enden könnte. Zusätzlich haben wir einen Krieg im Nahen Osten, der sich mittlerweile auf den Libanon ausgebreitet hat und zu einem Krieg zwischen dem Iran und Israel führen könnte. Und dann ist da noch der Konflikt zwischen China und den USA. Mir ist deswegen wirklich bange, denn wenn erst einmal die Dinge zu eskalieren beginnen, wird es sehr schwierig, die Entwicklung zu kontrollieren – was ja ebenfalls die Geschichte, gerade was den Ausbruch des Ersten Weltkriegs angeht, deutlich gezeigt hat.